Es nimmt und nimmt einfach kein Ende. Immer wieder erscheint einem die nächste Wendung und die Schritte werden langsamer und schwerer. Längst wurde das Zählen des Erreichten eingestellt, der berühmte Tunnelblick hat das Gesicht vereinnahmt. Doch als dann endlich die Tür zur Außenwelt aufgeht, erstreckt sich eine grüne Wiese mitten in der Millionenmetropole. Die letzten Schritte sind flach und angekommen am Rand des Dachs der Lackiererei erblickt das Auge unter sich das genaue Gegenteil von idyllischer Natur. Unzählige Maschinen, Bagger, Kräne, Betonmischer, Abrissbirnen und Arbeiter, die von hier oben aussehen wie Ameisen, tummeln sich auf zigtausenden Quadratmetern Baustelle. Direkt daneben werden unbeirrt rund 1.000 Fahrzeuge pro Tag produziert als wäre es das Normalste der Welt. Doch das, was sich zurzeit auf dem Gelände des Münchner BMW-Stammwerks abspielt, ist in vielerlei Hinsicht außergewöhnlich.
Kein Standort der BMW Group steht mehr für stetigen Wandel als das Stammwerk München. In seiner hundertjährigen Geschichte wurde es zum exemplarischen Beispiel für zukunftsfähige Veränderungen auf engstem Raum. Auf nur einem Kilometer Länge und 500 Metern Breite erstreckt sich das Werk im Norden der Isar-Metropole. Produziert wird dank Hochbau auf 400.000 Quadratmetern.
Das BMW-Werk München in Zahlen
Die Arbeit unterteilt sich aktuell von Montag bis Samstag in zwei Schichten, innerhalb derer die Pausen mit entsprechendem Zusatzpersonal potenziell durchgefahren werden können. Pro Tag werden rund 1000 Fahrzeuge gebaut, was 2023 einem Jahresvolumen von 217.480 Einheiten entsprach. Je nach Marktnachfrage kann das Volumen um 20 Prozent nach oben oder unten schwanken. Mit rund 93.000 BMW i4 betrug der Anteil der vollelektrischen Modelle 2023 mehr als 40 Prozent. Daneben wird die 3er Limousine und der 3er Touring mit Verbrennungsmotor und als Plug-in Hybrid, das Gran Coupé mit Verbrennungsmotor und der M3 als Limousine und als Touring gefertigt. Das alles geschieht auf ein und derselben Produktionslinie. Im Stammwerk arbeiten knapp 7000 Menschen aus über 50 Nationen.
Wie weit ist BMW mit dem Umbau des Werks München?
Was die großen strukturellen Veränderungen im Münchner Werk bedeuten, wird am besten aus der Vogelperspektive klar. Zunächst wurden 15 Verlagerungsprojekte durchgeführt, um Baufelder freizumachen. Die alte Lackiererei wurde abgerissen. An dieser Stelle entsteht nun der neue Karosseriebau mit entsprechender Logistikstruktur. Beim Blick auf die Baustelle, sieht man noch die letzten Überreste des Motorenbaus, der ebenfalls abgerissen wird. Auf dem Areal entsteht die neue Montage- und Logistikstruktur, die sich über drei Gebäude erstrecken wird. Alles geschieht parallel zur laufenden Produktion. Dabei ist eine der größten Herausforderungen die Sicherstellung einer reibungslosen Logistik im Werk. Pro Tag fahren 700 bis 800 LKWs ins Werk, um die Produktion mit Bauteilen zu versorgen. Damit das alles überhaupt gelingen kann, haben die Planer alles virtuell simuliert, um sicherzustellen, dass alle Material- und Personenströme im Werk reibungslos funktionieren.
Tagesgenaue Planung ist dem Werkleiter heilig
Bob der Baumeister trägt im echten Leben den Namen Peter. Peter der Planer sitzt in einem Großraumbüro. Nur in einem rund 15 Quadratmeter kleinen, gläsernen Nebenraum hat Werksleiter Peter Weber eine bescheidene Möglichkeit, sich zurückzuziehen. Die Wände des Zimmers sind zugekleistert mit bis zur Unkenntlichkeit durchgeplanten Tabellen, die Weber dabei helfen, nicht den Überblick zu verlieren. Damit in München nicht das passiert, was im Straßenbild Alltag ist – nämlich die endlose Verzögerung von Baustellenprojekten – entwarfen Weber und sein Team einen Plan auf Tagesbasis. Geht dieser auf, soll der neue Karosseriebau bis Ende 2024 fertiggestellt werden.
Neu sind die Herausforderungen bei Umbau- und Installationsmaßnahmen jedoch nicht. Das verdeutlichen die bereits abgeschlossenen Umbauten und Produktionsanläufe sowie die Geschichte der Produktionsstätte. Erst 2017 hatte BMW eine neue Lackiererei fertiggestellt, in die über 200 Millionen Euro investiert wurden. Sie setzte mit ihrer Trockenabscheidung nicht nur konzernweite Maßstäbe im Bereich Nachhaltigkeit, auch die vollautomatisierte Qualitätskontrolle wurde mit ihr pilotiert.
Die Geschichte des BMW-Werks München
Auch in ferner Vergangenheit waren Veränderungen stets Teil der Werks-DNA: Während sich 1922 rundherum noch weite Felder erstreckten, bettete sich das Werksgelände östlich des heutigen Olympiaparks mit den Jahren in die entstehenden Wohngebiete ein. Der Spielraum für Erweiterungen schwand. Und auch die Ausrichtung änderte sich in bedeutender Weise: Ursprünglich für Flugzeugmotoren und Motorräder bekannt, rollte erst 1952 das erste Automobil vom Band.
Das Werk wurde zur Wiege ikonischer Modelle, wie der Isetta, die 1955 die rückläufige Motorradproduktion kompensierte, des BMW 1500, der 1962 den Siegeszug der Neuen Klasse einläutete oder des 3ers, der nach seinem Anlauf 1975 zum erfolgreichsten Modell des OEMs wurde. Seit dem Einzug des neuen BMW M3 im Jahr 2020 ist die 3er-Familie gar komplett in München angesiedelt – Limousine oder Touring, Hybrid, Benziner oder Diesel.
Nachdem sich zunächst die Plug-in-Hybride zu den klassischen Verbrennern gesellten, werden aktuell fünf unterschiedliche Modelle mit sämtlichen Antriebsvarianten auf einer Linie gefertigt. Als Vorreiter im Bereich Elektromobilität fungierte der BMW i4. „Binnen drei Jahren haben wir uns von einem reinen Verbrennerwerk über den Hybrid zum vollelektrischen i4 entwickelt”, erklärte Weber anlässlich des Produktionsstarts des E-Modells im Jahr 2021.
Smart Factory wird für BMW zur Notwendigkeit
Dass die angestrebten Produktionsziele nur durch Optimierung und Automatisierung der Fertigungsabläufe erreicht werden können, wurde BMW bereits 1986 klar. Trotz diverser Auslagerungen, wie der Forschung und Entwicklung ins FIZ, zwang die urbane Lage zur effizienten Nutzung des rarsten Gutes – dem Platz. Ein Umstand, der heutzutage in der Vision der iFactory mündet und das Werk zum Paradebeispiel für deren Nutzen macht. Schließlich laufen derzeit rund 1000 Fahrzeuge täglich vom Band.
Nur weil es sich um ein Brownfield-Werk handelt, ist die Geschichte des Stammwerks somit längst nicht auserzählt. „In München liegen unsere Wurzeln. Dieses Werk ist Herkunft. Und zugleich Zukunft“, sagt Produktionsvorstand Milan Nedeljković. Lean, green und digital laute die Devise. Technologien und Wertströme sollen unter diesen Gesichtspunkten in jeglicher Weise optimiert werden, berichtet auch Weber.
Dafür setzen die Münchener vor allem auf Künstliche Intelligenz, Virtualisierung sowie Datenanalyse und -bereitstellung. Über 300 digitale Prozesstafeln helfen den Vorarbeitern bei ihren täglichen Ritualen. Smart Maintenance überwacht die Anlagen und unterstützt bei Wartungen. Oberflächen von Karosserien werden mittels KI untersucht. Die Anwendungsgebiete für neue Technologien sind mannigfaltig.
BMW stellt Meister und Vorarbeiter ins Zentrum
Letztlich hängt jedoch jeglicher Erfolg noch immer vom Faktor Mensch ab. Und dass derart gravierende Veränderungen bei der Belegschaft Sorgen und Ängste auslösen können, bedarf keiner weiteren Erklärung. Deshalb trainiert BMW seine Mitarbeiter jetzt schon für die zukünftigen Arbeitsplätze, damit jeder genau weiß, was er lernen muss, um seinen Job auch in Zukunft machen zu können. Mitarbeiter, die in ungarischen Greenfield-Werk in Debrecen künftig die Neue Klasse bauen, werden in München, Leipzig, Regensburg und Dingolfing ausgebildet. Darüber hinaus gibt es sogenannte Technologie-Center of Competence. Schon jetzt ist klar, welche Prozesse erstmalig in Debrecen aufgebaut werden und später nach München kommen. Die Münchner Mitarbeiter ihrerseits sind in Debrecen vor Ort, um diese Prozesse aufzubauen und zu optimieren.
Im Zentrum sollen Weber zufolge stets Meister und Vorarbeiter stehen. Sich zu fragen, welche Unterstützung sie von der Planung, der Instandhaltung und den Prozessspezialisten benötigen, treibt den Werkleiter um. Persönliche Anerkennung und Dankbarkeit sind für ihn die effektivsten Werkzeuge, um die Motivation hochzuhalten. Und ab und an dürfte sich auch mal ein Anstieg aufs Dach der Lackiererei lohnen. Beim Blick auf die nimmermüden Arbeiter auf der Baustelle, dürfte sich schnell Demut einstellen. Vorarbeiter Mentor Gashi beschreibt seine Gefühle wie folgt: „München ist das Headquarter. Es ist ein gutes Gefühl zu wissen, dass BMW weltweit vertreten ist, aber in München seinen Ursprung hat. Hier zu arbeiten, gibt mir ein Gefühl von Stolz.“