
Chris Glover ist seit 2022 Werkleiter im VW-Werk Chattanooga. (Bild: Volkswagen)
Herr Glover, wir erleben konstante Veränderungen im Automobilmarkt und in der Technologie, sei es bei der Verbrauchernachfrage nach Elektrofahrzeugen, neuer Software oder Vorschriften. Was sind die bedeutendsten Auswirkungen auf die Abläufe in Chattanooga, und wie passen Sie sich an?
Es ist interessant, dass Sie das fragen, denn Sie haben in Ihrer Frage die Worte „konstant“ und „Veränderung“ verwendet – zwei widersprüchliche Begriffe, die jedoch perfekt unsere Realität beschreiben. Das Einzige, was in unserer Branche momentan konstant ist, ist die Veränderung. Ob es um Änderungen bei Produkten, Märkten oder Technologien geht, wir müssen uns ständig anpassen. Die Automobilindustrie erlebt derzeit die größte Transformation seit über 100 Jahren – es ist keine Evolution, sondern eine Revolution. Wie Sie erwähnt haben, bringen auch neue Fahrzeug- und Softwarearchitekturen enorme Herausforderungen für die Fahrzeugmontage mit sich. Wir haben es nicht mehr nur mit mechanischen Bauteilen zu tun, die sichtbar und greifbar sind. Jetzt müssen wir uns mit der Welt der Elektronik und Software auseinandersetzen – Bits und Bytes, die größtenteils unsichtbar sind, aber genauso wichtig wie physische Komponenten. Das bedeutet, dass wir neben traditionellen Schraub- und Klebeprozessen bis zu 80 Steuergeräte in jedes Fahrzeug einbauen und in Betrieb nehmen. Hinzu kommen fortschrittliche Sensortechnologien und Infotainmentsysteme sowie die Bordnetzwerke, die diese Komponenten miteinander verbinden. Die Fahrzeugsoftware ändert sich ständig und muss laufend aktualisiert werden, um neuen Kundenanforderungen gerecht zu werden und die Fahrzeugleistung und -sicherheit zu verbessern. Es ist eine Welt, die sich grundlegend von der mechanischen Welt der Vergangenheit unterscheidet und durch die äußerst dynamische Natur der Fahrzeugmontage noch komplexer wird.
Können Sie ein Beispiel dafür geben, wie Software die Produktionsprozesse verändert?
Für Volkswagen beziehen wir elektronische Komponenten aus verschiedenen Teilen der Welt, und diese Steuergeräte und Mikroprozessoren sind in den verschiedenen Bauteilen eingebettet, die alle auf den neuesten Entwicklungsstand synchronisiert werden müssen. Abhängig davon, ob wir eine elektronische Komponente aus South Carolina oder Europa erhalten, ändern sich die Logistikprozesse, was wiederum beeinflusst, wie und wann wir die Software aktualisieren können. Dies stellt eine einzigartige Herausforderung dar, da die Softwarestände in jedem Fahrzeug synchronisiert werden müssen. Und die Software ändert sich ständig als Reaktion auf Produktänderungen, Kundenerwartungen, Konnektivität und gesetzliche Vorschriften.
Da diese Veränderungen immer konstanter werden, was sind Ihre Prioritäten, um Agilität und Flexibilität aufrechtzuerhalten oder sogar zu beschleunigen?
Zunächst einmal ist es entscheidend, Markttrends und Entwicklungen zu verstehen, sowohl intern als auch bei unseren Zulieferern. Die Transformation, die wir durchlaufen, erfolgt in einem unvorhersehbaren Tempo. Das Verständnis des Marktes im Voraus ermöglicht es uns, unsere Produktionsprogramme rechtzeitig anzupassen. Das bedeutet nicht nur, uns selbst genügend Zeit zur Reaktion zu geben, sondern auch unseren Zulieferern genügend Zeit zu geben, ihre Produktionspläne anzupassen. Ein weiterer wesentlicher Faktor ist das flexible Anlagendesign. Wir haben dies weitgehend dadurch erreicht, dass wir zwei Fahrzeugarchitekturen auf einer Montagelinie kombiniert haben und Flexibilität in unseren Karosseriebauprozessen sicherstellen. Dies ermöglicht es uns, die Nutzung unserer Kapitalinvestitionen zu maximieren und uns effektiver an neue Produkte anzupassen, wobei wir einen hohen Grad an Wiederverwendung sicherstellen. Und schließlich müssen wir eine gut ausgebildete und anpassungsfähige Belegschaft entwickeln, die in der Lage ist, die erforderliche Flexibilität umzusetzen. Dazu gehört auch, die Mitarbeiterbindung und -kompetenzen zu verbessern sowie unsere Mitarbeiter über die Entwicklungen auf dem Markt auf dem Laufenden zu halten. Unsere vierteljährlichen Townhall-Meetings und täglichen Newsletter sollen alle über unsere wichtigsten operativen Entscheidungen informieren, was zu einem besseren Verständnis und einer motivierteren Belegschaft führt.
Sie haben Schulungen und die Kommunikation mit der Belegschaft als Schlüsselbereiche zur Aufrechterhaltung von Flexibilität genannt. Wie stellen Sie sicher, dass Ihre Mitarbeiter mit der zunehmenden Komplexität in der Produktion umgehen können?
Das beginnt bereits im Einstellungsprozess. In den letzten zwei Jahren haben wir mehr als 3.500 neue Mitarbeiter eingestellt. Wir haben einen sehr gründlichen Onboarding-Prozess. Dazu gehört es, sicherzustellen, dass die Mitarbeiter die notwendige Geschicklichkeit und Hand-Augen-Koordination haben, um die Aufgaben an der Linie effizient auszuführen. Die neuen Mitarbeiter durchlaufen dann unseren Professional Room, wo sie die spezifischen Aufgaben erlernen und üben, die sie an der Linie ausführen werden. Wir bieten sogar ein spezielles Programm in unserem Fitnesscenter an, um sicherzustellen, dass sie die erforderliche körperliche Fitness für die Arbeit mitbringen. Erst nach Abschluss dieses Trainings kommen sie an die Montagelinie und erhalten dort eine fortlaufende Schulung am Arbeitsplatz. Eine der besten Entscheidungen, die wir getroffen haben, ist die Einführung eines Rotationssystems, bei dem die Mitarbeiter alle zwei Stunden die Aufgaben wechseln. Dies hilft unseren Teammitgliedern, ein breites Spektrum an Fähigkeiten zu entwickeln, insbesondere beim Wechsel zwischen Elektro- und Verbrennerfahrzeugen. Die erworbenen Fähigkeiten und die Flexibilität der Aufgabenrotation werden in einem IT-System für den Shopfloor dokumentiert, das unseren Linienverantwortlichen ermöglicht, die Mitarbeiter auch im Falle von Abwesenheiten oder Änderungen im Zeitplan effektiv einzusetzen. Abgesehen von der Mitarbeiterschulung stellt unser Produktionssystem sicher, dass unsere Logistik- und Qualitätskontrollprozesse im gesamten Werk standardisiert sind. Egal, ob die Mitarbeiter in der Batterieproduktion, der Karosserieproduktion oder der Qualitätskontrolle arbeiten, sie folgen denselben Produktionsprinzipien. Diese Konsistenz hilft uns, die Qualität aufrechtzuerhalten und den Mitarbeitern den Wechsel zwischen den Aufgaben zu erleichtern, wenn dies erforderlich ist.
Viele OEMs versuchen, die Komplexität in der Produktion zu reduzieren, um Kosten zu senken, insbesondere bei Elektrofahrzeugen. War das auch ein Ziel in Chattanooga?
In der Produktion sind die Tage von Henry Fords 'any colour as long as it’s black' längst vorbei. Die heutigen Kunden erwarten Personalisierung und jeder internationale Markt hat unterschiedliche regulatorische Anforderungen. Anstatt die Komplexität zu reduzieren, arbeiten wir daran, sie zu managen. Unsere Linien werden durch komplexe Computersysteme gesteuert und überwacht, unterstützt durch Technologien wie RFID-Tagging, Pick-to-Light, fahrerlose Transportsysteme (AGVs) und Visionskontrollsysteme, die sicherstellen, dass die richtigen Teile in der Qualität, die unsere Kunden erwarten, in die Fahrzeuge eingebaut werden.
Sie haben die Rolle der digitalen Werkzeuge bei der Bewältigung dieser Komplexität erwähnt. Können Sie uns mehr darüber erzählen, wie Volkswagen Daten und digitale Plattformen nutzt, um die Produktion zu verbessern?
Wir haben weltweit Systeme entwickelt, um diese Komplexität effizienter zu steuern. Die Digitale Produktionsplattform (DPP) von Volkswagen ist beispielsweise ein cloudbasierter Ansatz, der uns hilft, Systeme in den Bereichen Produktion, Logistik und Qualitätskontrolle zu standardisieren. Aufgrund der Komplexität unserer Prozesse und der Systeme, die wir zu deren Steuerung einsetzen, sammeln wir immense Datenmengen. Die Herausforderung besteht darin, diese Daten zu extrahieren und sie für alle Führungsebenen so aufzubereiten, dass sie fundierte Entscheidungen treffen können. Hier sehe ich wirklich ein großes Potenzial für künstliche Intelligenz. Wir haben KI in Chattanooga zwar noch nicht in großem Umfang eingesetzt, aber wir experimentieren mit kleinen Anwendungen, vor allem im Bereich der Sichtkontrolle. Sobald die Kosten für diese Technologien sinken, sehe ich, dass KI eine größere Rolle bei der Verringerung des Aufwands und der Zeit spielen wird, die für die Analyse großer Datenmengen und bessere Entscheidungen im gesamten Produktionsprozess erforderlich sind.
Sehen Sie, dass Simulation und digitale Zwillinge, angereichert durch KI und Werkzeuge wie virtuelle Realität, eine größere Rolle in Ihrer Produktionsstrategie spielen werden?
Simulation und digitale Zwillingstechnologie haben Potenzial, aber ich glaube, wir müssen vorsichtig sein, wenn wir zu viel in die Technologie investieren, ohne die Vorteile vollständig zu verstehen und wir uns zu sehr auf theoretische Lösungen konzentrieren, anstatt auf praktische. Bevor digitale Zwillinge populär wurden, hatten wir zum Beispiel Mapping-Systeme, die dokumentieren konnten, wo sich jedes Hindernis in der Produktionsinfrastruktur befand. Aber die Produktion ist sehr dynamisch, und die Karten sind schnell veraltet, wenn sie nicht richtig gewartet werden. Und wenn es darum geht, eine neue Produktionslinie zu installieren, reißen Planer und Auftragnehmer oft alles ab und bauen es trotzdem neu auf. Simulationstechnologien bieten sicherlich nützliche Einblicke in den Produktionsfluss und in mögliche Bottlenecks, insbesondere bei Anlagen mit mehreren Plattformen und Unterschieden zwischen den Produkten. Der Nutzen dieser Technologien hängt jedoch stark von den Fähigkeiten der Ingenieure ab, die sie programmieren. Auch wenn digitale Mapping- und Simulationswerkzeuge nützlich sind, glaube ich, dass man den größten Nutzen daraus zieht, wenn man von Anfang an flexible Systeme entwirft, die sich an die Einführung neuer Produkte und Prozesse anpassen können. Zum anderen ist ein Fahrzeugwerk sicherlich das wichtigste, aber nur ein einzelnes Element eines ganzen automobilen Ökosystems. Die Produktionskette beginnt weit hinten in der Zulieferindustrie. Ich würde mir wünschen, dass der Einsatz von Digitalisierung und Datenanalyse das Werk, Zulieferer und ihre Vorlieferanten besser zusammenbringt, um Variablen und Einflüsse entlang der Wertschöpfungskette besser zu verstehen. Unsere Flexibilität ermöglicht es uns, auf geopolitische, ökologische, wirtschaftliche und andere Einflüsse zu reagieren, aber wir brauchen Frühwarnungen, um Hindernisse gemeinsam zu überwinden.
Wie schaffen Sie den Spagat zwischen einem höheren Automatisierungsgrad und dem Bedarf an Flexibilität in Ihrem Betrieb?
Da Chattanooga ein relativ neues Werk ist, verfügt es über einen höheren Automatisierungsgrad. Aber die Technologie muss auf intelligente Weise eingesetzt werden. Die Investitionen sind beträchtlich und für die Wartung und Programmierung der Anlagen werden hoch qualifizierte Mitarbeiter benötigt. Außerdem ist die Automatisierung von Natur aus weniger flexibel als manuelle Arbeit. Wenn Sie zum Beispiel eine kleine Änderung an der Art und Weise vornehmen müssen, wie ein Teil eingebaut wird, ist es viel schneller, dies einem menschlichen Bediener zu erklären, als einen Roboter umzuprogrammieren. Außerdem muss selbst die beste Technologie sorgfältig mit den Besonderheiten der jeweiligen Anwendung kombiniert werden. In Chattanooga haben wir zum Beispiel eine vollautomatische Cockpit-Installation. Sie funktioniert zwar gut, aber der Toleranzstapel von Fahrzeugabmessungen, Förderbändern, Unterbaugruppen und Linienbewegungen erschwert den Automatisierungsprozess. Deshalb haben wir fortschrittliche Steuerungssysteme entwickelt, um mit solchen Bedingungen umgehen zu können. Das ist nur ein Beispiel dafür, warum wir sorgfältig abwägen müssen, wo es sinnvoll ist zu automatisieren und wo manuelle Prozesse langfristig effizienter sein könnten.
Wie wirkt sich Ihrer Meinung nach die Expansion von Volkswagen in Nordamerika auf die Produktion aus, zum Beispiel das neue PowerCo-Batteriewerk in Kanada, die Expansion in Mexiko und andere Investitionen des Konzerns?
Volkswagen ist bestrebt, seine Aktivitäten zu regionalisieren, und Nordamerika bietet sich dafür an. Ich war schon immer ein starker Befürworter von Kollaboration, zumal ich den Wissensaustausch zwischen den VW-Werken 40 Jahre lang persönlich erlebt habe. Wir arbeiten bereits eng mit unseren mexikanischen Kollegen zusammen, die im Vergleich zu den 15 Jahren, die wir haben, über 60 Jahre Know-how und Erfahrung im Automobilbau verfügen. Diese Beziehung wird immer stärker. Wenn der Newcomer PowerCo seinen Betrieb aufnimmt, werden wir ihn sicherlich bei seinem Anlauf unterstützen. Als wichtiger Akteur in unserer künftigen Wertschöpfungskette wird sich der Erfolg von PowerCo direkt auf unsere Produktion auswirken. Diese Art des Austauschs kommt auch unseren Mitarbeitern, Ingenieuren und Planern zugute, da auch sie die Möglichkeit haben, gewissermaßen 'über den Zaun zu schauen', was zu ihrer Entwicklung und ihrem persönlichen Wachstum beiträgt. Ich glaube, dass diese Art der regionalen Zusammenarbeit ein Schlüsselfaktor für das nachhaltige Wachstum von Volkswagen in Nordamerika sein wird und den Weg für eine glänzende Zukunft unserer Kultmarke ebnet.
Dieser Artikel erschien ursprünglich bei unserem englischen Schwestermagazin automotive manufacturing solutions. Das englische Original finden Sie hier.