Stefan Bratzel, Leiter Center of Automotive Mangement

Nios Investoren hätten für den Hersteller, der noch relativ geringe Absatzzahlen verzeichnet, einen fast übertriebenen Erwartungshorizont aufgebaut, sagt Automobilexperte Bratzel. (Bild: Claus Dick)

Diese Woche präsentierte das chinesische Elektroauto-Startup Nio in Chengdu die neue Limousine ET7 und schlug damit einige Wellen in der Weltöffentlichkeit. Denn das Fahrzeug, das jetzt bestellt werden kann, doch erst 2022 zu den Käufern rollt, könnte sich nach Meinung vieler Experten als echter Konkurrent zum Tesla Model S oder Porsche Taycan positionieren.

Das liegt vor allem an den beeindruckenden Performancewerten: Eine neuartige Feststoffbatterie mit bis zu 150 kWh soll eine rekordverdächtige Reichweite von bis zu 1.000 Kilometern ermöglichen. Dazu verfügt der ET7 über einen leistungsstarke Rechnerarchitektur, die dank eines Nvidia-Prozessors mit 1016 Teraflop Rechenleistung sogar bislang unerreichte Level des autonomen Fahrens ermöglichen könnte.

Auch der Leiter des Center of Automotive Management, Prof. Stefan Bratzel, ist überzeugt, dass Nio mit dem ET7 ein großer Wurf gelungen ist. Im Interview mit Automobil Produktion spricht der Automobilexperte über Nio als ernstzunehmenden Wettbewerber zu Tesla, erklärt welche Hürden es auf dem Weg zum Durchbruch auf westlichen Märkten zu überwinden gilt und wirft einen Blick auf die Chancen chinesischer OEMs in der sich wandelnden Automobilwelt.

Herr Bratzel, hat Nio mit der Limousine ET7 einen starken Elektro-Konkurrenten zu Tesla, Taycan und Co. der Weltöffentlichkeit präsentiert?

Natürlich ist der ET7 zunächst ein Versprechen für die Zukunft, denn es wird noch über ein Jahr dauern, bis das Modell auf den Markt kommt. Vor allem im Hinblick auf die tatsächliche Qualität und technischen Fähigkeiten müssen wir den Serienstart erstmal abwarten, bevor man da ein finales Urteil fällen kann. Qualitätsprobleme haben wir ja auch häufig genug bei Modellen von Tesla gesehen.

Nio ist der Vorreiter unter der chinesischen E-Auto-Startups. Vielen gilt das Unternehmen als fernöstliche Antwort auf Tesla. An der Börse lässt Nio mit einer Marktkapitalisierung von rund 92 Milliarden Euro deutsche Autobauer wie Daimler oder BMW weit hinter sich. Ist Nio das „Tesla Chinas“ und kann das Unternehmen die Weltmärkte erobern?

Die Storys von Nio und Tesla kann man durchaus vergleichen. Auch der US-Autobauer bewegte sich in den vergangenen Jahren häufig in finanziell unsicheren Gefilden. Mittlerweile haben jedoch beide Unternehmen eine enorme Marktkapitalisierung erreicht, mit der sie weit vor den etablierten OEMs stehen. Damit haben die Investoren jedoch für Hersteller, die noch relativ geringe Absatzzahlen verzeichnen, einen fast übertriebenen Erwartungshorizont aufgebaut. Nio hat auch dank der Unterstützung durch den chinesischen Staat eine gute Ausgangsbasis, die Hoffnungen der Investoren zu erfüllen. Doch es gibt natürlich auch Probleme: Immer wieder hat der Hersteller beispielsweise mit Verzögerungen bei der Fertigung zu kämpfen – noch eine Parallele zu Tesla. Da verfügen die etablierten Autobauer noch über Kompetenz-Vorteile, die allerdings nicht überschätzt werden sollten. Doch der klare Fokus auf Zukunftsthemen wie Elektrifizierung oder Vernetzung könnte Nio wie auch Tesla einen zusätzlichen Schub geben.

Könnte Nio im Unterschied zur „Kultmarke“ Tesla Schwierigkeiten bei der Vermarktung bekommen?

Klar, Nio hat aktuell keine Symbolfigur wie Elon Musk im Hintergrund. Jedoch ist das auch eine Ausnahmeerscheinung, die nicht zwangsweise vonnöten ist, um eine Automotive-Brand aufzubauen. Dennoch muss es auch Nio schaffen, die Marke zum Strahlen zu bringen. Das kann gelingen, indem man die technologischen Innovationen in den Vordergrund rückt – gleiches hat im Übrigen auch Musks Unternehmen getan.

In Studien wie dem Connected-Car-Innovation-Index wird immer deutlicher ersichtlich, dass die chinesischen OEMs technologisch ein gehöriges Wort in der Automobilwelt mitreden können. Trotzdem hat man den Eindruck, dass sie sich gerade auf den Märkten der USA und Europa schwertun. Ändert sich die Situation mit dem Strukturwandel in der Autoindustrie hin zu mehr Digitalisierung und Elektrifizierung mittelfristig?

Sowohl in den USA als auch in Europa stellen wir eine hohe Wettbewerbsintensität der Automobil-Player fest, die über etablierte Vertriebsstrukturen und Kenntnisse über die Eigenarten des jeweiligen Marktes verfügen. Das war bislang ein großer Vorteil gegenüber neuen Autobauern unter anderem aus China. Doch der Paradigmenwechsel in der Autoindustrie bietet für neue Player nunmehr die Chance, mit neuen Technologien aus den Bereichen Elektrifizierung, Vernetzung und autonomes Fahren auf den alten Märkten Fuß zu fassen – auch wenn ein solcher Vorstoß gerade im Premiumsektor alles andere als einfach ist. Vielen Herstellern aus China haftet bisweilen wegen einiger Fehlversuche in der Vergangenheit auch noch ein schlechtes Image an, das es erst noch zu überwinden gilt. Das so etwas möglich ist, haben beispielsweise vor einigen Jahren die Japaner in den USA gezeigt: Dank guter Qualität bei gleichzeitig niedrigen Preisen konnte sich die japanischen Hersteller auf dem US-Markt festsetzen. Die Chance ist auch für die chinesischen OEMs gegeben – ein Selbstläufer wird das jedoch nicht.

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