Felix Bietenbeck, Leiter des Geschäftsbereichs Vehicle Dynamics der Division Chassis & Safety bei Continental

“Die Anzahl der Steuergeräte kann und wird nicht unendlich steigen”, erklärt Felix Bietenbeck, Leiter des Geschäftsbereichs Vehicle Dynamics der Division Chassis & Safety bei Continental. (Bild: Continental)

AUTOMOBIL PRODUKTION: Herr Bietenbeck, die zunehmende Automatisierung des Fahrens bedeutet mit Blick auf das Fahrwerk und die Fahrwerkregelsysteme eine zunehmende Komplexität. Was sind denn die Auswirkungen auf der Hardware- wie auch auf der Software-Seite?
Beim automatisierten Fahren wird sich die Fahrzeugarchitektur ändern. Wenn die Fahraufgabe komplett an das Auto delegiert wird, stellt das unter anderem an sicherheitsrelevante Systeme wie die Bremse besondere Anforderungen. Um die größtmögliche Verfügbarkeit beim Ausfall der Bremse sicherzustellen, wird eine Absicherung in Form von Redundanz benötigt, welche wir beispielsweise bereits verfügbar haben. Eine vorhandene Rückfallebene für einen eventuellen Ausfall bezieht sich dabei nicht nur auf die Hard- sondern auch die Software. Genauso stellen wir uns neuen Anforderungen in Sachen Robustheit und Zuverlässigkeit.
Die benötigte Rechenleistung in modernen Fahrzeugen steigt mit zunehmender Automatisierung. Dabei ist klar: Der Einbau von einer zunehmenden Anzahl an Steuergeräten kann und wird nicht unendlich steigen. Die Notwendigkeit für deutlich leistungsfähigere Steuergeräte wird daher zunehmen. In Zukunft wird die “Intelligenz” im Fahrzeug an einer oder an wenigen zentralen Steuergeräten konzentriert werden. Dies bedeutet, dass die Informationen der einzelnen Sensoren und Aktuatoren gesammelt und analysiert werden und – nach der Auswertung – zu einer Aktion führen. Ein wesentlicher Faktor ist dabei die zunehmende Komplexität von Software zum Abbilden der hochkomplexen Umfeld- und Fahrzeugmodelle und die Durchführung einer sehr schnellen und redundanten Berechnung der Steuerbefehle für die Aktuatoren.

AUTOMOBIL PRODUKTION: An welchen Projekten, wie etwa “UR:BAN”, ist Continental beteiligt und wie nimmt dies auf die tägliche Entwicklungsarbeit Einfluss?
Die Ergebnisse von UR:BAN wurden im Oktober auf der Abschlussdemonstration vorgestellt. Der Schwerpunkt lag hier allerdings auf Fahrerassistenzsystemen. Die Bremse ist hier bei Notreaktionen als schneller Aktor zu sehen.
Allgemein sind Forschungsprojekte und Kooperationen für die Weiterentwicklung von Fahrzeugen genauso wichtig, wie das Engagement in Initiativen, die gemeinsame Standards entwickeln. Wir brauchen vorwettbewerbliche Forschungsprojekte, um zu zeigen, dass uns neue Technologien einen Schritt nach vorne bringen. Sie bieten zudem das Potenzial auf bestimmten Technologiegebieten entscheidende Schritte voranzukommen und oftmals die Technologieführerschaft zu erhalten und auszubauen. In Forschungsprojekten können wir unterschiedliche Ideen zusammenführen und so Ansätze für spätere Serienprodukte finden. Diese werden natürlich wiederum individuell von uns zur Serienreife entwickelt, doch hilft die vorwettbewerbliche Kooperation dabei, besonders geeignete technische Umsetzungsformen frühzeitig zu erkennen und schneller zu serienreifen Ansätzen zu gelangen. Kurzum: Forschungsprojekte liefern uns einen wertvollen Informationsgewinn durch die Bündelung von Know-how im Bereich der vorwettbewerblichen Forschung, einen Geschwindigkeitsgewinn und die Verkürzung von Entwicklungszeiten sowie die Voraussetzungen für zukünftige Produktinnovationen.

AUTOMOBIL PRODUKTION: Welche Produkte sind in naher Zukunft zu erwarten?
Ganz aktuell ist unser völlig neuartiges kompaktes Bremssystem MK C1, mit dem wir erst gerade in Serie gegangen sind. Die MK C1 integriert die Funktionen Verstärkung, ABS-/ESC-Regelung, Rekuperation und elektronische Fremdbremsung in einer kompakten Baueinheit. Durch die neuartige Konstruktion mit nur noch einem Motor, einem Gehäuse, einer Elektronik, einem Stecker mit weniger Kabel, weniger Bremsleitung und gänzlichem Entfall einer Vakuumpumpe, erreichen wir eine Gewichtseinsparung von bis zu 30 Prozent gegenüber einem konventionellem Bremssystem. Außerdem ist die MK C1 doppelt so schnell wie heutige, klassische hydraulische Bremsen: 150 ms braucht die MK C1, um bis zur Blockiergrenze zu kommen. Die höhere Bremsdruckdynamik ist ideal für Fahrerassistenzsysteme, wie Notbremsassistent, Automatische Abstandsregelung und Fußgängerschutzsysteme. Eine erhöhte Unfallvermeidung oder Unfallfolgereduzierung erreichen wir durch kürzeste Bremswege.
Aber auch im Bereich unserer weiteren elektronischen Brems- sowie unserer Luftfedersysteme optimieren wir die Produkte kontinuierlich hinsichtlich Größe, Gewicht und auch hinsichtlich des Funktionsumfangs.

Zur Person
Seit Ende September 2013 leitet Felix Bietenbeck den Geschäftsbereich Vehicle Dynamics der Continental Division Chassis & Safety. Bietenbeck studierte Elektrotechnik an der Fachhochschule Münster und begann seine berufliche Karriere 1989 bei ITT Teves im Bereich Industrial Engineering elektronische Bremssysteme. Weitere Stationen bei Continental zogen Bietenbeck 2003 nach Silao, Mexiko. Im dortigen Werk für Raddrehzahlsensoren verantwortete er das Industrial Engineering, den Aufbau einer lokalen Produktentwicklung sowie den Prototypenbau. 2006 wechselte er als Industrial Engineering Manager ins Werk für elektronische Bremssysteme nach Frankfurt am Main. Ein zweiter Auslandsaufenthalt folgte zwischen 2009 und 2011 als General Manager der Continental Automotive Systems in Shanghai, China. Damit verbunden war er auch verantwortlich für den dortigen Neubau des Werkes. Zurück in Frankfurt am Main, leitete Bietenbeck von Januar 2012 an den Bereich Global Operations des Geschäftsbereichs Elektronische Bremssysteme.

AUTOMOBIL PRODUKTION: Verfolgt Continental bei seinen Fahrwerksystemen einen modularen Ansatz?
Modularität ist für uns ein wichtiger Faktor. So basiert unser elektronisches Bremssystem MK 100 auf einer modularen Produktfamilie und lässt sich beliebig skalieren: vom sehr kompakten Motorrad-ABS mit Integralbremsfunktion bis hin zu anspruchsvollen High-End-Lösungen mit extrem leistungsstarken und pulsationsarmen Pumpenvarianten mit hoher Laufruhe. Auch im Bereich Luftfedersysteme ist ein Baukastenkonzept in Arbeit, um eine Durchdringung auch in unteren Fahrzeugklassen zu erzielen. Unser Ziel ist es die Vorteile von Luftfedersystemen für Fahrer und Fahrerinnen von Autos aller Fahrzeugklassen erfahrbar zu machen.

AUTOMOBIL PRODUKTION: Stichwort ESP, oder ESC: Was ist in nächster Zeit vom derzeit wichtigsten Sicherheitssystem im Fahrzeug konkret zu erwarten? Welche Ausbaustufen wird es geben und wie gelingt die Vernetzung mit anderen FAS?
Bereits jetzt spielt ESC eine wichtige Rolle für heute im Markt befindliche Fahrerassistenzsysteme und bildet die Grundlage für kommende Systeme. Ein Beispiel: Bei unserem intelligenten Tempomaten (ACC) sorgt ESC für einen wohldosierten Druckaufbau beim automatischen Bremsvorgang und ist elementar für das Bremsen des Fahrzeuges in den Stillstand beispielsweise im „Stop & Go“-Verkehr. Auch die Steuerung der elektrischen Parkbremse ist zunehmend in das ESC integriert. Ergebnis ist hier eine Minimierung der Anzahl der zu integrierenden Steuergeräte und die dadurch resultierende Erhöhung des Stauraums und Reduzierung des Gewichts in den Fahrzeugen. Ebenso gewinnt die mit dem ESC verbundene elektrische Parkbremse als Rückfallebene beziehungsweises redundantes System beim automatisierten Fahren an Bedeutung. ESC bietet aber auch eine Reihe an Mehrwertfunktionen mit einem deutlichen Gewinn an Komfort und Sicherheit. Autofahrer profitieren von präzisen, komfortablen und leisen Regelvorgängen der zusätzlichen Sicherheits- und Assistenzfunktionen wie Active Rollover Protection über Trailer Stability Assist, Bergab- und Berganfahrhilfe und Full Speed Range Adaptive Cruise Control bis hin zu komplexen autonomen Überlagerungsfunktionen zur Fahrzeugstabilisierung und auch dem hydraulischen Bremsassistenten.
Das ESC-Steuergerät ist zudem die Basis für Funktionen wie Notbremsassistenten, bei dem das Fahrzeug ohne Fahrereingriff bremst. Solch Sicherheitsthemen sind stark durch Euro NCAP getrieben: Autonomous Emergency Braking-City, -Interurban und -Pedestrian werden auf der Roadmap von Euro NCAP in den kommenden Jahren eine große Rolle spielen.

AUTOMOBIL PRODUKTION: Stichwort Bremsmodul MK C1: Hier werden Bremskraftverstärker und Regelsystem in einem kompakten Bremsmodul zusammengefasst. Es baut schneller Bremsdruck auf. Wie gelingt dies? Und kann eine kompakte Bauweise nicht zugleich auch ein Hemmnis sein – Stichworte Solidität und Servicefreundlichkeit?
Anstelle eines heute üblichen Unterdruckbremskraftverstärkers arbeitet in der MK C1 ein hochdynamischer Elektromotor, der linear einen Zylinderkolben antreibt und damit die Funktion des Bremskraftverstärkers bei Fahrerbremsung sowie der aktiven Druckmodulation eines Schlupfregelsystems verbindet. Auch bei einem aktiven Druckaufbau muss hier wie bei einer Normalbremsung nur die bereits im Zylinder befindliche Bremsflüssigkeit unter Druck gesetzt werden. Hierbei wird der Bremsdruck deutlich schneller aufgebaut als bei einem konventionellen Bremssystem.
In der kompakten Bauweise sehen wir und auch unsere Kunden kein Hemmnis. Wir sehen hierin vielmehr die Vorteile von einer hohen Leistungsdichte – ein maximales Funktionsspektrum bei geringstem Bauraum und Gewicht – damit einhergehend ein optimales Kosten/Nutzen-Verhältnis und nicht zuletzt auch größtmöglichen Komfort beispielsweise in Sachen Geräuscharmut.

AUTOMOBIL PRODUKTION: Zum elektronischen Bremssystem EBS: Was leistet die Sensorik und welche Rolle kommt der Aktuatorik zu, und wie bekommen Sie dies in Einklang?
Bei uns in der Division Chassis & Safety gibt es eine enge Zusammenarbeit zwischen einzelnen Geschäftsbereichen wie zwischen Vehicle Dynamics und dem Bereich Fahrerassistenzsysteme. Mit der Integration von Umfeld- und Kontaktsensoren ins Fahrzeug lässt sich die Sicherheit der Insassen und anderer Verkehrsteilnehmer wesentlich erhöhen. Speziell die vorausschauende Situationserkennung macht frühzeitige Eingriffe vor dem Zeitpunkt des eigentlichen Unfalls möglich, um einen Crash zu vermeiden oder die Unfallschwere zu mindern. Die Daten verschiedener Systeme, wie der Umfeldsensorik, lassen sich auch vor einem Unfall für die passive Sicherheit nutzen. Beispielsweise um Rückhaltemittel und Aktuatorik situativ anzusteuern. Ein Schutz von Fußgängern durch eine autonome Notbremsung sowie die Auslösung passiver Schutzmaßnahmen setzt ebenfalls Sensorik und die Vernetzung einzelner Steuergeräte als Entscheidungsgrundlage voraus. Funktionen wie etwa das “Post-Crash Braking”, die selbständige Abbremsung des Fahrzeugs nach einem Unfall, werden erst durch Vernetzung von Airbag-Steuergerät und elektronischem Bremssystem möglich.

AUTOMOBIL PRODUKTION: Das Steuergerät, oder Chassis Domain Control Unit, CDCU vernetzt elektronische Fahrwerkregel- und Sicherheitssysteme miteinander und koordiniert quasi zentral. Wie gelingt dies und ab wann ist es verfügbar?
Die CDCU reduziert die Komplexität in der Fahrzeugelektronik durch Vernetzung bislang isoliert arbeitender Systeme. Durch die zentrale Koordination harmonieren simultane Eingriffe in verschiedene Systeme optimal miteinander. Mit diesem skalierbaren Plattformkonzept bieten wir den Automobilherstellern den Vorteil, die Zahl der verschiedenen Steuergeräte zu reduzieren und die CDCU als zentralen Informationsknoten im Fahrzeug zu nutzen. So ist der Informationsaustausch zwischen den verschiedenen Bussystemen wie Ethernet, CAN oder Flexray möglich. Die AUTOSAR-konforme Software bietet die Möglichkeit, über standardisierte Schnittstellen auch eigene Software des Automobilherstellers zu integrieren. Die CDCU ist für uns ein zentraler Baustein zur Implementierung der notwendigen funktionalen Sicherheitsarchitektur und zugleich Host für rechenintensive zentrale Umfeldmodelle und Fahrfunktionen, die für das automatisierte Fahren benötigt werden. Vorläuferprodukte werden zeitnah in Serie gehen, Die hierbei gewonnene Erfahrung wird konsequent in die Entwicklung der CDCU einfließen.

AUTOMOBIL PRODUKTION: Stichwort Luftfedersysteme, Electronic Suspension System, ESS: Wie sind die Conti-Systeme aufgebaut und was kann oder leistet die so genannte “intelligente Balgtechnologie”?
Als Systemlieferant können wir alle erforderlichen Komponenten eines Luftfedersystems anbieten. Unser Portfolio beinhaltet neben Luftfedern auch skalierbare Kompressoren, den Ventilblock, Steuereinheiten, Sensorik und Software. Damit bedienen wir sowohl Einachs- als auch Zweiachsluftfedersysteme im PKW. Unser Fokus liegt dabei auf einer geschlossenen Luftversorgung, um die Vorteile eines vorhandenen Druckniveaus im Luftfedersystem nutzen zu können. Während ein offenes System das benötigte Luftvolumen aus der Atmosphäre ansaugen muss, kann ein geschlossenes System auf ein konstantes, im Kreislauf vorhandenes Luftvolumen zurückgreifen. Damit lassen sich Vorteile wie kürzere Kompressorlaufzeiten, schnellere und häufigere Regelvorgänge und ein kleinerer und leichterer Kompressor realisieren. Zusätzlich sind wir Anbieter von innovativen Mehrkammerluftfedern. Der Vorteil dieser Technologie ist ein zwischen sportlich und komfortabel adaptierbares Fahrwerk. Ein Knopfdruck reicht aus, um das Fahrwerk den Wünschen des Fahrers und den Straßenverhältnissen anzupassen.
Bei der “intelligenten Balgtechnologie” liegt die Intelligenz darin begründet, dass sowohl die Belastung als auch die Performance des Materials Gummi in unserem Luftfederbalg über übliche Anwendungsformen hinausgehen. Unsere Bälge werden dabei allen Anforderungen hinsichtlich Dynamik, der Aufnahme kardanischer Kräfte und Bestdruckanforderungen gerecht. Unsere Stärken liegen im Komfort und der Materialdicke.
Das Interview führte Götz Fuchslocher

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