Der ID.7 auf den letzen Metern der Montage

Der VW ID.7 soll die Basis für eine erfolgreiche Zukunft des Emder Werks bilden. (Bild: Volkswagen/Marc Sluiter)

Mirko Bührmanns Auftrag ist übersichtlich und erscheint einfach. Auf seinem Einkaufszettel hat sich der Ostfriese lediglich drei Dinge notiert. Nutella, in zweifacher Ausführung, Mett, direkt fünffach und Hartkäse, ebenfalls fünf Stück. Der „Supermarkt" ist Bührmanns berufliches zu Hause. Hier koordiniert er die Kleinteile-Bestellungen. Und anders als die gängigen Lebensmittelnamen den Anschein erwecken, ist das Koordinieren dieser alles andere als einfach, ebenso wenig wie es Bührmanns Job in Wirklichkeit ist. Denn Nutella, Hartkäse und Mett stehen beispielhaft für lange Zahlencodes, welche die Logistikmitarbeiter zum richtigen Regal lotsen sollen. Bührmann ist bestrebt durch das Supermarkt-Prinzip im Emder VW-Werk für mehr Effizienz zu sorgen. Zurzeit tüftelt er daran, sämtliche Einkaufszettel in Papierform aus dem Werk zu verbannen. Der papierlose Supermarkt ist nur ein kleines Beispiel, wie man in Emden versucht, die Werkslogistik immer weiter zu optimieren. Bührmanns Chef, Logistikleiter Sebsatian Schmickartz, zeigt sichtlich stolz, was sich im Emder VW-Werk zuletzt alles getan hat.

In der öffentlichen Wahrnehmung ist Emden zuletzt vor allem durch eine stehende Produktion in die Schlagzeilen geraten. Als wären die Nachfrage bedingten Stopps nicht schon schlimm genug, zwangen Anfang des Jahres auch noch die ostfriesischen Landwirte Werkleiter Uwe Schwartz dazu, die Produktion zu unterbrechen. Doch seit einigen Monaten laufen die Autos wieder regulär vom Band. Nicht mehr unter ihnen ist seit März der Passat. Einer der großen VW-Klassiker prägte den Standort über Jahrzehnte. „Einige Mitarbeiter haben wahrscheinlich ein Leben lang mit dem Passat gearbeitet. Dementsprechend emotional war der Abschied für manch einen Beschäftigten", gibt Schwartz im Interview mit Automobil Produktion zu. Doch die Zukunft ist elektrisch und das macht sich insbesondere im Emden bemerkbar. Aktuell werden hier der ID.4 sowie der ID.7 und der ID.7 Tourer gebaut. Der Arteon Shooting Break ist das letzte Überbleibsel der Verbrenner-Modelle. Doch auch seine Tage sind gezählt – ein leises Auslaufen der Kleinserie der Plan.

Werkslogistik wurde einmal auf links gedreht

Zurück zu Schmickartz. Der schlanke Zwei-Meter-Mann zeigt das neue Hochregallager, welches zwischen Juni 2021 und März 2023 für 42 Millionen Euro entstand.  Der Wareneingang befindet sich in Halle 9. Das Lager bietet eine Kapazität für 16.000 Groß- und 70.000 Kleinladungsträger. Besonders stolz ist Schmickartz auf die vollautomatische Ein- und Auslagerung, die eine effiziente und schnelle Bearbeitung der Waren ermöglicht. Auch die automatische Depalettierung und die automatischen Routenzugbahnhöfe tragen zur hohen Effizienz bei. Der wohl größte Vorteil des neuen Hochregallagers dürfte jedoch die Auflösung externer Lagerflächen sein. Durch die Zentralisierung der Lagerkapazitäten konnte VW die täglichen Lkw-Touren um 74 Fahrten reduzieren. Dies führe nicht nur zu erheblichen Kosteneinsparungen, sondern auch zu einer Reduzierung des CO2-Ausstoßes um 123 Tonnen pro Jahr. Rund 16 Millionen Euro erwartet VW an Einsparungen dadurch jährlich.

Einblicke ins VW-Werk Emden | Sebastian Schmickartz zeigt seine Logistik-Welt
Sebastian Schmickartz gibt Einblicke in die Emder Werkslogistik. (Bild: Volkswagen/Marc Sluiter)

Eigenes Schienennetz bringt Teile von Ost nach West

Um nicht mehr von der Deutschen Bahn abhängig zu sein, schloss VW einen Vertrag mit der Firma Smartrail, die ihrerseits exklusives Recht an bestimmten Bahnstrecken besitzt. Vom Volumenschwerpunkt rund um Dresden fahren fünf Züge somit unabhängig von Ostdeutschland in den Nordwesten der Republik. Allein dadurch konnte das Unternehmen seit 2018 rund 26 Millionen Lkw-Kilometer sparen. Darüber hinaus gibt es einen eigenen Traileryard mit 540 Metern an Gleisen, der eine Reichweite von zwei Tagen abdeckt.

Die Transformation des Werks Emden in Zahlen

Für die Transformation zur MEB-Fertigung investierte Volkswagen in Emden rund 1,3 Milliarden Euro. Der Bau der neuen Montagehalle dauerte 14 Monate, im Dezember 2021 lief das erste MEB-Fahrzeug vom Band. Der neue Finish-Bereich wurde im Februar 2022 fertiggestellt. Zwischen März 2020 und März 2021 entstand der neue Karosseriebau und die Erweiterung der Lackiererei vollzog sich zwischen Juli 2020 und September 2021. Bis 2030 soll das Werk Emden null Tonnen CO2 pro Jahr ausstoßen, aktuell sind es noch 200.000 Tonnen pro Jahr. Den Energiebedarf möchte VW bis dahin von 472 auf 420 Gigawattstunden reduzieren. Die dafür benötigte Energie soll aus verschiedenen Quellen kommen, darunter:

 

  • PV-Anlage (75 Megawatt)
  • Biogas/Wasserstoff (105 Megawatt)
  • Biomasse (35 Megawatt)
  • Windkraft (55 Megwatt)
  • Strommix aus dem VW-Kraftwerk
  • Batteriespeicher

Montage besticht durch Lichtkonzept und Ergonomie

Beim Gang durch die Montage fällt vor allem auf, wie neu und hell diese gestaltet ist. Klassische Fördertechnik aus Metall, die dunkle und laute Umgebungen schuf, wurde ersetzt. Jetzt dringt Tageslicht in die Räume, und in der Türenvormontage gibt es ein spezielles Human Centric Light, das sich an die Tageshelligkeit anpasst. Dies soll den Schichtrhythmus für die Mitarbeiter angenehmer gestalten. Die lautesten Geräusch verursachen hier fast die Transportfahrzeuge.

Auch die Gehängetechnik im Werk ist bemerkenswert. Während anderswo oft feste C-Gehänge verwendet werden, die über Schienen geführt werden, sind hier die Gehänge in der Höhe verstellbar, was ein ergonomisches Arbeiten ermöglicht. Die Karosserien können je nach Bedarf höher oder tiefer positioniert werden. Das System erkennt automatisch die benötigte Arbeitshöhe und passt die Gehänge entsprechend an. Jedes Gehänge ist mit einem Transponder versehen, der mit der Hallensteuerung kommuniziert, um eine optimale Anpassung zu gewährleisten.

So läuft die Hochzeit im Emder Werk ab

Relativ mittig innerhalb der Montage-Halle findet die Hochzeit statt. Ähnlich wie in der Gesellschaft ist diese auch bei Autos schon längst nicht mehr auf Mann und Frau beziehungsweise Karosse und Verbrennungsmotor beschränkt. In diesem Fall wird die Karosserie abgesetzt und kommt langsam auf das Niveau herab, wo sie mit der Batterie verschraubt wird. Dann wird die Karosserie von unten gegen das Fahrwerk gedrückt und fixiert, bevor sie zur Verschraubungsstation weitergeleitet wird. Die dafür verwendeten Chassis-Schrauben werden über weiße Schläuche per Druckluft zugeführt. Darunter sind Roboter im Einsatz, die die Schrauben anziehen. Die gesamte Hochzeit ist voll elektronisch und automatisiert, abgestimmt auf Fahrwerk und Rahmen. Je nach Modell, beispielsweise bei einem GTX mit Allradantrieb, variiert der Fahrwerksrahmen. Die Anlage erkennt die Unterschiede und passt sich automatisch an. Aktuell liegt die Produktionsrate bei etwa zwei ID.7 und einem ID.4 im Wechsel. Dabei muss sich die Anlage kontinuierlich anpassen, um verschiedene Drehmomente im Minutentakt zu liefern. Zur Absicherung befindet sich im hinteren Bereich eine Bühne, von der aus ein Anlagenfahrer bei Problemen eingreifen kann.

Einblicke ins VW-Werk Emden | die Batterie
Die MEB-Plattform ist die Basis der ID.-Modelle. (Bild: Volkswagen/Marc Sluiter)

Manuelles Stecken für einwandfreie Fahrzeuge

Der Kabelbaum für den Motorraum wird durch die Stirnwand gesteckt und im Innenraum verbunden, einschließlich der Batteriekonsole und der Sicherungen. Die Mitarbeiter müssen verschiedene Stecker anbringen, wobei es wichtig ist, dass alles richtig sitzt und ein hörbares Klick-Geräusch erzeugt. Diese Rückkopplung ist entscheidend, um sicherzustellen, dass die Verbindungen korrekt sind.

„Alles muss sauber verclipst werden, besonders die Hochvoltverbindungen mit Doppelsicherungen. Das macht die Arbeit für die Mitarbeiter aufwendiger, aber auch sicherer, weil man nach der Montage nicht mehr an diese Teile herankommt", erklärt Fertigungsleiter Georg Müller. Die Werkerdichte in der Montage ist hoch. Pro Takt sind etwa zwei bis drei Personen beschäftigt, die viele Aufgaben noch manuell erledigen, obwohl es auch automatische Schraubstationen gibt.

Die elektrische Inbetriebnahme erfolgt an drei Stationen in der Halle. Hier wird überprüft, ob jedes Kabel seinen jeweiligen Verbraucher erreicht. Falls ein Fehler entdeckt wird, muss das Problem behoben werden, bevor das Fahrzeug weiter zusammengebaut wird. Auf diese Weise stellen Müller und sein Team sicher, dass jedes Fahrzeug in einwandfreiem Zustand ist.

Einblicke ins VW-Werk Emden | Georg Müller erklärt etwas
Fertigungsleiter Georg Müller führt durch die Montage. (Bild: Volkswagen/Marc Sluiter)

Automatische Kalibrierung der Head-up-Displays

Ein besonderes Merkmal in der Produktionslinie ist der riesige Manipulator, der nicht für das Cockpit, sondern für die Kalibrierung des Head-Up-Displays verwendet wird. Dieser fährt in das Fahrzeug, nachdem das Cockpit bereits eingebaut wurde. Beim ID.4 und ID.7 ist ein echtes Head-Up-Display vorhanden, das Navigationshinweise und andere Informationen auf die Fahrzeugscheibe projiziert. Um ein scharfes und korrektes Bild zu gewährleisten, muss das Display kalibriert werden, da es sonst zu Abweichungen kommen kann. Dabei fährt das Kalibrierungssystem in das Fahrzeug und justiert das Head-Up-Display. Weil dieser Vorgang etwa drei Minuten pro Fahrzeug dauert, wird ein spezieller Platz dafür freigehalten. Während dieser Zeit darf kein Mitarbeiter im Weg stehen, um den reibungslosen Ablauf der Kalibrierung zu gewährleisten.

Ein Meister verantwortet bis zu 36 Mitarbeiter

Am Ende einer jeden Linie befindet sich das Kontrollhäuschen – Heimat des Meisters. Dieser hat zwei bis drei Teams unter seinen Fittichen, welche aus zehn bis zwölf Personen bestehen. Obwohl es hin und wieder Personalwechsel gibt, beispielsweise durch Umstellungen oder Abgänge in Altersteilzeit, bleiben die Mitarbeiter normalerweise eine Zeit lang an derselben Stelle, um qualifiziertes Personal zu gewährleisten, das die Arbeitsprozesse sicher beherrscht.

Innerhalb der Teams sorgt ein Rotationsplan dafür, dass die Mitarbeiter alle zwei Stunden wechseln, um die Ergonomie zu unterstützen. Einige Arbeitsplätze erfordern mehr körperliche Anstrengung, wie das Beugen, während andere, wie der Einsatz im sogenannten Ergositz, weniger anstrengend sind.

Anzeigetafel Werk Emden VW
Wie schnell die Anzeige künftig weiterläuft, hängt nun vom Interesse am ID.4 und ID.7 ab.

„Die Sicherung von Arbeitsplätzen in Deutschland treibt mich an. Hier in Emden wollen wir zeigen, dass man einen wettbewerbsfähigen Fertigungsstandort gestalten kann", gibt sich Schwartz kämpferisch. Am Ende der Führung durch das Emder VW-Werk fällt der Blick wie schon beim Eintritt auf eine digitale Anzeige. „12.647.282“ steht dort. Die Zahl beschreibt die Anzahl der bislang am Standort gebauten Autos. Die Tafel dürfte bei den Mitarbeitern gemischte Gefühle hervorrufen. Zum berechtigtem Stolz über das bislang Erreichte dürfte sich Wehmut mischen – über den noch nicht allzu lang zurückliegenden Abgang des Passats, der für den Löwenanteil der rund zwölfeinhalb Millionen Modelle verantwortlich ist. Welche Gefühle noch dazukommen, dürfte ganz davon abhängen, wie gut es Werkleiter Uwe Schwartz und sein Team schaffen, die Belegschaft auf die elektrische ID-Zukunft einzustimmen. Zwischen Vorfreude, Zuversicht, Sorge und Angst erscheint derzeit alles möglich.

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