Prof. Frank Mantwill, HSU Hamburg

Frank Mantwill leitet den 12. Fachkongress Digitale Fabrik@Produktion am 15. und 16.11.16 in Köln. (Bild: SVV)

AUTOMOBIL PRODUKTION: Herr Mantwill, welchen Trend erkennen Sie in der Industrie bei der Auseinandersetzung mit dem Thema Digitale Fabrik?
Die Digitale Fabrik widmet sich in erster Linie dem Prozess der Fabrikplanung. Davon berührt sind aber einerseits auch die Produktionssysteme, die einen gewissen Bezug zur Planung haben. Andererseits geht es dabei auch um die Absicherung der Produktentwicklung. Wir haben auf dem letzten Fachkongress in mehreren Beiträgen gehört, dass sich die Digitale Fabrik genau in diesem Bereich entwickelt hat. Und seit gut eineinhalb Jahren beobachten wir, dass sich Mittelständer mit dem Thema ebenfalls vermehrt beschäftigen. Zudem muss sich die Digitale Fabrik zukünftig mit der Umsetzung von Industrie 4.0 befassen.

AUTOMOBIL PRODUKTION: Die Digitale Fabrik und Industrie 4.0 haben sicher Schnittmengen, aber eigentlich sind es dann doch zwei Welten. Was unterscheidet die beiden?
Die Digitale Fabrik meint rechnergestützte Planungsmethoden für den Produktionsprozess im Rahmen der Planung des Produktprozesses, während Industrie 4.0 konkrete Anwendungen im Bereich der Produktion verfolgt. In so fern werden wir uns auch rechtzeitig in der Digitalen Fabrik damit auseinandersetzen müssen, wie diese neuen Anwendungen in der Produktion mit Industrie 4.0 Perspektive geplant werden können.

AUTOMOBIL PRODUKTION: Was kommt da auf die Fabrikplaner zu?
Derzeit ist ja der Fabrik- und Fertigungsplanungsprozess determiniert. Das heißt, es existiert eine gezielte Zuordnung von Produkt, Prozess und Ressourcen. Das sind die drei wesentlichen Domänen, die in der Digitalen Fabrik zusammengeführt und aufeinander optimal abgestimmt werden.
Das Produkt ist der Gegenstand, der aus der Entwicklung kommt. Der Prozess verkörpert die Wertschöpfung, die stattfindet. Die Ressourcen sind Betriebsmittel. Wenn jetzt diese Betriebsmittel sozusagen eine eigene Intelligenz haben und beispielsweise mit dem Werkstück kommunizieren können, dann muss ich das ja planbar machen um festzulegen, worüber ein Austausch stattfinden soll und über welche Autonomie das Werkstück oder das Betriebsmittel oder der Prozess verfügen soll. Und diese Funktionalitäten werden zukünftig natürlich als Planungsfunktionalitäten notwendig sein und die müssen natürlich auch simuliert werden können, wie etwa sich selbst organisierende Materialflüsse oder der Einsatz von Robotern.
Wenn jetzt aber der Roboter nicht mehr programmiert, sondern nur noch mit gewissen Grundfunktionalitäten ausgestattet wird und er dann selber ereignisgesteuert entscheiden soll, was er macht, dann setzt das ganz andere Planungsfähigkeiten voraus ¬- und die haben wir heute noch gar nicht. Insofern würde ich sagen, die Industrie 4.0 wird Auswirkungen auf die Digitale Fabrik haben. Diese Anforderungen muss der Planungsvorgang, der dann erforderlich ist, abdecken können. Das trifft im Besonderen auch auf die virtuelle Inbetriebnahme zu, die mittlerweile einen Schwerpunkt darstellt.

AUTOMOBIL PRODUKTION: Das erzeugt eine ganze Hand voll Schnittstellenprobleme. Worum drehen sich derzeit die wichtigsten Diskussionen beim Thema Schnittstellenmanagement?
Während das Thema Produktdaten-Integration weitgehend abgeschlossen ist, wird die Etablierung von Automation ML als neutrales, XML-basiertes Datenformat und einheitliches Modell für die Anlagenplanung weiter vorangetrieben. 2013 beispielsweise hat Frank Jelich, Leiter IT Prozesse und Produktionsplanung bei der Volkswagen AG, auf dem Fachkongress Digitale Fabrik@Produktion spontan verkündet, dass VW sich auch mit in dieses Standardisierung-Gremium einbringt und Automation ML als Standard setzt. Automation ML ist sowohl auf der Planungsseite als natürlich auch auf der Inbetriebnahmeseite wichtig.
Ein weiteres wichtiges Thema ist OPC. Es wurde auf dem letztjährigen Kongress vorgestellt. Das Kürzel steht für „Object linking and embedding for Process Control“. Dahinter steckt ein Datenformat für die Automatisierungstechnik, basierend auf dem Betriebssystem Windows. Mit der OPC Unified Architecture (OPC-UA) können inzwischen Maschinendaten nicht nur übertragen, sondern auch semantisch von Maschinen verarbeitet werden. Mit Blick auf Industrie 4.0 ist dies von großer Bedeutung. Diskussionen bringen natürlich auch das Speichern von Daten und Applikationen über Cloudservices mit sich.

AUTOMOBIL PRODUKTION: Das Stichwort Cloud führt unmittelbar zum Thema IT-Sicherheit. Gibt es da neue Erkenntnisse?
Im Ingenieurwesen gibt es das Grundverständnis, dass es keine hundertprozentige Sicherheit gibt. In dem Zusammenhang ist Ihre Frage eigentlich beantwortet. Aber auf diesen Zustand hin zu entwickeln und Lösungen bereit zu stellen, ist essenziell. Ich sehe die große Herausforderung darin, in der Verschlüsselungstechnik ein Maß zu finden, das die Produktivität sicherstellt und vom Aufwand her finanzierbar ist. IT-Sicherheit ist sozusagen die Achillesferse der Industrie 4.0. Es gibt Stimmen, die sagen: “Wenn da keine hinreichende Sicherheit angeboten werden kann, ist das Thema tot.“

AUTOMOBIL PRODUKTION: Wie lässt sich ein Höchstmaß an IT-Sicherheit praktisch erreichen?
Cloud-Services, wie Amazon, setzen sich genau mit dieser Problematik professionell auseinander und können deshalb in der Sicherheitstechnik ganz vorne mit dabei sein. Weiterentwicklung der Techniken, ordentliche Aufklärung und eine angemessene Risikobewertung sind von Nöten.

AUTOMOBIL PRODUKTION: Wenn man beim Thema Digitale Fabrik den Fokus auf die Automobilindustrie richtet: Wen sehen Sie da in Führung liegen?
Die OEMs sind allesamt vorne mit dabei. Die Mittelständer fangen jetzt an mit der Digitalen Fabrik und müssen sozusagen erst mal aufschließen zu dem, was die OEMs machen – aber in einer angepassten Art und Weise. Und die Automobilbauer ihrerseits müssen jetzt erst mal die Funktionalitäten in Industrie 4.0 einsetzen und als Standardprozess etablieren, um dann einen zweiten Schritt zu machen in Richtung der Befähigung von Werkzeugen der Digitalen Fabrik. Das wird aus meiner Sicht nicht parallel laufen, sondern nacheinander. Aufgrund der Wettbewerbssituation werden alle OEMs weiter nach Potentialen aus der Digitalen Fabrik streben. Dem wird sich auch der Mittelstand nicht verschließen können.

AUTOMOBIL PRODUKTION: Was sind die größten Hürden die Mittelständler nehmen müssen, um auch beim Thema Digitale Fabrik weiterzukommen?
Sie müssen zweigleisig fahren und einerseits Ressourcen qualifizieren und Fachkompetenz aufbauen im Unternehmen und andererseits ihren Produkt-Entstehungsprozess an die digitalen Anforderungen anpassen. Die Kosten-Nutzen-Relation muss transparent und unternehmerisch maßvoll entschieden werden.
Als ich 1999 bei Audi die Digitale Fabrik mit eingeführt habe, wurde der Aufwand für das Etablieren der Tools und der digitalen Planungsprozesse innerhalb des Unternehmens mit dem Wegfall einiger physischer Erprobungsfahrzeuge verrechnet. Das ist relativ einfach, denn mit jedem Baustufenfahrzeug weniger konnte etwa eine Million für die digitale Planung begründet werden.
Mittelständler müssen auch kritisch prüfen, ob und welche Planungstätigkeiten sie heute in Eigenregie durchführen wollen oder als Teil eines Verbunds von Zulieferern einbringen können. OEMs brauchen Zulieferer die fähig sind, diese Panungstools anzuwenden. Dadurch ist der Markt entstanden, aus denen sich auch die Mittelständler bedienen können.

AUTOMOBIL PRODUKTION: Welche Rolle spielen an dieser Stelle Engineering-Dienstleister?
Alle Engineering-Dienstleister, die heute im automobilen Umfeld tätig sind, können Produktdaten und Planungsdaten handhaben und den Anforderungen der Digitalen Fabrik grundsätzlich gerecht werden.
Aber, wie gesagt, ein Mittelständler muss sich seinen eigenen Umsetzungsprozess selbst anschauen und aus meiner Sicht ist er gut beraten, wenn er dort einerseits strategisch denkt und andererseits gleich vom ersten Projekt an mit den neuen Planungsprozessen und den Tools der Digitalen Fabrik Einsparungen erzielen kann und eine Refinanzierung des Aufwands hinbekommt. Das ist aber nichts neues. Je kleiner der Mittelständler, desto schneller muss sich der Aufwand rechnen. Dienstleister können hier eine alternative Kalkulation ermöglichen.

AUTOMOBIL PRODUKTION: Es gibt den schönen Satz: Mit einem Klick zum digitalen Fabrik-Anlauf. Wie nah sind wir da heute bereits dran?
Das ist eine gute Frage. Mit einem Klick ist es nicht gemacht. Was wir heute im Bereich der digitalen Fabrik haben, ist, dass wir die Prozesse allesamt beschreiben, simulieren und absichern können. Die Planer und Engineering-Dienstleister sind routiniert in der Anwendung. Bibliotheken reduzieren den Aufwand zur Erstellung und heben die Qualität der Planungsergebnisse. Für die weitere Integration hin zum Gesamtfabrikmodell oder zum durchgängigen Planungs- und Realisierungsprozess fehlen vor allem noch leistungsfähige Prozessmodelle und Schnittstellen.
Da spielt beispielsweise Automation ML eine ganz wichtige Rolle. Vor drei oder vier Jahren haben wir die ersten Ansätze gesehen, da gab es noch so gebastelte Modelle und Schnittstellenlösungen zwischen WinMOD und der Steuerung. Mittlerweile verfügen wir über Bibliotheken, die das Verhaltensmodell der Komponenten mit berücksichtigen und Schnittstellen, die das noch übertragen können. Das heisst, dass wenn wir in einem Hallen-Layout die Betriebsmittel und die Prozesse in der Abfolge beschrieben haben, dass wir dann auch schon quasi fast auf Knopfdruck die Steuerungsdaten abgesichert daraus erstellen können. Also: wir sind auf den Weg zum Knopfdruck.

Das Interview führte Christian Klein

Vorschau: Der nächste Fachkongress Digitale Fabrik@Produktion findet statt am 15. und 16. November 2016 in Köln
statt. Kontakt: franziska.blume@sv-veranstaltungen.de

Zur Person
Frank Mantwill studierte Maschinenbau/Konstruktionstechnik an der RWTH Aachen. An der TU Hamburg-Harburg wurde er auf dem Gebiet der Wissensverarbeitung in der Konstruktion promoviert. Erste Berufserfahrungen sammelte er bei SCHÜCO International KG in Bielefeld. In der Vorentwicklung war er verantwortlich für wegweisenden Produktentwicklungen. Erfolgreiche Prozessoptimierungen erweiterten den Verantwortungsbereich um das Projektmanagement.
Durch seinen Wechsel in die Fertigungsplanung der AUDI AG in Ingolstadt und später in Neckarsulm erweiterte Mantwill sein Wissensspektrum um Inhalte und Abläufe in der Fertigungsplanung im Automobilbau. Schwerpunkte der Aufgaben umfassten die Planung von Fabrikstandorten, Karosseriebauanlagen, Presswerkzeugen, die Standardisierung von Betriebsmitteln und die Umsetzung der Digitalen Fabrik.
Seit 2004 lehrt Professor Mantwill an der Helmut-Schmidt-Universität und forscht auf dem Gebiet der Rechnergestützten Produktentwicklung. Mantwill leitet den jährlichen Kongress Digitale Fabrik@Produktion.

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