Von Mixed Reality zu Full Virtual Reality

Kuka hebt die Mitarbeiterqualifizierung mit Virtual Reality auf ein neues Level. (Bild: Kuka)

Die Automobilherstellung befindet sich in einem tiefgreifenden Wandel, da ehemals voneinander getrennte Technologien nun zu leistungsstarken neuen Synergien zusammengeführt werden. Dazu gehören Innovationen wie der 3D-Druck (ein Ergebnis des Zusammentreffens von computergestütztem Design und Robotik), die fortschrittliche Inspektion von Fahrzeugoberflächen (ein Produkt der maschinellen Bildverarbeitung und der künstlichen Intelligenz) oder neuere, noch im Entstehen begriffene Innovationen in der Lackiererei (das Ergebnis der Verschmelzung von Automatisierung und Tintenstrahltechnik).

Gleichzeitig gibt es eine unaufhaltsame Entwicklung hin zu immer stärker digitalisierten Produktionssystemen, wie sie im BMW-Werk München oder im cloudbasierten globalen Produktionsnetzwerk von JLR zu sehen sind. Der Gipfel der digitalen Produktion ist schließlich das sogenannte "virtuelle Produktionsnetzwerk".

Smartes Maschinennetzwerk
Das cloudbasierte Produktionsnetzwerk von JLR soll einmal 128 Produktionsstandorte weltweit verbinden. (Bild: JLR)

Das Potenzial dieses technologischen Ansatzes zur Lösung zahlreicher Produktionsprobleme – von der Schaffung weitreichender Kosteneffizienz und der Lösung von Leistungsproblemen bis hin zur Ermöglichung erweiterter Produktionskooperationen und der Förderung von Flexibilität sowie ungenutzter Produktionskreativität – ist unübertroffen. Und es ist keine Überraschung, dass einige Robotikunternehmen als Hauptzulieferer der Automobilindustrie hier aktiv sind.

Was leistet der Digital Twin in der Fahrzeugherstellung?

Als virtuelle Nachbildungen physischer Produktionsprozesse, Montagelinien und ganzer Produktionssysteme nutzen digitale Zwillinge Echtzeitdaten von Sensoren und anderen Quellen, um die tatsächliche Leistung und das Verhalten des physischen Prozesses widerzuspiegeln. Auf diese Weise können die Hersteller die Arbeitsabläufe in der Fahrzeugproduktion optimieren, den Wartungsbedarf vorhersagen, Engpässe erkennen und Änderungen virtuell testen, bevor sie sie in der realen Welt umsetzen müssen. Die Vorteile dieser Vorgehensweise liegen auf der Hand.

JLR gibt an, dass im Zuge der Elektrifizierung 95 Prozent der Techniker seiner weltweiten Handelspartner ausreichend für den Bau von Elektrofahrzeugen geschult seien und weitere 11.000 Mitarbeiter in der Produktion derzeit ausgebildet würden. Eine solche Ausbildung kostet jedoch Geld, wertvolle Produktionszeit und Platz.

Virtuelle Produktionstechnologien können hier Lösungsansätze bieten, einschließlich der Bereitstellung von mit Industrieanlagen verbundenen Schulungsumgebungen, um potenzielle Verletzungen vorzubeugen.

Das Management- und IT-Beratungsunternehmen MHP beispielsweise nutzt Metaverse-Technologien, um diese Probleme der Weiterbildung zu lösen. Im Rahmen eines Showcase-Events hat das Unternehmen kürzlich einen Teil des Produktionsprozesses im Porsche-Werk Zuffenhausen als hochrealistisches 3D-Schulungsmodul mit einer VR-Brille umgesetzt.

VR-Brille Vision Pro von Apple im Einsatz bei MHP
Bei MHP vereint VR in Trainings zukünftig physische Objekte mit Simulationen. (Bild: MHP)

MHP nutzt im Wesentlichen die räumlichen Datenverarbeitungsfähigkeiten der Apple Vision Pro, um immersive, praxisnahe Schulungen für komplexe Fertigungsprozesse in der Automobilindustrie und der Motormontage anzubieten.

„In dem von uns gezeigten Produktionsschritt lernten die Arbeiter, wie sie mit einem virtuellen Roboter an einer Schweißstation zusammenarbeiten können", sagt Guy Williamson, CEO von MHP Consulting in Großbritannien. „Sie starteten den Prozess mit einem Knopf, nahmen ein mechanisches Teil aus einer Box und platzierten es präzise auf einem Schweißtisch."

Der Auszubildende nutzte anschließend das präzise Eye-Tracking der Apple Vision Pro, um durch die Benutzeroberfläche und das Anweisungsmenü zu navigieren. Während des gesamten Prozesses wurden keine Controller benötigt - es war ein freihändiges Erlebnis. „Das Hand-Tracking wurde dann verwendet, um virtuelle Teile aus einer Kiste zu nehmen und sie auf dem Schweißtisch zu platzieren“, erklärt Williamson. Die Brille kann die Position des Auszubildenden erkennen und Konflikte mit virtuellen Hindernissen visualisieren, um die Sicherheit bei der Benutzung der Geräte zu gewährleisten. „In unserem Fall war der Abstand zum sich bewegenden Roboter ein wichtiger Sicherheitsaspekt", sagt Williamson.

Dies ist nur eins der Beispiele für eine vollständige virtuelle Trainingsumgebung. Mit den neuen APIs kann MHP in seinen neuen Schulungsszenarien auch physische Objekte mit virtuellen Objekten überlagern.

„In Zeiten von Fachkräftemangel und Qualifikationsdefiziten", sagt Williamson, „werden moderne Technologien ein Schlüssel zum Erfolg sein." Ein weiterer Vorteil: „Wir sehen die Gamification innerhalb der Schulungsanwendungen als ein Tor, um die Lernreise noch attraktiver zu gestalten - insbesondere für die jüngere Generation."

Simulation steigert die Flexibilität

Vor kurzem besuchte ein Redaktionsteam unseres Schwestermagazins ams (automotive manufacturing solutions) das ABB-Roboterzentrum in Friedberg, um deren virtuelles Produktionsnetzwerk zu erleben. ABB setzt ebenfalls VR-Brillen und digitale Zwillinge ein, um seine Kunden bei der Umgestaltung von Fertigungsprozessen in der Automobilindustrie zu unterstützen.

VR-Brille Vision Pro von Apple im Einsatz bei MHP
VR unterstützt die Mitarbeiterqualifizierung durch realistische Simulationen. (Bild: MHP)

Die Demonstration begann mit einer Einführung in die ABB-eigene Software. Mit dieser Software entwickelt ABB neue Simulationszellen für Erreichbarkeitsstudien, Zykluszeit- und Kollisionsstudien. Außerdem kann das Unternehmen damit ganze Produktionseinheiten simulieren, einschließlich der des Materialflusses. „Die Zelle, die Sie hinter uns sehen, ist eine echte Produktionszelle, die in unserer eigenen Software nachgebildet wurde", sagt Martin Volk, Leiter des ABB Technology Center. „Mit einer VR-Brille können Sie die Zelle virtuell betreten."

Ausgestattet mit einer High-Spec-Brille und nach einem Hinweis von Jörg Rommelfanger, Head of Robotics Division Deutschland & Head of Local Business Line Automotive, auf die Bewegungen des virtuellen Roboters zu achten, starteten wir den Selbstversuch. Währenddessen betonte Rommelfanger das kollaborative Potenzial einer solchen virtuellen Produktionstechnologie für die Automobilindustrie. „Indem wir diese Software in die Cloud bringen, können wir eine nahtlose Zusammenarbeit ermöglichen“, sagte er. „Teams können unabhängig von ihrem Standort zusammenarbeiten, egal ob in China, den USA oder Deutschland.“ Diese Fähigkeit zur globalen Zusammenarbeit ermögliche es international verteilten Teams, Arbeitsabläufe zu optimieren und kritische Entscheidungen in Echtzeit zu treffen, wodurch die Beschränkungen durch geografische Grenzen überwunden würden.

Rommelfanger fügte hinzu, dass Kunden Elemente in der virtuellen Umgebung leicht entwerfen und anpassen können. Wenn ein Kunde zum Beispiel ein Bedienfeld an einem anderen Ort wünscht, kann es während der Entwurfsphase leicht verschoben werden. „Dieses Maß an Flexibilität geht in der physischen Installationsphase verloren", sagte er. Obwohl es sich nicht um 100 Prozent identische Digital Twins handele, spiegele die virtuelle Umgebung die physische Umgebung immer genauer wider. Durch Fortschritte bei der Rechenleistung würden solche Simulationen immer genauer und praktikabler, mit dem Ziel, sie schließlich so ähnlich zu machen, dass sie die Physik der tatsächlichen Produktionswelt exakt widerspiegelten.

Eine Erweiterung der virtuellen Produktionsstätte

Doch während Unternehmen wie Porsche, MHP und ABB eine Brille verwenden, um virtuelle Produktionsnetzwerke zu simulieren, gibt es andere Entwicklungen in diesem Bereich, die den digitalen Zwilling selbst erweitern. Der Dome von Kuka ist ein digitaler Zwilling, der eine vollkommen andere Art der immersiven virtuellen Darstellung bietet: einen Raum, der den physischen Produktionsraum simuliert und in dem die gerenderten Simulationen auf die Oberfläche um einen herum projiziert werden. Man braucht somit keine Brille.

Florian Klauke von Kuka erläutert: „Der Kuka Dome, oder besser gesagt die dahinter stehende Engine, gibt uns die Möglichkeit, in einem sehr frühen Stadium des Projekts in 3D durch die Anlage zu gehen. Wir haben eine leistungsfähige Umgebung entwickelt, die es uns ermöglicht, im Verhältnis 1:1 durch die Anlage zu gehen und jeden einzelnen Prozess zu analysieren und zu diskutieren.“

Kuka Messestand auf der Automatica 2023
Der Kuka Dome feierte auf der Automatica 2023 Premiere und ermöglicht ein völlig neues Erleben virtueller Realität. (Bild: Kuka)

„In erster Linie sparen wir gleich zu Beginn eines Projekts unglaublich viel Zeit", sagt er. „Wir schaffen direkt ein gemeinsames Verständnis für unsere Lösung. Außerdem eliminieren wir Probleme im Produktionslayout, die wir bisher nur vor Ort feststellen konnten - gerade Platzverhältnisse werden im 2D-Layout oft falsch eingeschätzt und die sehr kostspieligen Auswirkungen werden erst später bemerkt. Was wir bei Kuka regelmäßig mit unseren Kunden erleben, ist, dass wir immer wieder Innovationen in der Produktion einführen können. Die Möglichkeit, A/B-Vergleiche direkt nebeneinander zu simulieren, führt oft zu augenöffnenden Momenten und erhöht gleichzeitig das Verständnis für den Mehrwert guter Ingenieurarbeit."

Klauke weist darauf hin, dass die Welt der Automobilproduktion immer komplexer und unbeständiger wird. Die virtuellen Fabriklayouts ermöglichten allen Beteiligten die Kommunikation in einer komplexen, aber optimalen Landschaft, „sodass neue Ideen mit minimalem Aufwand erforscht werden können und alle Beteiligten wertvolle Einblicke in die Produktionsprozesse von morgen erhalten. Dies erhöht das Vertrauen in die Fertigungslösung in einer viel früheren Phase und reduziert die tatsächliche Inbetriebnahmezeit, die Fehlerquote und die Fehlersuche nach der Einrichtung.“

Roland Ritter, Portfolio Manager Simulation, Kuka Deutschland, fügt hinzu: „In unseren volatilen Zeiten ist die Produktion normalerweise nicht konstant.“ Man müsse in der Lage sein, das Volumen je nach Bedarf zu erhöhen oder zu verringern, schnell auf andere Produkte umzustellen und sich schnell an die sich verändernde Nachfrage anzupassen.

„Es gewinnt der Automobilhersteller mit der größten Agilität in der Produktion", sagt Ritter. „Traditionell würde eine Umstellung bedeuten, dass wir den Roboterbetrieb unterbrechen müssten, um Vorrichtungen, Greifer, Ausrüstung usw. zu wechseln. Die Unterbrechung der Produktion kostet jedoch für jede Sekunde Geld, deshalb wollen wir diese Zeit so weit wie möglich reduzieren. Das bedeutet, dass wir alles offline vorbereiten, während der Roboter noch läuft, dann anhalten und alle vorbereiteten Arbeiten einsetzen. Je weniger wir vor Ort tun müssen, desto besser - und desto weniger Geld verpulvern wir, wenn die Ausrüstung nicht läuft."

Dieser Artikel erschien im Original bei unserem Schwestermagazin ams (automotive manufacturing solutions) unter dem Titel "Virtual production networks are able to solve multi-level complexities across automotive manufacturing".

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