Maritimes Flair direkt um die Ecke, eine pulsierende Großstadt unweit entfernt, die 28 Grad Außentemperatur sind durch eine angenehme Brise gut auszuhalten. Die Rahmenbedingungen könnten besser nicht sein und auch das Geschäft läuft wie geschmiert. Unweit der portugiesischen Hauptstadt, etwa eine halbe Autostunde südlich Lissabons, baut Volkswagen einen seiner immer weniger werdenden Verkaufsschlager – den T-Roc.
Im Werk Palmela, so scheint es, ist die Welt noch in Ordnung. Genau eine Woche vor dem VW-Beben führt Werkleiter Thomas Hegel Gunther höchstselbst durch die heiligen Hallen von Volkswagen Autoeuropa. An diesem sonnigen Dienstag sind es noch rund drei Monate bis zum Automotive Lean Production Kongress, dessen Gastgeber Hegel Gunther sein wird. Im letzten Jahr wurde sein Werk mit dem prestigeträchtigen Automotive Lean Production Award ausgezeichnet.
Vorbereitungen auf den T-Roc Nachfolger laufen
Das Autoeuropa-Werk in Palmela ist bereits 1991 aus einem Joint Venture zwischen Volkswagen und Ford entstanden. Mittlerweile besitzt Volkswagen jedoch seit rund 25 Jahren 100 Prozent der Anteile. Knapp 5.000 Mitarbeiter arbeiten im portugiesischen Werk, das seit 2017 den T-Roc anfertigt – rund 955 Einheiten täglich. Mit über 230.000 produzierten Fahrzeugen pro Jahr, vorwiegend für den Export, leistet Volkswagen Autoeuropa damit einen wichtigen Beitrag zum nationalen Warenexport und Bruttoinlandsprodukt. Allein 2022 verzeichnete Autoeuropa einen Umsatz von rund 3,6 Milliarden Euro.
Aktuell bereitet man sich in Portugal aktiv auf den T-Roc Nachfolger vor, dem der OEM signifikante Investitionen widmet. Dabei ist das Werk bereits frühzeitig in die Phase Design to Build eingebunden: Digital wurde das Fahrzeug dem Werk bereits übergeben, um die Montierbarkeit zu prüfen. Mit Hilfe von Virtual Reality lassen sich mögliche Montageprobleme durch praxiserfahrene Mitarbeiter identifizieren. Darauf aufbauend werden die kritischen Teile durch 3D-Druck in Haus gebaut, um die Montagefähigkeit endgültig zu verifizieren.
Eigener 3D-Druck für Ersatzteile
Bevor es ins Presswerk geht, zeigt Hegel Gunther den werkseigenen 3D-Druck-Bereich. Es gehört zur DNA in Palmela, das defekte Einzelteile möglichst in Eigenregie ersetzt werden sollen. In einem jahrzehntealten Presswerk kommt es nicht selten vor, dass Einzelteile den Geist aufgeben. Und so tüfteln die Mitarbeiter hier an Ersatzteilen aus dem 3D-Drucker, die neben dem Kostenvorteil auch noch massive Gewichtsreduzierungen mit sich bringen.
Pressen, was das Zeug hält
Palmela stellt mit dem T-Roc zwar "nur" ein Modell her, ist aber auch ein wichtiger Bestandteil des Produktionsverbundes der Komponenten, da das Presswerk 80 Prozent seiner Teile für andere Werke und Marken des Volkswagen-Konzerns herstellt. „Wir beliefern insgesamt 31 Kunden mit Teilen für 36 verschiedene Modelle. Zurzeit investieren wir in eine neue Presse, die im nächsten Jahr in Betrieb genommen wird und uns eine noch höhere Produktivität ermöglicht", so Hegel Gunther. Drei Schneidelinien und sechs Pressen verarbeiten die täglich etwa 600 Tonnen Stahl . Die größte Presse, die im Tandem arbeitet, hat sechs Pressenstationen. Manche Teile, wie Türen, werden gleichzeitig in mehreren Varianten produziert. Darüber hinaus verfügt Volkswagen Autoeuropa über einen Werkzeugbau, in dem Presswerkzeuge für diverse Fahrzeuge des Volkswagen Konzerns hergestellt werden.
Gleichzeitig hat sich das Autoeuropa-Werk mit dem Ziel die eigene Produktivität zu steigern zum Vorreiter der Volkswagen-Gruppe in Sachen Lean Production entwickelt. Getrieben vom Vorhaben, die schlankste und produktivste Fabrik im VW-Konzern zu sein, folgt man dort der Drive The Future-Strategie, die sich in erster Linie auf Wettbewerbsfähigkeit und die Vorbereitung auf die Zukunft der batterieelektrischen Fahrzeuge konzentriert. Auch die Digitalisierung spielt für diese Transformation eine zentrale Rolle.
Die Automatisierungsquote beträgt 90 Prozent
Am Ende jeder Linie wird das Auto auf alle funktionalen Dimensionen gemessen, die für ein gutes Endergebnis in der letzten Montage benötigt werden. „So können wir reagieren, bevor es zu größeren Problemen kommt. Und wir messen 100 Prozent der Fahrzeuge“, so Hegel Gunther.
Die Bildschirme im Werk zeigen online die Daten der aktuellen Arbeit, damit die Operatoren Maße und Details im Blick haben und nötige Korrekturen direkt vornehmen können. In der Endlinie wird das Fahrzeug erneut geprüft, um sicherzustellen, dass alles den Vorgaben entspricht. Der Automatisierungsgrad der 940 Robotern beträgt zum Zeitpunkt der Tour 90 Prozent. „Wir haben uns entschieden, eine systematische Optimierung durchzuführen, um den gesamten Fertigungsprozess effizienter zu gestalten. Früher war die Lackiererei unser Engpass. Durch ganzheitliche Betrachtung der Fertigungsprozesse sowie durch bessere Synchronisierung der Prozesse konnten wir den Fluss in der Fabrik signifikant verbessern", so Hegel Gunther.
Der Value Stream Monitor sieht alles
Durch eine Reihe von Maßnahmen konnte der Output des Standortes in den letzten zwei Jahren nach eigenen Aussagen um etwa zehn Prozent erhöht werden, trotz einer Reduzierung der Mitarbeiterzahl. Hierfür war besonders die Value Stream-Methodik als strategisches Gestaltungselement wichtig, die von der Werksleitung initiiert wurde und weitere strategische Projekte anstoßen konnte. Mit dem Digital Value Stream Monitor ist eine Überwachung des gesamten Wertstroms möglich - jederzeit und in unterschiedlichen Granularitäten. Was sich dahinter genau verbirgt, wird deutlich, wenn Hegel Gunther zwei große Flatscreens in einem Besprechungsraum anschaltet. Für den Laien absolut nicht entschlüsselbar baut sich eine grün, gelb und rot blinkende Grafik auf, die jeden noch so kleinen Prozess im Werk visualisiert. Die jeweiligen Gewerkeleiter können sich so auf jede Ebene herunterschalten, um mögliche Potenziale zur Effizienssteigerung ausfindig zu machen.
Weniger Verschwendung dank Handschuhautomaten
Auch die Veränderung des Fokus auf die Bottom-up-Initiative nach dem Kaizen-System trug wesentlich zur Mitarbeiterproduktivität bei. Auf Basis des Makro-Wertstroms wurden Projekte zur Beseitigung der Engpässe und der Steigerung der Gesamtanlageneffektivität (Overall Equipment Effectiveness, OEE) identifiziert und priorisiert. Die Hands-on-Mentalität in Palmela wird anhand des Handschuhautomaten gut deutlich: Direkt neben handelsüblichen Getränke- und Snackautomaten stehen in den Werkhallen nahezu identisch aussehende Automaten, die neue Sicherheitshandschuhe ausgeben. Jeder Mitarbeiter hat ein tägliches Kontingent. Zuvor wurden die Handschuhe oft vorschnell aussortiert. Neben dem Gerät verrät der Scan eines QR-Codes jedem Mitarbeiter direkt, wie viel Geld durch die Optimierung jährlich gespart wurde. Diese direkte Feedback-Form findet sich überall im Werk.
Darüber hinaus wurde die Resilienz des Wertstroms verbessert: Unter anderem durch die Verankerung von VUCA in der Zukunftsstrategie sowie eine veränderte Steuerung der Puffer zwischen den Gewerken und die Reduzierung der Mix-Restriktionen.
Was ist VUCA?
VUCA ist ein Akronym, das für Volatility (Volatilität), Uncertainty (Unsicherheit), Complexity (Komplexität) und Ambiguity (Mehrdeutigkeit) steht. Es beschreibt eine Reihe von Bedingungen oder Herausforderungen, mit denen Organisationen in einem schnelllebigen Umfeld konfrontiert sind. Ursprünglich im militärischen Kontext verwendet, hat das Konzept breite Anwendung in der Unternehmensführung und strategischen Planung gefunden. Unternehmen, die in einem VUCA-Umfeld agieren, müssen über Fähigkeiten verfügen, die es ihnen ermöglichen, mit diesen Herausforderungen umzugehen – darunter Anpassungsfähigkeit, Flexibilität, kontinuierliches Lernen und Innovationsfähigkeit.
Mitarbeiter-Ideen an jeder Ecke
Vom Presswerk bis zur Montage wurden zahlreiche smarte Lösungen implementiert, die durch geringe Investitionen eine hohe Wirksamkeit erzielen sollen. Beispiele hierfür sind die Reduzierung von Rüstzeiten, die Optimierung der Roboterabläufe, die Einführung automatisierter Materialzuführungen, sowie viele smarte Karakuri-Lösungen insbesondere in der Montage. Hier konnten die Werker weitere Sekunden sparen, in dem sie ein selbstgebautes Podest unter eine Hebebühne anbrachten. Diese muss nun nicht mehr bis ganz zum Boden fahren. Für wenige Tausend Euro konnte so die Effizienz abermals erhöht werden. „Wir haben auch ergonomische Lösungen entwickelt, wie einen Sitz für Mitarbeiter, der es ihnen ermöglicht, bequem Überkopfarbeiten durchzuführen, während sie sich am Fahrzeug entlang bewegen. Diese Idee stammt direkt von den Mitarbeitern", sagt Hegel Gunther stolz.
Konglomerat aus Lean-Methoden steigert Wertstrom
Die Nutzung von Datenanalysen zur Problemlösung ist fest in der Organisation verankert und unterstützt die Identifizierung von Verbesserungspotenzialen. Sie ermöglichte beispielsweise die Optimierung der Puffer zwischen Rohbau und Lack, sowie Lack und Montage, die Überwachung und Erkennung von Verschwendungen im automatisierten Lager, sowie die Ladezeitenoptimierung der AGVs in der Logistik.
Zudem wurde in den letzten Jahren eine hohe Anzahl an Kamerasystemen als intensive Poka-Yoke-Methode zur Fehlervermeidung eingeführt. Weitere Digitalisierungsthemen sind beispielhaft die Inventur mit einer Drohne, ein Real Time Location System zur Steuerung des Verkehrs im Werk, das digitale Shopfloor-Management, sowie die Maintenance-App.
Der sogenannte Road Test Predictor entscheidet auf Basis gesammelter Daten aus der Produktion, welche Fahrzeuge auf einer längeren oder kürzeren Teststrecke gefahren werden. Der T-Roc wird in Palmela in verschiedenen Motorisierungen gebaut, von einem 1,0-Liter-Einstiegsmodell bis hin zum Topmodell, dem T-Roc R mit 300 PS und Allradantrieb. Ab der zweiten Jahreshälfte 2025 soll parallel zum aktuellen Modell das neue Modell hinzukommen. Noch lassen sich Hegel Gunther und seine Kollegen nicht in die Karten schauen, wie genau der neue T-Roc aussehen wird, doch gute Gründe viel zu ändern, gibt es wahrlich nicht. Und so dürfte das sonnenverwöhnte Palmela auch weiter für glückliche Gesichter im VW-Produktionsnetzwerk sorgen.
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