Christian Vollmer an einem Volkswagen-Modell in der Fertigung

Christian Vollmer trat kurz vor der zweiten Welle der Coronapandemie das Erbe von Produktionsmarkenvorstand Andreas Tostmann an – kein einfaches Unterfangen. (Bild: Volkswagen)

Mit welchen Konzepten und Tools soll bei der Marke Volkswagen die Produktion auf die Anforderungen der Elektromobilität umgestellt werden? Wie reagiert der Volumenhersteller künftig auf Krisen und Engpässe? Und wie weit sind die Wolfsburger beim Thema Smart Factory? Die Antworten auf diese und weitere Fragen liefert das vollständige Interview mit Christian Vollmer in der neuen Automobil Produktion, die am 28. Juni erscheint.

Herr Vollmer, Sie sind jetzt seit gut zehn Monaten Produktionschef der Marke Volkswagen. Welche eigenen Ideen konnten Sie bereits umsetzen?

Ich konnte bereits bei meinen Stationen innerhalb des Konzerns in Bratislava, China und Spanien viele Erfahrungen sammeln. Und da schaut man zu Beginn vor allem erst einmal auf die bevorstehenden Produktionsanläufe, denn daran werden Produktioner gemessen. Daher habe ich mir zunächst einen Überblick verschafft, beispielsweise welche Anlaufkompetenz an den Volkswagen-Standorten weltweit überhaupt vorhanden ist, wo es eventuell neue Impulse auf der Führungsebene braucht und wie ein stärkerer Wissenstransfer gelingen kann.

Können Sie das an einem Beispiel konkretisieren?

Die Fertigung der ID.-Familie ist weltweit in Zwickau gestartet und wird nun über weitere Werke wie Emden, Anting und Foshan in China oder Chattanooga in den USA ausgerollt. Dabei ist es wichtig, das Wissen über die Prozesse standortübergreifend zu teilen, denn so kann vermieden werden, dass sich mögliche Fehler wiederholen. Dabei kommt es mir darauf an, die Menschen vor Ort einzubinden. So sind aktuell Manager und Mitarbeiter aus Emden oder Chattanooga in Zwickau, um von der dortigen Produktion zu lernen. Andersherum wird Personal aus Sachsen die MEB-Anläufe anderer Standorte begleiten, um wiederum die Abläufe dort zu optimieren. Bei diesem intensiven Austausch braucht es dann schon eine Bereitschaft für eine positiv verstandene Form der „Kopierkultur“ als Form der Zusammenarbeit. In meiner Zeit in China habe ich gelernt, dass Kopieren nicht negativ behaftet sein muss, sondern als Wertschätzung der Arbeit verstanden wird. Dieses Verständnis vom Voneinanderlernen versuche ich nun unter anderem in den Gesprächen mit den Werkleitern zu vermitteln. Was wir für die anstehende umfassende Transformation der Marke brauchen, ist kein Wettbewerb zwischen den Standorten, sondern ein Wir-Gefühl, einen Teamspirit, der uns in allen Belangen weiterbringt.

Sie haben die Nachfolge von Andreas Tostmann mitten in der Coronapandemie, die auch Volkswagen immer wieder zu kurzfristigen Produktionsstopps gezwungen hat, angetreten. Wie haben Sie diese Situation erlebt und welche Konsequenzen hatte das für Ihre Arbeit?

Spanien war gerade zu Beginn der Pandemie stark betroffen und bei Seat habe ich die Auswirkungen auf die Produktion hautnah miterlebt. Ich war einer der Ersten im Fertigungsverbund von Volkswagen, der ein Werk anhalten musste. Der Lockdown in der Region um Martorell war so einschneidend, dass wir einfach nicht mehr arbeitsfähig waren. Als ich im August die Nachfolge von Andreas Tostmann hier in Wolfsburg angetreten habe, war die Situation eine andere, da Deutschland die erste Pandemiewelle wesentlich besser bewältigt hatte als andere Länder. Daher konnte ich in den ersten zwei Monaten noch die deutschen Standorte und auch Bratislava besuchen und mir einen Überblick verschaffen.

Das änderte sich dann mit der zweiten Infektionswelle?

Richtig, ab Oktober 2020 fiel die Möglichkeit, mit den Mitarbeitern vor Ort in den persönlichen Austausch zu treten, weg. Und der ist gerade in der einjährigen Pilotphase vor einem SoP (Start of Production, Anm. d. Red.), in der die Vorserienproduktion einem echten Stresstest ausgesetzt wird, sehr wichtig. Folglich haben wir beispielsweise für den Taos-Anlauf in Argentinien und Mexiko über neue Formen der Kommunikation nachgedacht – ich nenne sie Mixed-Reality-Kollaboration: In den Pilothallen wurden Kameras installiert, Mitarbeiter hatten Body Cams, mit denen sie um das Auto herumgehen können. So erhalte ich in Echtzeit einen Eindruck von der Situation – als wäre ich vor Ort. Jedoch habe ich schnell gemerkt, dass das nicht ausreicht. Daraufhin wurden mir bestimmte neue Teile wie Frontklappen oder Lenkräder aus den Pilothallen in Mexiko oder Argentinien in mein Wolfsburger Büro geschickt, so dass ich dann bei dem gemeinsamen Termin diese Bauteile auch haptisch wahrnehmen kann. Das funktioniert sehr gut und das Format, das in der Not geboren wurde, wird auch nach Corona sicher noch zum Einsatz kommen. Selbst in wichtigen Anlaufphasen werde ich also nicht mehr so viel reisen müssen.

Warum wurden solche Formen der Kollaboration nicht schon viel früher eingesetzt?

Für meine Kollegen und mich ist es wichtig, mit allen Sinnen zu arbeiten. Man muss ein Auto in der Vorserie anschauen, aber auch anfassen, riechen und hören können. Solche Eindrücke lassen sich größtenteils eben nur begrenzt durch virtuelle Kollaboration ersetzen. Dazu kommt, dass in der Vergangenheit die Übertragungsraten und damit schlichtweg die Bildauflösung noch nicht ausreichend waren, um alle Details zu erfassen. Die Coronakrise hat nun aber an manchen Stellen in der Produktion mit Blick auf die Prozesse einen Resetknopf gedrückt und vieles wurde eben neu gedacht: So werden wir nach der Pandemie beispielsweise bei der Reisetätigkeit ein „New Normal“ erleben, in dem wir die von mir angesprochenen Methoden der virtuellen Zusammenarbeit stärker als zuvor einsetzen werden.

Die Autoindustrie muss ja nicht nur die Coronakrise bewältigen, auch der weltweite Halbleitermangel stellt die Branche vor große Herausforderungen. Wie schätzen Sie den Impact durch die andauernden Engpässe ein?

Die Lage ist sehr angespannt und sie wird es auch noch einige Zeit bleiben. Mit einer Entspannung der Situation rechne ich erst in der zweiten Jahreshälfte 2021 – bis dahin werden wir voraussichtlich nicht durchweg voll nach Plan produzieren können, das ist jetzt schon absehbar. Wir sind täglich im engen Austausch mit der vom Konzern eingerichteten Taskforce und versuchen uns jetzt schon so gut es geht darauf vorzubereiten, das eingebüßte Fahrzeugvolumen wieder aufholen zu können.

Kommen wir zur Fertigung: Ihre Konzernschwester Porsche baut den kommenden Macan im vollen Antriebsmix auf einer Linie. Bislang sind Sie bei Volkswagen eher das Modell mit dezidierten E-Werken gefahren. Werden Sie diese Strategie beibehalten oder sehen wir auch bei VW künftig Verbrenner, Hybride und E-Autos auf einer Linie?

Um es vorwegzusagen: Es gibt auch bei VW nicht nur eine einzelne Produktionsstrategie. In China beispielsweise setzen wir ebenfalls auf eine Mixed-Fertigung, die auch für die erste Generation des modularen E-Antriebsbaukastens MEB durchaus geeignet ist. Der MEB selbst hat zwar ein völlig anderes Antriebskonzept, das in erster Linie Auswirkungen auf die sogenannte Hochzeit hat, doch die Unterschiede von Karosseriebau über Lackiererei bis Montage sind tatsächlich nicht so gravierend, dass man die Linien für Verbrenner, Hybride und E-Autos unbedingt voneinander trennen müsste. Die Entscheidung, die Produktion in Zwickau voll auf batterieelektrische Fahrzeuge umzustellen, war dennoch richtig, was man an den aktuellen Auslastungszahlen ablesen kann. Dennoch: Eine Mixed-Fertigung ist möglich und diese ist sicherlich in Zukunft – je nach Marktlage und Kundenbedarf – an VW-Standorten denkbar. Für den Moment ist sie jedoch nicht geplant.

Welche Rolle spielen dabei die Taktzeiten, die ja bei der Marke VW viel enger sind als bei Porsche?

Im Blick auf die Produktivität ist hier für uns das Thema Zeitspreizung von zentraler Bedeutung. Die Frage lautet: Wie viele Minuten benötigt man, um das einfachste Auto auf der Mixed-Linie zu bauen und wie viel Zeit für das komplexeste Fahrzeug? Wenn es dann bei der Eintaktung gelingt, eine Zeitspreizung von rund einer bis zwei Stunden auf der Montagelinie umzusetzen, ist das gut. Alles darüber hinaus wäre unproduktiv und macht eine Separierung von reinen Verbrenner- und Elektrolinien notwendig. Darum liegt bei den Fahrzeugmengen, die wir bei Volkswagen fahren, eine homogene Fertigung nahe.

Zur Person

christian vollmer

Christian Vollmer ist seit dem 1. August 2020 Vorstandsmitglied für Produktion und Logistik bei der Marke Volkswagen Pkw.Seine berufliche Laufbahn begann er 1999 im Bereich Pressenplanung im Wolfsburger Stammwerk des Volkswagen Konzerns; anschließend arbeitete er als Assistent des Vorstands. Im Jahr 2005 wechselte Vollmer als Produktionsleiter an den slowakischen Standort Bratislava, bevor er fünf Jahre später zum Geschäftsführer Produktion für das Werk Shanghai ernannt wurde. Im Jahr 2014 übernahm Vollmer die Position des Technical Executive Vice-President von SAIC Volkswagen, einem Joint Venture, das 1984 von SAIC Motor und dem Volkswagen Konzern gegründet wurde. Von 2018 bis 2020 war Vollmer Vorstand für Produktion und Logistik bei Seat.

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