Mercedes-Benz Factory 56 in Sindelfingen

Im September 2020 eröffnete Daimler feierlich die am südwestlichen Rand des Werksgeländes gelegene Factory 56, die in Sachen Digitalisierung und Automatisierung neue Maßstäbe setzen soll. (Bild: Mercedes-Benz)

Michael Bauer auf dem APK 2024

Michael Bauer, Produktionschef für Mercedes Europa und Afrika
Michael Bauer, Mercedes-Produktionschef für Europa & Afrika und ehemaliger Werkleiter in Sindelfingen, ist einer der ExpertInnen auf dem Automobil Produktion Kongress 2024 am 16. und 17. Mai 2024 in München. Der APK ist das Branchentreffen der Autoindustrie zu Produktion, Logistik und Einkauf von Automobil Produktion und Automotive Manufacturing Solutions. Das Event steht dieses Jahr unter dem Motto "Flexibel, Smart und Nachhaltig - Der Weg zu einer Produktion der Zukunft". Neben Herrn Bauer wird unter anderem Audi-Produktionschef Gerd Walker als Keynote-Sprecher vor Ort mit dabei sein. 🎫 Jetzt Ticket sichern!

Wenn Ola Källenius auf die Absatzzahlen der EQ-Modelle schaut, dann wirkt sein Lächeln aufgesetzt. Denn gerade erst musste der Mercedes-Chef einräumen, dass der Hochlauf der Elektromobilität stockt und dass er deshalb wohl dem Verbrenner länger und intensiver die Treue halten muss, als er es bislang geplant hatte. Während Vertriebschefin Britta Seeger deshalb ordentlich ins Schwitzen kommen dürfte, hat ihr Kollege Jörg Burzer gut lachen. Denn als Produktionsvorstand ist er auch Hausherr der Factory 56 in Sindelfingen und kann zumindest dort allen Schwankungen des Marktes gelassen entgegensehen. „Keine andere unserer rund 30 Fabriken weltweit ist so flexibel,“ sagt Burzer mit Blick auf E-Autos und Verbrenner, die dort gemeinsam vom Band laufen.

Das noch während des ersten Weltkrieges von der „Daimler-Motoren-Gesellschaft“ zur Flugzeugproduktion gegründete Mercedes-Benz-Werk im südwestlich von Stuttgart gelegenen Sindelfingen ist die traditionsreichste und zugleich größte Produktionsstätte des schwäbischen OEMs. Seit den 1920er Jahren und dem Zusammenschluss mit der Automobilfirma Benz entstehen in der „Mercedes-Stadt“ Karosserien für die unterschiedlichsten Modelle der Ober- und Luxusklasse – und künftig auch Elektrofahrzeuge der Marke mit dem Stern.

Mercedes setzt in Sindelfingen auf maximale Flexibilität

Am Rande des Stammwerks für 700 Millionen Euro gebaut und zum Start der neuen S-Klasse im September 2000 mit einer Jahreskapazität von 150.000 Fahrzeugen im 15-Wochenschichten-Betrieb eröffnet, bauen dort 2.400 Mitarbeiter die Luxusmodelle der Schwaben- und machen dabei keinen Unterschied zwischen langer oder kurzer S-Klasse, dem extralangen Maybach oder eben dem auf einer Elektroplattform konstruierten EQS – auch wenn der in diesen Tagen nur ganz selten zwischen den Luxuslinern aus der alten Welt zu sehen ist.

„Zwei Architekturen, vier Karosserievarianten und dann auch noch Diesel, Benziner , Plug-in-Hybrid und batterie-elektrische Fahrzeuge und das alles auf einen Band – das bedeutet für uns maximale Flexibilität“, sagt der Produktionschef für Europa und Afrika, Michael Bauer, der in seiner vorherigen Position als Werkleiter Sindelfingen maßgeblich an der Umsetzung der Factory 56 beteiligt war. Und er setzt sogar noch einen drauf: Denn auch wenn die Factory 56 per se die Heimat der Kronjuwelen ist, könnten sie bei Bedarf sogar A- oder C-Klassen produzieren, GLE oder SL und müsste dafür nicht monatelang umgebaut werden. Weil alle aufwändigen Produktionsschritte wie die Hochzeit oder der Einbau des Cockpits auf den Roboterschlitten der so genannten TecLines erfolgt und dort problemlos individualisiert werden können, laufen die Förderstrecken vom jeweiligen Modell unbenommen in ihrem eigenen Takt. Für die Mitarbeitenden macht es demnach keinen Unterschied, ob sie einen Radsatz an eine S-Klasse schrauben oder an einen GLA. Nur brauchen sie dafür natürlich immer die richtigen Teile.

Zukunftswerkstatt und Manufaktur an einem Standort

Und genau diese Teileversorgung ist es, die erst die maximale Flexibilität ermöglicht. Denn schon mit S-Klasse und EQS alleine ist die Komplexität hier größer als überall sonst, sagt der Hausherr angesichts der viele Optionen und Komponenten, die eingebaut werden müssen: „Das kann kein Mensch auseinanderhalten.“ Muss er auch nicht. Denn darum kümmert sich ein vollständig automatisiertes Teilewesen, das auf 400 autonomen Transportameisen fußt, die ständig mit einer Art Einkaufswagen durch die langen Flure fahren.

Von den Kollegen in den Bevorratungsstationen nach elektronischer Anleitung manuell bestückt, schaffen sie darin immer genau jene Teile zu jener Station, die für ein bestimmtes Auto benötigt werden, erläutert Bauer und freut sich, dass so auch das komplizierteste Puzzle beherrschbar wird. Dumm nur, dass er die Rechnung ohne die Oberklasse-Kundschaft und ihre Sonderwünsche gemacht hat: Denn natürlich gibt es genügend Interessenten, die eine S-Klasse oder einen EQS und erst recht einen Maybach nicht von der Stange kaufen und deshalb drüben im Center Of Excellence ihre ganz eigene Konfiguration kreieren.

Genau wie bei den sondergeschützten Panzerlimousinen der Guard-Familie werden die Autos dann am richtigen Punkt aus der normalen Produktion rausgeschleust und von 250 Manufaktur-Mitarbeitern von Hand veredelt. Und das kann dauern. Denn während eine S-Klasse in der Factory 56 nach acht Stunden fertig ist, brauchen die Sattler hier allein für das Beledern einer Sonnenblende oder eines Lenkrads schnell mal zwei Stunden.

So setzt Sindelfingen Nachhaltigkeit um

Während diese Gewerke in andere Bereiche des Stammwerks ausgelagert sind, arbeiten alle anderen in der Factory 56 unter einem Dach – und das ist eines der größten in der Mercedes-Welt: Die Halle hat schließlich mit 220.000 Quadratmetern Fläche Platz für 30 Fußballfelder, der Stahl in der Trägerkonstruktion hätte fast für einen zweiten Eifelturm gereicht und die längste Achse ist mit rund 800 Meter so lang, dass die Mitarbeiter mittags mit einem Foodtruck versorgt werden, weil der Weg zur Kantine zu viel Pausenzeit kosten würde.

Bauer rühmt zudem die Arbeitsatmosphäre: Es ist für eine Automobilfabrik ungewöhnlich leise, weil es zugunsten der Flexibilität mehr Menschen gibt als Maschinen und es ist dank der riesigen Dachfenster überdurchschnittlich hell in der Halle. Das zahlt freilich auch aufs Umweltkonto ein, sagt der Standortchef. Schließlich will die Factory 56 nicht nur die flexibelste sein im Verbund, sondern auch die nachhaltigste.

Das beginnt beim Ab- und Regenwasser, des so gründlich gefiltert wird, dass es gleich hinter dem Haus in einen Bach fließt und führt bis zu den 12.000 Solarmodulen auf dem Dach, die an guten Tagen mehr Strom liefern, als die Fabrik selbst braucht. Deshalb steht dahinter ein 1.400 kWh großer Park ausrangierter Batterien aus den ersten Elektroautos des Hauses als Zwischenspeicher. In Summe steuert die Sonne rund 30 Prozent der Produktionsenergie bei, auch weil für die Fertigung der neuen S-Klasse in der neuen Fabrik rund 25 Prozent weniger Energie benötigt wird als beim Vorgänger.

Mercedes Factory 56 in Sindelfingen
Die Halle der Factiry 56 in Sindelfingen hat mit 220.000 Quadratmetern Fläche Platz für 30 Fußballfelder. (Bild: Mercedes-Benz / Andreas Croonenbroeck)

Und selbst die Kommunikations- und Datentechnik leistet ihren Beitrag zur Nachhaltigkeit: Zum weltweit ersten Mal in einem Autowerk fußt der digitale Austausch auf einem 5G-Netzwerk, das Daimler dafür eigens mit Ericson und O2 installiert hat, erläutert Bauer: So lassen sich alle Mitarbeiter, alle einzelnen Fertigungsschritte und Maschinen, ja selbst die Werkzeuge miteinander vernetzen. Weil alle Informationen in Echtzeit online übertragen und auf Bildschirmen, Smartwatches oder Computerbrillen angezeigt werden, wird nichts mehr aufgeschrieben oder ausgedruckt, sagt der Chef der ersten völlig papierlosen Mercedes-Fabrik - und spart so auch noch zehn Tonnen Papier pro Jahr.

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