Evolutionszyklen Digitale Fabrik

AUTOMOBIL PRODUKTION: Was genau ist ein Digitaler Zwilling demnach?
Die Digitale Fabrik nahm ja ihren Anfang darin, Einzeldisziplinen digital abzubilden und dafür Simulationen anzubieten. Wenn man jetzt aber alle relevanten Aspekte eines Systems digitalisiert, dann ergibt sich ja in der Tat ein digitales Abbild, das der Realität sehr nahe kommt. Dann beginnen wir, das dann Digitaler Zwilling zu nennen. Er entsteht während des Engineering-Prozesses und wächst so weit an, dass er dann tatsächlich ein komplettes Abbild der späteren Anlage darstellt. Die weitestgehende Ausprägung heutzutage würde ich sagen, haben die virtuellen Inbetriebnahmemodelle, deren Reifegrad es zulässt, die digitalen Modelle mit der realen Steuerung zu betreiben und testen zu können.
 
AUTOMOBIL PRODUKTION: Wie sehen die nächsten Schritte aus?
Heute sind wir bei der virtuellen Inbetriebnahme im Prinzip bei einem Standard-Prozess, der inzwischen in vielen Bereichen eingesetzt wird. In Kürze werden hier auch vermehrt virtualisierte SPS-Steuerungen zum Einsatz kommen. Dann kann die Inbetriebnahme komplett auf einem Rechner ohne jeden Hardware-Aufbau erfolgen.
Der nächste Schritt wird sein, den zugrundeliegenden Digitalen Zwilling auch mit der tatsächlichen Produktion synchron zu halten. Heute ist es noch so, dass zum Start of Production das digitale Modell in der Planungsschublade verschwindet und die Fabrik eigenständig ohne digitales Abbild läuft. Eine manuelle Synchronisation der digitalen Modelle aus der Planungsphase ist denkbar aufwändig.
Was wir bei Siemens gerade entwickeln, ist der Connected Digital Twin, der aus den Betriebsdaten und den Anlagen Informationen übernimmt, mit seinem Stand vergleicht und das digitale Modell bei Abweichungen in der Realität dann wieder auf Stand bringt. Das erreichen wir unter anderem über eine bidirektionale Anbindung der Steuerungsprogramme in unserem TIA Portal, die ja an sich die „Wahrheit“ in einer Anlage abbilden.

AUTOMOBIL PRODUKTION: Entwickelt sich der Digitale Zwilling damit  mehr vom abbildenden Schatten zum prägenden Master?
Mein Ziel für den Connected Digital Twin im digitalen Modell ist eine permanente virtuelle Inbetriebnahmefähigkeit. Das heißt, im Anlagen-Lifecycle existiert parallel jederzeit ein digitales Modell, das so genau ist, dass wir das mit der aktuellen Steuerungssoftware testen und auch Veränderungen an diesem Modell durchführen können. Dann sind wir auch so weit, dass wir von einem Master sprechen können, weil wir über dieses Modell auch Veränderungen quasi live erst einmal prüfen und dann in die Realität überführen können.

Investitionen in Industrie 4.0

AUTOMOBIL PRODUKTION: Wann wird der Connected Digital Twin gewissermaßen serienreif sein?
Meine Einschätzung ist, dass das in etwa vier bis fünf Jahren realisiert werden kann. Das sind übrigens typische Zyklen, die sich im Umfeld Digitale Fabrik zeigen. Die ersten Systeme sind um die 2000er Jahre entstanden, die waren dann nach fünf Jahren betriebsbereit in der Größenordnung, dass sie auch einen deutlichen Einfluss auf die Produktionsplanung hatten. Beim Thema virtuelle Inbetriebnahme überstreicht der Zeitraum von den ersten Gehversuchen bis jetzt in die breitere Umsetzung auch wieder etwa fünf Jahre. Beim Thema Digitaler Zwilling  laufen jetzt gerade verschiedenste Projekte an und ich gehe davon aus, dass wir dann auch in vier bis fünf Jahren diese Technik in der Breite nutzen werden.

AUTOMOBIL PRODUKTION: Wie groß ist der Nutzen durch Methoden und Werkzeuge der Digitalen Fabrik für mittelständische Unternehmen?
Mittelständische Unternehmen sind ja oft sehr projektgetrieben und haben erst einmal nicht so viele Ressourcen, um sich in standardisierte Prozesse und standardisierte Modelle zu begeben. Das ist aber schon eine  Grundvoraussetzung, um richtigen Nutzen aus der Digitalisierung ziehen zu können.
Meine These ist, dass ein Unternehmen, das weiter erfolgreich sein will, sich zwangsläufig mit dem Thema Digitalisierung und Digitale Fabrik auseinandersetzen muss, um nicht abgehängt zu werden. Weil sich dem Unternehmen auch nur dann die Möglichkeit eröffnet, auf neue Geschäftsmodelle aufzuspringen. Nur wenn digitale Modelle vorliegen, können eben IoT-Anwendungen umgesetzt  werden. Es können dann cloud-basierte Lösungen angeboten werden, es können Apps angeboten werden. Die Produkte vieler Mittelständler  bekommen ja jetzt aktuell mehr und mehr Intelligenz und kommunizieren mit der Cloud. Und das geht eben nur, wenn sich diese Firmen heute mit dem Thema Digitalisierung und digitalen Modellen beschäftigen und diesen initialen Aufwand treiben.
Denn wenn sie das nicht tun, macht es die Konkurrenz und wir sehen ja, was aus klassischen Industriegrößen werden kann, wenn sie einen entsprechenden Trend verschlafen.

AUTOMOBIL PRODUKTION: Wie lässt sich im digitalen Planungsprozess beispielsweise der Autonomiegrad lernfähiger Roboter oder auch die mögliche Schwarmintelligenz fahrerloser Transportsysteme berücksichtigen?
Ich sehe solche Themen heute noch im Forschungsstadium. Mir sind keine Standardanwendungen bekannt, die künstliche Intelligenz und Schwarmfähigkeit von Logistiksystemen oder autonome Roboter direkt mit berücksichtigen. Die Forschungen laufen hier aber stark und in verschiedenste Richtungen. Aber, wie zu Beginn angesprochen: die digitalen Modelle wachsen an, die zur Verfügung stehenden Daten nehmen zu. Und wenn man einen gewissen Datenbestand erreicht hat, kann man natürlich auch mit Methoden von Big Data und Künstlicher Intelligenz auf diese Datenpools aufsetzen.

AUTOMOBIL PRODUKTION: Läuft Forschung und Entwicklung bei Siemens rein intern?
Es gibt viele Forschungsprojekte, an denen Siemens beteiligt ist. Ganz konkret arbeite ich in meinem Bereich im Kontext der ARENA 2036 mit, dem Forschungscampus an der Universität Stuttgart, in dem ja auch Produktionstechnik der Zukunft entwickelt wird.

AUTOMOBIL PRODUKTION: Sie beschäftigen sich innerhalb der Digitalen Fabrik mit Digital Engineering. Worin liegt aktuell ihre Entwicklungspriorität?
Die Trends, an deren Umsetzung wir jetzt gerade arbeiten, sind klar das Thema Mechatronik als Teil des Digitalen Zwillings, und das hin zum Connected Digital Twin, der über den gesamten Lebenszyklus einer Anlage zur Verfügung steht. Außerdem das generelle Thema Durchgängigkeit zwischen Engineering, Simulationen und Validierung, um die verschiedenen Systeme, die teilweise noch getrennt in den digitalen Fabriksystemen existieren, auf eine gemeinsame Datenbasis zu stellen und ihre Interoperabilität zu gewährleisten. Wir fassen das alles unter dem Begriff „Production Systems Engineering“ zusammen, mit dem die Unternehmen die weiter zunehmende Komplexität in der Produktion sicher und effizient meistern können.

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(Bild: Siemens)

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