Es war keine Liebe auf den ersten Blick. Lange Jahren hatten sich die Verantwortlichen von Rolls-Royce und der Konzernmutter BMW schwer getan, sich für einen SUV mit der Spirit of Ectasy auf dem Kühlergrill zu entscheiden. Ebenso wie Ferrari und der jüngst verstorbene Konzernlenker Sergio Marchionne wurden Rückfragen nach einem luxuriösen Crossover immer wieder vehement verneint. "Dieser passe nicht ins Portfolio und zur Marke Rolls-Royce", hieß es selbst da noch, als man in Goodwood und München schon lange Zeit an Technik und Design des ersten Geländegängers werkelte. Doch speziell die Designabteilung tat sich lange Jahre schwer, das Idealbild des vermeintlich besten Autos der Welt mit einem Geländewagen zu kreuzen. Letztlich war der Druck der Kundschaft zu groß, die zwar treu und ergeben mit der erhabenen Kühlerfigur durch die Lande rollten, für wochenendliche Ausflüge oder den Trip in die Berge auf Modelle wie insbesondere den Range Rover zurückgriffen.

Das überlange Warten hat sich gelohnt, denn nach der ein oder anderen Designirrung steht der Cullinan so da, wie man sich einen Rolls-Royce mit nahezu unermesslichen Komfort- und Geländeambitionen vorstellt. Die Schönheit liegt auch in dieser Klasse ganz im Auge des Betrachters und auch wenn der ein oder andere die Eleganz von Phantom oder Dawn bei dem hoch aufgeschossenen Geländewagen vermisst, so kann man dem Cullinan seinen überaus imposanten Auftritt kaum absprechen. Während er sich von Proportionen, Dimensionen und dem Verhältnis zwischen Karosserie- zu Glasflächen überraschend deutlich am Klassenerstling Range Rover orientiert, macht der Cullinan beim Antrieb keine halben Sachen. Weder aufgeladene Achtzylinder, noch hybrid erstarkte Sechszylinder treiben den knapp 2,7 Tonnen schweren Briten auf jeglichem Untergrund zu sportlichen Höchstleistungen.

Der Antrieb stammt aus der noch jungen Neuauflage des Phantom. Auch im Vorderwagen des 5,34 Meter langen Rolls-Royce Cullinan leistet der aufgeladene Zwölfzylinder 420 kW / 571 PS und ein maximales Drehmoment von 850 Nm, das der Pilot ab 1.600 U/min bereitwillig abrufen kann. Trotz gewaltiger Dimensionen und dem vermeintlich lähmenden Übergewicht spurtet der Allradler aus dem Stand in 5,2 Sekunden auf Tempo 100. Bei 250 km/h wird dieser elektronisch abgeriegelt und nur der Vollständigkeit halber sei mitgeteilt, dass der Normverbrauch bei allemal stattlichen 15,0 Litern Super liegt. Eine Hybridversion ist aktuell nicht geplant und mit weniger als zwölf Zylindern mag sich der geneigte Rolls-Royce-Kunde ebenfalls nicht anfreunden. Mittelfristig will die Marke jedoch ihr gesamtes Portfolio elektrifizieren.

Fliegender Teppich - on- wie offroad

Dabei fährt der Cullinan genau so, wie man sich einen Rolls-Royce im unwegsamen Terrain vorstellt. Gleichermaßen geht es geradezu entkoppelt über Autobahnen, Landstraße oder kurz einmal die überfüllte City; bestens geschützt durch sichthemmende Gardinen, dunkle Scheiben und ein Doppelglas, das mit einer Stärke von sechs Millimetern die meisten Störgeräusch wirksam herausfiltert. Durch seine sänftenartige Luftfederung nebst Vierradlenkung fährt sich der Koloss wie von Geisterhand geführt. Unebenheiten in der Fahrbahn sind nicht zu spüren und wenn man sich einmal an die allzu leichtgängige Servounterstützung gewöhnt hat, führt man den Giganten aus Goodwood gefühlt mit dem kleinen Finger durch alle Lebenslagen. Diese unermessliche Souveränität hat jedoch auch ihre Grenzen. Denn das gewaltige Leergewicht von knapp 2,7 Tonnen lässt sich trotz Allradantrieb und eines Zauberfahrwerks nicht vollends überspielen. Dort, wo andere Autohersteller um jedes Gramm kämpfen, haben die Rolls-Royce-Entwickler allein 100 Kilogramm zusätzlich verbaut, um den Cullinan so leise und gedämpft wie kein anderes Fahrzeug zu machen. Die sportliche Gangart ist dagegen nicht die Stärke des britischen Allradlers, denn in schnell gefahrenen Kurven neigt sich der Luxus-Hochsitz allzu sehr zur Seite und auch die Nickbewegungen sind aufgrund der Komfortfederung deutlicher spürbar als bei anderen Fahrzeugen seiner Klasse. Ein schnell arbeitendes 48-Volt-Bordnetz, das hier in Sekundenbruchteilen in die elektronischen Dämpfer eingreifen könnte, fehlt dem Offroad-Rolls-Royce.

"Die Antriebseinheit, die wir für den Cullinan entwickelt haben, hatte die zentrale Aufgabe, den Magic Carpet Ride eines Rolls-Royce auf allen Untergründen erfahrbar zu machen", erklärt Caroline Krismer, verantwortliche Entwicklerin des Cullinan, "und dabei der klassenbeste SUV auf der Straße zu sein." Manuell kann der Fahrer hierzu zwischen sechs verschiedenen Fahrprogrammen wählen - oder die Arbeit einfach der vernetzten Technik überlassen. Ein Druck auf den Offroad-Knopf auf der breiten Mittelkonsole und der Cullinan erledigt alles automatisch - von der Gaspedallinie bis zur Erhöhung der Bodenfreiheit über eine Anpassung der Regelsysteme. Zurück auf festem Terrain wird der Knopf nochmals gedrückt und es geht sänftengleich auf der Straße weiter. Mit den technischen Hintergründen muss und will sich der Fahrer eines Cullinan ohnehin nicht beschäftigen. Allein vom kraftvollen 6,8-Liter-Motor dürfte sich der ein oder andere Marken-Neukunde etwas mehr Stakkato erträumen, denn so sehr man den Dutzendzylinder auch scheucht - akustisch ist kaum etwas zu vernehmen, was sich mit der kurzfristigen Anstrengung erklären könnte.

Der größte Diamant auf Erden

Dass der Luxus im Innern kaum irdische Grenzen kennt, mag bei dem mindestens 315.000 Euro teuren Rolls-Royce Cullinan kaum überraschen. So wenig Alternativen der geneigte Kunde bei Antrieb und Fahrwerk hat, so sehr kann er sich im Innenraum bei Leder, Hölzern oder Individualisierungen austoben. Dabei hat er zunächst die Wahl, ob der Cullinan ein bequemer Fünfsitzer mit durchgehender Rückbank sein soll oder ein lasziver Viersitzer mit Komfortsesseln hinten, Champagnerkühler und Trennscheibe zum Laderaum, was einen Aufpreis von mindestens 16.000 Euro kostet. Zusätzlichen Platz kann man sich für Geld dagegen nicht kaufen. Muss auch nicht sein, denn das Platzangebot im Innern des Cullinan ist vorne wie hinten schon Dank des 3,30 Meter langen Radstandes opulent. Auch ohne eine ausgewiesene Langversion ist der 5,34 Meter lange Fünftürer eben eine solche und lässt die Insassen auch in der zweiten Reihe angenehm die Beine ausstrecken, während hinter der elektrischen Klappe ein weich ausgekleideter Kofferraum mit einem Ladevolumen von 560 bis 1.886 Liter zur Verfügung steht.

Etwas moderner würde man sich jedoch das Armaturenbrett wünschen, denn hier scheinen die Briten mit ihren Bedienmodulen für Klimatisierung, Gangwahl, Anzeige oder Soundsystem allzu sehr in der Tradition gefangen. Etwas mehr Modernität hätte einem komplett neuen Modell der Emily-Familie gerade mit größeren Displays und weniger nutzlos verschwendetem Raum in der Mittelkonsole gut getan. Ändert jedoch nichts daran, dass Rolls-Royce mit seinem Offroad-Erstlingswerk weltweit einen neuen Maßstab in der Klasse der Geländewagen setzt - und genau das drückt schließlich auch sein Name Cullinan eindrucksvoll aus.

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