In seiner Lackiererei im ungarischen Györ testet Audi das automatisierte Digital Sealing.

In seiner Lackiererei im ungarischen Györ testet Audi das automatisierte Digital Sealing. (Bild: Audi)

Der Paint Shop gehört seit jeher zu den sensiblen Produktionsabschnitten vor allem hinsichtlich Ressourceneinsatz, Emissionsverhalten und Energieverbrauch. Kommt die werksweite CO2-Neutralität dazu, liegt die Messlatte für die Lackiererei besonders hoch. Audi verfolgt die Vision einer vollständig CO2-neutralen Herstellung: „Wir wollen alle weltweiten Audi-Produktionsstandorte Mitte des kommenden Jahrzehnts CO2-neutral stellen und die Produktivität in den Werken bis 2025 um 30 Prozent steigern“, unterstreicht Peter Kössler, Vorstand für Produktion und Logistik der Audi AG im Interview mit Automobil Produktion (Ausgabe 3, 2019). Im Pflichtenheft von Gido Hoppe, Projektleiter für Digital Sealing bei Audi in Ingolstadt, sind deshalb zwei Positionen dick unterstrichen: mehr Produktivität und Nachhaltigkeit im Prozess und bei den Anlagen in der Lackiererei. Klar ist: „Nachhaltigkeitsaspekte und das Streben nach größerer Prozesseffizienz führen zu schlankeren Lackierprozessen und weniger nicht wertschöpfenden Tätigkeiten“, betont Hoppe. Das aber ist nur mit anspruchsvollen Technologien zu realisieren. Allein die Vielzahl von Parametern, die es von der Vorbehandlung bis zum Decklack zu beachten gilt, benötigt ein ausgeklügeltes Regelsystem aus Steuerungs- und intelligenter Fördertechnik, sensorüberwachten Tauchbädern und roboterbestückten Lackierkabinen. Geht es um die Applikationen, stehen Lackierpistolen und Zerstäuber sowie alternative Zerstäubergase und Materialeffizienz im Fokus. Beispielsweise eine dynamische Tropfenapplikation für das automatisierte Abdichten von Schweißnähten, kurz: Digital Sealing.

Automatisiertes Abdichtungsverfahren

„Mit dem Verfahren reduzieren wir den Materialeinsatz beim Abdichten der Schweiß- und Feinnähte um mehrere Kilogramm je Fahrzeug und erreichen ein besseres Emissionsverhalten bei niedrigeren Materialkosten“, erläutert Hoppe. Das Abdichten der Nähte ist ein Zwischenschritt, der nach der kathodischen Tauchlackierung und vor dem Auftrag des Füllers auf die Innen- und Außenseite der Karosserie stattfindet. Applikationsroboter versiegeln die Schweißnähte des Fahrzeugs mit einer spritzbaren Dämmmasse (Raupe), um die Fahrzeugakustik und den Korrosionsschutz zu verbessern sowie Vibrationen abzufedern. Im Audi-Werk in Györ fühlt man sich dem nachhaltigen Klimaschutz und einem umweltverträglichen Umgang mit wertvollen Ressourcen verpflichtet und hat zusammen mit Entwicklungspartner Atlas Copco ein automatisiertes Abdichtungsverfahren für die Karosserie zur Anwendungsreife gebracht. „Mit dem neuen robotergeführten Applikator lassen sich die Abmessungen der Materialraupe frei bestimmen und kleiner gestalten als bei bisher eingesetzten Verfahren. Zudem sind die Abmessungen wiederholgenau einstellbar. Das Ziel ist der Einsatz in einer Serienanlage in der Lackiererei“, sagt Sebastian Blaser, der die Erprobung des Verfahrens bei Audi Hungaria betreut.

Der Applikator ist so konstruiert, dass eine genau festgelegte Menge an kunststoffhaltiger Dichtungsmasse millimetergenau auf die Naht gelangt. Die Kunst besteht darin, bei hohen Fließgeschwindigkeiten und möglichst geringem Materialverbrauch eine wirkungsvolle Nahtabdichtung konturengenau zu erzeugen. In Györ setzt man auf eine feinstrahlige Dosiertechnologie, die winzige Tröpfchen mit mäßigem Druck auf die Nähte spritzt und ein hohes Maß an Flexibilität und Prozesszuverlässigkeit bietet. Die Dosiermenge und die Größe der Dichtungsraupe variieren je nach Anwendungsfall. Während Türfalz, Dachrinnen, Schweller oder Kofferraumdeckel im Blickfeld liegen und deshalb optisch anderen Anforderungen unterliegen, kommt es im Unterbodenbereich auf größere Applikationsbreiten an. Bei sichtbaren Falz- und Schweißnähten kommt die sogenannte Flatstream-Applikation zum Einsatz, in schwer zugänglichen Bereichen und bei besonderen Anforderungen sind es häufig rotationssymmetrische Raupenmuster. „Unsere Mitarbeiter können ihr Wissen, wie sie optimale Applikationsergebnisse erzeugen, jetzt durch die einfachere Programmierung des Applikators leichter und schneller umsetzen“, betont Blaser.

Audi patentiert Streaming-Technik

Zur Zeit läuft das Verfahren noch in einer klassischen Roboterzelle ab. Die Testergebnisse untermauern, dass Digital Sealing sowohl die Produktivität erhöht als auch Prozesskosten reduziert. Doch Blaser und sein Team schmieden bereits Pläne zur Weiterentwicklung in Richtung Offlineprogrammierung auf Basis einer Mensch-Roboter-Kooperation (MRK). Auch der Einsatz von künstlicher Intelligenz (KI) beispielsweise bei der Frage, wie schnell Roboterbewegungen sein dürfen, damit es bei einer gleichmäßigen Materialverteilung mit scharfen Konturen bleibt, ist in Györ ein Thema, denn: „Neben der eingesetzten Anlagentechnik und den Prozessmaterialien kommt der Prozessführung eine zentrale Bedeutung zu“, sagt Hoppe. Diese sei in der Lackiererei heute von Expertenwissen und erfahrungsgestütztem Handeln geprägt. In Zukunft, so die Überlegungen, könnten neue Datenanalysemethoden und der Einsatz von künstlicher Intelligenz die Anwender optimal unterstützen und weitere Potenziale heben.

Innovative Lösungen von der Vorbehandlung bis zur finalen Farbgebung sind gefragter denn je. Die Dünnstrahlapplikation sorgt in Györ bereits für optisch anspruchsvolle Nahtabdichtungen in Bereichen wie Kofferraumdeckel, Dachrinnen, Türen und Rückleuchten. Selbst hohe Robotergeschwindigkeiten bringen den präzisen Materialfluss und die genaue Materialverteilung nicht zum Erliegen. Die Symmetrie der Düsenöffnung ermöglicht eine einfache Roboterprogrammierung selbst bei schwierigen Bauteilgeometrien und der Applikator lässt sich an verschiedene Anwendungsbereiche anpassen. Audi hat das Verfahren bereits zum Patent angemeldet und will die Streaming-Technik an weiteren Standorten zum Einsatz bringen. Gido Hoppe: „Das neue Verfahren erhöht eindeutig die Prozesssicherheit und Reproduzierbarkeit der Ergebnisse.“

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