Der Betrugsvorwurf gegen den ehemaligen VW-Chef Martin Winterkorn steckt in 692 Seiten Anklageschrift. Ihren Tatverdacht im Dieselskandal beschreiben die Ermittler auf weiteren rund 75.000 Seiten, die 300 Aktenbände füllen.
Die Frage aber, ob der Inhalt für einen Prozess gegen den einst bestbezahlten Top-Manager Deutschlands reicht, ist auch zwölf Monate nach Anklageerhebung ungeklärt. Der Abschluss des Zwischenverfahrens am Landgericht Braunschweig ist nicht absehbar, wie eine Sprecherin sagte.
Seit einem Jahr gilt der 72-jährige Winterkorn damit als Angeschuldigter in der Dieselaffäre. Am 15. April 2019 hatte die Staatsanwaltschaft Braunschweig den "Teilabschluss ihrer Ermittlungen" verkündet und Anklage gegen ihn und vier weitere Führungskräfte des Konzerns erhoben. Neben einem besonders schweren Fall des Betruges zählten die Ermittler auch Untreue, Steuerhinterziehung und mittelbare Falschbeurkundung auf. Tatzeitraum: 2006 bis 2015. Ob sich Winterkorn den Vorwürfen, die er stets bestritten hat, in einem öffentlichen Verfahren stellen muss, bleibt offen.
Im September 2015 hatte VW auf Druck von US-Umweltbehörden eingeräumt, in großem Stil bei Abgastests betrogen zu haben. Kurz nach dem Auffliegen fegte der Skandal den Vorstandschef aus dem Amt. Weltweit betraf die Affäre laut damaligen Unternehmensangaben rund elf Millionen Dieselautos. Mehr als 30 Milliarden Euro an Rechtskosten verbuchte der Konzern bereits.
Ein Ende der juristischen Aufarbeitung von "Dieselgate" ist weiter nicht in Sicht. In Braunschweig prüft eine Wirtschaftsstrafkammer aus drei Richtern, ob ein hinreichender Tatverdacht gegen Winterkorn und vier frühere Mitstreiter besteht. Allerdings handele es sich allein bei diesem Teilverfahren um einen der bisher umfangreichsten Vorgänge am Landgericht, begründete die Sprecherin die Dauer. Auch ohne die aktuellen Verzögerungen durch die Corona-Krise hatten Beobachter nicht mit einem Prozessbeginn vor dem ersten Quartal 2020 gerechnet.
Von Beginn an gab es Kritik an den Ermittlern. So rügte Winterkorns Anwalt Felix Dörr noch am Tag der Anklage eine fehlende Gelegenheit, sich zum Inhalt der Akten und den erhobenen Vorwürfen zu äußern. "Die Verteidigung wird sich auf diese 'Gangart' der Staatsanwaltschaft einstellen", betonte Dörr damals in einer Erklärung.
Später sorgten mehrfach durchgestochene Akteninfos aus dem eigentlich nicht-öffentlichen Verfahren für Verärgerung. Denn daraus ergaben sich Berichte über Zweifel des Gerichts an der Argumentation der Ermittler. Demnach sollen die Richter weitere Erläuterungen von den Strafverfolgern eingefordert und ein zusätzliches Sachverständigen-Gutachten beauftragt haben. Zuletzt wurde im Februar eine Dienstaufsichtsbeschwerde des zuständigen Richters gegen die Staatsanwaltschaft bekannt. Dabei blieb der Grund aber unklar.
Eine Verhaftung wie beim früheren Audi-Chef Rupert Stadler blieb Winterkorn bisher erspart. Die Ermittler sahen eine Fluchtgefahr auch angesichts des internationalen Haftbefehls der USA vom Mai 2018 nicht gegeben. Dort werden ihm Verschwörung zum Verstoß gegen Umweltgesetze und Täuschung der Behörden vorgeworfen.
In Deutschland muss sich Winterkorn weiterhin zusätzlich wegen mutmaßlicher Marktmanipulation verantworten. Er soll laut Staatsanwaltschaft Anleger vor dem öffentlichen Bekanntwerden des Skandals zu spät über die drohenden finanziellen Folgen informiert haben. In diesem Punkt sind neben ihm auch der aktuelle Konzernchef Herbert Diess, früher VW-Markenchef, sowie der heutige Aufsichtsratsvorsitzende und ehemalige Finanzvorstand Hans Dieter Pötsch angeklagt.