Der Mercedes-AMG EQS 53 4MATIC+ rollt in der Sindeflinger Factory 56 vom Band.

Mit dem EQS 53 4MATIC+ bietet mittlerweile auch Mercedes-AMG eine Elektro-Limousine an. (Bild: Daimler)

Im Sommer des vergangenen Jahres galt Daimler als Sanierungsfall. Aufgeblähte Kostenstrukturen und Nachholbedarf beim Thema Elektromobilität paarten sich mit den Auswirkungen der Coronakrise – tiefrote Zahlen waren die Folge. Mehr als ein blaues Auge trugen die Stuttgarter jedoch nicht davon. Sie drehten an der Kostenschraube und steigerten das operative Ergebnis des Jahres 2020 trotz Absatz- und Umsatzrückgang um über 50 Prozent auf 8,6 Milliarden Euro. Ein Kunststück, das sich 2021 zu wiederholen scheint: Aufgrund eines starken Chinageschäfts war der Autobauer zunächst stark ins Jahr gestartet, dann legten die grassierenden Chipengpässe jedoch Produktionsstandorte wie Bremen, Rastatt oder Kecskemét mehrfach lahm.

Mit gut 1,61 Millionen Autos ist der Vorsprung auf das Vorjahr mittlerweile auf drei Prozent abgeschmolzen, die Pkw-Sparte von Mercedes-Benz verzeichnete im dritten Quartal gar einen rund 30-prozentigen Absatzrückgang. Dennoch durften sich die Aktionäre im Zeitraum von Juli bis Ende September über stabile Umsatzzahlen sowie einen Gewinnzuwachs von 21 Prozent freuen. Zu diesem Erfolg beigetragen haben zweifelsohne die steigenden Verkaufspreise, die Priorisierung lukrativerer Modelle, die Einsparungen bei Personal-, Fix- und Materialkosten sowie die Kürzung des Entwicklungsbudgets. Aber auch Konzernstruktur, Werke und Portfolio der Stuttgarter haben sich in der Krisenzeit erheblich gewandelt – ein Jahr der Meilensteine.

Daimler überdenkt seine Konzernstruktur

Allen voran dominierte im Jahr 2021 die Debatte um eine Aufspaltung des Konzerns. Fortan gibt es nur noch die Mercedes-Benz AG für Autos und Vans sowie die Daimler Truck AG für Lastwagen und Busse. Daimler ist passé. Die beiden Unternehmen würden sich auf ihr Kerngeschäft fokussieren und dadurch Geschwindigkeit sowie Flexibilität steigern, so der Plan.

Zwei ebenso wegweisende Schritte erfolgten jedoch weitaus früher. Erstens bündelte der Autobauer alle Aktivitäten im Bereich Antrieb unter dem Dach der Mercedes-Benz Drive Systems, um das Entwicklungstempo zu erhöhen und die Produktion auf ein neues Niveau zu hieven. Neben rein elektrischen Fahrzeugen stehen dabei moderne Verbrennungsmotoren, Plug-in-Hybride sowie Wasserstofftechnologien und Brennstoffzellenantriebe auf der Agenda der Organisationseinheit. „Als interner Systemlieferant verantworten wir das gesamte Antriebsportfolio von Motoren und Getriebe über Batterien und elektrische Antriebe sowie die dazugehörigen Hardware- und Softwarethemen“, so Frank Deiß, Chairman von Mercedes-Benz Drive Systems.

Zweitens lagerte der OEM die Betriebsverantwortung für seine IT-Infrastruktur an den IT-Dienstleister Infosys aus. „Wir wollen massiv in die interne Softwareentwicklung investieren und auf der Infrastrukturseite nach Skaleneffekten suchen“, erläutert Daimler-CIO Jan Brecht im Interview mit automotiveIT. Auf diese Weise konnten etwa am Standort Sindelfingen neue Softwareentwickler eingestellt werden, die sich auf das 2024 erscheinende Fahrzeugbetriebssystem MB.OS konzentrieren. Die Verantwortung dafür liegt seit diesem Herbst beim neuen Posten des Chief Software Officer. Die restlichen CASE-Themen, die zuvor der ehemalige CTO Sajjad Khan betreut hatte, wanderten ins Entwicklungsressort zu Markus Schäfer.

Mercedes-Werke rüsten sich für E-Mobilität

Auch bezüglich der Produktionsstätten hat Daimler die Zeichen der Zeit erkannt und eröffnete mit der Factory 56 in Sindelfingen im vergangenen Herbst ein hochautomatisiertes und durchdigitalisiertes Vorreiterwerk. Während dort die S-Klasse und der vollelektrische EQS auf einer Linie gefertigt werden, liefert das begleitend eingeführte digitale Ökosystem MO360 Echtzeitdaten über die Produktion eines jeden Fahrzeugs – werksübergreifend und weltweit.

Eine weitere Zäsur durchlebte der Standort Bremen, wo angesichts kürzerer Modellzyklen und steigender Modellvielfalt ein flexibleres Rohbaukonzept eingeführt wurde. Neben dem GLC, dem GLC Coupé und dem vollelektrischen EQC kann dadurch auch die neue C-Klasse mit all ihren Antriebsvarianten auf der gleichen Linie hergestellt werden. Im Anschluss an das Lead-Werk starteten dann die Standorte im chinesischen Peking und südafrikanischen East London mit der Produktion.

Im US-amerikanischen Tuscaloosa wird die C-Klasse indes eingestellt, damit sich das Werk vollumfänglich auf die SUV-Modelle GLE, GLE Coupé, GLS und GLS Maybach konzentrieren sowie ab 2022 auch EQS und EQE fertigen kann. Ihre Rolle bei der E-Strategie des OEM haben zudem auch die Werke in Rastatt, Peking, dem ungarischen Kecskemét sowie dem spanischen Vitoria gefunden. Während am badischen Standort der EQA, in Ungarn der EQB und in Spanien der Van EQV eingeplant sind, ist das Joint Venture BBAC in China für EQA, EQB und EQC zugleich zuständig.

Daimler strebt nach Führungsposition bei E-Antrieben

Im Sinne dieser transformatorischen Bemühungen strebt der Premiumhersteller nichts Geringeres als „die führende Position“ bei Elektroantrieben an. Dies spiegelt sich auch im Produktportfolio wider. Eine Vielzahl der Modelle ist inzwischen als Hybrid verfügbar, mit den SUVs EQA und EQC, der Luxuslimousine EQS und dem Van EQV sind bereits vier vollelektrische Modelle auf dem Markt erhältlich. Ende des Jahres soll der GLB-Ableger EQB und im Sommer 2022 die Limousine EQE folgen. Zudem sind unter anderem eine SUV-Variante des EQS sowie ein EQG in Planung. „Wir werden bis 2030 bereit sein, alle Marktsegmente von der A-Klasse bis zur S-Klasse mit Elektrofahrzeugen abdecken zu können“, betont Daimler-Chef Ola Källenius.

In den ersten drei Quartalen des Jahres steigerte der OEM den Absatz von Plug-in-Hybriden und reinen E-Fahrzeugen um knapp 143 Prozent auf circa 184.400 Einheiten. Davon entfielen rund 13.000 auf den EQA und 18.000 auf den EQC, während der EQS auf Basis der neuen MEA-Plattform erst im August in den Handel kam. Fast die Hälfte aller EQ-Fahrzeuge wurden dabei im dritten Quartal verkauft. Ab 2025 werden schließlich alle Fahrzeugarchitekturen elektrisch sein. Basis des künftigen BEV-Portfolios ist dann das skalierbare und modulare System MB:EA. Für die Performancemarke AMG wird darüber hinaus die Plattform AMG.EA sowie VAN.EA für Vans und leichte Nutzfahrzeuge geschaffen.

Der neue Mercedes-Benz EQS in der Schweiz.
Der EQS ist das elektrische Pendant zur renditestarken S-Klasse. (Bild: Daimler)

Mercedes-Benz bleibt abhängig vom Verbrenner

Die Lösung aller Probleme ist die Elektromobilität angesichts des derzeitigen Absatzanteils jedoch nicht. Zu abhängig ist der Autobauer von seinen Verbrennern beziehungsweise lukrativen Luxusmodellen, die ihm etwa bei der S-Klasse Renditen von mehr als 20 Prozent bescheren. Über 62.300 Mal konnte das Flaggschiff in den ersten drei Monaten des Jahres weltweit abgesetzt werden – rund 45 Prozent mehr als im Vorjahr.

Folgerichtig will Daimler unabhängig vom Antrieb das Luxuserlebnis in den Vordergrund stellen und das Absatzvolumen vernachlässigen. Der Modellvielfalt in der Kompaktklasse dürfte es damit an den Kragen gehen. Anlass liefert etwa das Negativbeispiel Smart: Die Kleinstwagen werden nach hohen Absatzrückgängen komplett auf E-Antriebe umgestellt und zu einem SUV für die Kompaktklasse transformiert. Entwicklung und Produktion übernimmt der Großaktionär Geely in China, während die alten Modelle auslaufen.

Daimlers setzt auf das Luxuserlebnis

Welche Aspekte das Luxuserlebnis bei Mercedes-Benz fortan ausmachen, verdeutlichen insbesondere die neue S-Klasse sowie ihr vollelektrisches Pendant, der EQS. Für beide Modelle verkündete der OEM die Zertifizierung autonomer Fahrfunktionen. Zum einen handelt es sich dabei um den Drive Pilot auf SAE-Level 3, der die gesamte Fahrtätigkeit bei stockendem Verkehr auf deutschen Autobahnen übernimmt und jüngst für den deutschen Markt zertifiziert wurde. Zum anderen sind beide Limousinen für das Automated Valet Parking (AVP) auf SAE-Level 4 gerüstet, bei dem das Fahrzeug vollautomatisiert und fahrerlos in Parkhäusern ein- und ausparkt.

Alleinstellungsmerkmal des EQS ist überdies der MBUX Hyperscreen, welcher Anfang des Jahres präsentiert wurde und seinen Weg in weitere Luxusmodelle finden wird. Er zieht sich über die gesamte Breite von der linken zur rechten A-Säule und ist der größte Bildschirm, der jemals in einem Serien-Mercedes verbaut wurde. Mit ihm wird nicht nur das Infotainmentsystem zum Gehirn und Nervensystem des Autos, auch der Nimbus des Glamourösen und Besonderen kehrt mehr denn je in das Interieur zurück.

Sie möchten gerne weiterlesen?