
Volvo zeigt sich von den Vorteilen des Gigacasting überzeugt. (Bild: Volvo)
In vielerlei Hinsicht geht es in der Automobilproduktion darum, verschiedene Elemente in Waage zu bringen. Aktuell arbeitet die Industrie daran, die wachsende Komplexität durch eine Konsolidierung der Materialprozesse in den Griff zu bekommen. Die Reduzierung der Bauteilmenge ist dabei zu einem zentralen Puzzlestück avanciert – vor allem vor dem Hintergrund der steigenden Komplexität durch den Umstieg auf Elektrofahrzeuge. Die Produktionsprozesse zu optimieren und gleichzeitig die Kosten zu senken, ist eine Herkulesaufgabe für die Hersteller.
Einen eigenen Lösungsansatz präsentierte Tesla Ende 2020: Im Karosseriebau des Model Y kam erstmals das Mega- oder Gigacasting zum Einsatz. Die Technologie schlug Wellen in der globalen Autoindustrie. Dabei bewegt sich die Technologie selbst in einem Spannungsfeld: Zwar ist die Homogenisierung und Standardisierung von Produktionsschritten bei allen Herstellern gegenwärtig, führende Autobauer zeichnen sich jedoch gerade durch ihre Anpassungsfähigkeit in den eigenen Abläufen aus. Inwieweit ist Megacasting also eine One-Size-Fits-All-Lösung?
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Gigacasting bei Volvo soll Ausschuss und Komplexität senken
Anirudha Shivappa, Advanced Engineering Leader Body Structures bei Volvo, kann über die Aktivitäten des Autobauers im Bereich des Gigacasting Auskunft geben. Aktuell baut Volvo Cars im Werk Torslanda, wo die nächste Generation Elektroautos vom Band laufen wird, eine neue Gießerei auf. Das Gewerk soll mit dem Body Shop verbunden werden und Teile im Takt der Fahrzeugproduktion liefern. Laut Shivappa wird Volvo mit dem Megacasting rund 100 gepresste Bauteile durch ein einzelnes Element ersetzen. Die Vorteile liegen auf der Hand: Ein deutlich geringeres Maß an Komplexität in Produktion, Montage und Lieferkette. Gleichzeitig erlaube die Technologie mehr Flexibilität über den Modelllebenszyklus hinweg – etwa durch konstante Weiterentwicklungen der Fahrzeugarchitektur.
Überlegungen zur Nutzung von Aluminium und entsprechende Nachhaltigkeitsbestrebungen haben die Entscheidung des Autobauers in Richtung Megacasting geprägt. „Bei Volvo glauben wir daran, das richtige Material für die richtige Applikation einzusetzen“, erklärt der Experte. Seit 2020 habe man das Potenzial von der Technologie sorgfältig geprüft. „Der Business Case für Megacasting hat gewaltige Vorteile gezeigt – etwa reduzierte Komplexität und Einsparungen beim Gewicht“, erklärt Shivappa. Hinzu käme eine bessere Ökobilanz durch die Nutzung von emissionsarmem Aluminium und einer vereinfachten Logistik. „Durch den Wegfall von 100 gepressten Bauteilen eliminieren wir den Materialausschuss in diesen Schritten, der sonst rund 50 Prozent des Materials ausmacht“.
Durch das Einschmelzen von nicht genutzten Materialelementen vor Ort erreiche man nun eine Nutzungsquote von etwa 95 Prozent des Materials.„Das hat uns klar gemacht, dass wir einen Schritt in die richtige Richtung gehen“, so der Volvo-Experte. Die notwendige Zeit vom Rohmaterial zum fertigen Produkt lasse sich zudem von Monaten auf Tage verkürzen, was einen unmittelbaren Einfluss auf die Zeitplanung in der Produktion habe.
Aber die Technologie offenbart auch Herausforderungen für die Schweden. „Die größte Herausforderung ist, dass die Technologie immer noch neu ist – für Volvo ebenso wie für den Rest der Autobranche“, so Shivappa. Man müsse also schnell neue Kompetenzen aufbauen – etwa im Bereich Materialqualität oder Simulation. Hierfür habe man vor dem Produktionsstart aber genügend Zeit eingeplant.
Warum Stellantis bei Gigacasting skeptisch ist
Durch die vergleichsweise kurze Zeit, in der sich die Technologie in der Praxis bislang bewähren konnte, und aufgrund der entsprechenden Kinderkrankheiten ist jedoch nicht jeder Hersteller von den Vorteilen des Gigacasting überzeugt. Vor Medienvertretern äußerte etwa Arnaud Deboeuf Vorbehalte gegenüber dem Verfahren: Der Produktionschef von Stellantis werde das Gigacasting im eigenen Einflussbereich nicht einführen. Im Rahmen des jährlichen Factory Booster Day mit Zulieferern und Partner führt Deboeuf zudem, der Autobauer sei eher an Lösungen interessiert, die sich schnell und ohne große Umbauten der Werke implementieren ließen. Man verbessere die eigene Produktion sehr pragmatisch und Schritt für Schritt als Reaktion auf eigene Schwierigkeiten.
Darüber hinaus habe man bei Stellantis, wo man sich intensiv mit dem Tesla-System beschäftigt habe, keine Vorteile des Gigacasting erkennen können, die die Kosten und mögliche Komplikationen bei der Implementierung und dem Betrieb ausgleichen würden. Weitere Probleme der Technologie seien etwa die Auswirkungen auf Fahrzeugreparaturen oder den entsprechenden Aftermarket. „Wir sehen keine Vorteile in der Produktion, wir sehen keine Vorteile beim CapEx und wir sehen keine Vorteile im Aftersales“, so das vernichtende Fazit des Stellantis-Experten.
Beim multinationalen Autobauer ziehe man digitale Lösungen vor, die Werkleiter direkt und ohne großen Kapital- oder Personalaufwand implementieren können, erklärt auch Jean-Christophe Marchal, VP of Vehicle Process Engineering bei Stellantis. „Wir suchen nach Lösungen, die Werkleiter begeistern und die sie selbst implementieren möchten und managen können.“
Hat Megacasting eine Zukunft in der Autobranche?
Bei Volvo betont man derweil, dass die aktuelle Technologie noch immer die erste Generation des Megacasting ausmache. „Wir haben eine Reise vor uns, bei der es darum gehen wird, zu lernen und die Systeme zu verbessern“, sagt Anirudha Shivappa. „Wir erforschen außerdem sowohl intern als auch mit externen Partnern wie Universitäten weitere Anwendungen des Megacastings.“ Wenn ein Megacasting-Konzept die notwendigen Performance-Hürden nehmen kann und wirtschaftlich ist, werde man es definitiv evaluieren und weiterentwickeln.
Neben der Autoindustrie machen auch die Anbieter von Druckgusssystemen Fortschritte beim Megacasting. Unter anderem wurden im Rahmen der Fachmesse Euroguss Systeme für Front- und Seitenstrukturen, Batteriegehäuse und sogar komplette Unterböden präsentiert, die in den kommenden Jahren vermutlich in der Industrie ankommen werden. So könnte künftig die Qualität und Kostenstruktur des Megacasting deutlich optimiert werden.
Dieser Artikel erschien ursprünglich bei unserem englischen Schwestermagazin automotive manufacturing solutions. Das englische Original finden Sie hier.