Mit dem so genannten “Szenen-Labeling” klassifiziert das kamerabasierte System völlig unbekannte Situationen automatisch. Es erkennt alle für die Fahrerassistenz wichtigen Objekte – vom Radler über den Fußgänger bis zum Rollstuhlfahrer. Forscher der Abteilung “Umgebungserfassung” haben ihrem System gezielt tausende Bilder verschiedener deutscher Städte gezeigt, in denen sie manuell 25 verschiedene Objektklassen wie Fahrzeuge, Radfahrer, Fußgänger, Straße, Gehsteig, Gebäude, Pfosten oder Bäume präzise “gelabelt” hatten. Anhand dieser Beispiele hat das System gelernt, völlig unbekannte Bilder automatisch korrekt zu klassifizieren und so alle für die Fahrerassistenz wichtigen Objekte auch bei starker Verdeckung und in großen Entfernungen zu detektieren. Möglich machen das leistungsstarke Rechner, die ähnlich dem menschlichen Gehirn künstlich neuronal vernetzt sind, sogenannte Deep Neural Networks.

Audi A7 Concept

Audi A7 Sportback als Technik-Demonstrator im nationalen Verbundprojekt Urban. Bild Audi

Mit dem Szenen-Labeling wird die Kamera vom reinen Mess-System zu einem verstehenden System, so vielseitig wie das Zusammenspiel von Auge und Gehirn. Ralf Guido Herrtwich, Leiter Vorentwicklung der Daimler AG, erklärt: “Durch die in den letzten Jahren enorm gestiegene Rechnerleistung rückt der Tag näher, an dem Fahrzeuge ihre Umgebung so sehen wie der Mensch und auch komplexe Situationen in der Stadt richtig verstehen.” Um schnell voran zu kommen forscht Daimler gemeinsam mit Partnern weiterhin aktiv im Sinne der Vision vom unfallfreien Fahren. So sind an der Forschungsinitiative 31 Part­ner aus Automobil- und Zulieferindustrie, Elektronik-, Kommunikations- und Soft­warefirmen, Universitäten sowie Forschungsinstitute und Städte. Das gemeinsame Ziel ist es, Fahrerassistenz- und Verkehrsmanagementsysteme speziell für die Stadt zu entwickeln. Das Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (BMWi) fördert das Projekt URBAN (Urbaner Raum: Benutzergerechte Assistenzsysteme und Netzmanagement) mit rund 40 Millionen Euro.

Laserscanner, Kamera und Doppelradar

Im Mittelpunkt der Projektarbeit stehen der Mensch als Autofahrer, Radfahrer, Fußgänger oder Verkehrsplaner sowie drei große Themenbereiche: Vernetztes Verkehrssystem, kognitive Assistenz und Mensch im Verkehr. Im Bereich kognitive Assistenz zum Beispiel geht es unter anderem um das lücken­lose Erfassen des Umfelds in einer 360-Grad-Rundumsicht. Je besser Fahrer und Auto ihr Umfeld wahrnehmen, desto eher lassen sich Kollisionen vermeiden, etwa durch Lenkeingriffe und Bremsen. Besonders wichtig dabei ist ein robust ausgelegtes System, das Fehlauslösungen sicher vermeidet. Der Ingolstädter Autobauer arbeitete mit drei Autos im Testbetrieb. Eines davon, ein Audi A7 Sportback. Der Versuchsträger ist mit seriennahen Sensoren ausgerüstet: Neben einem Laserscanner und einer Videokamera im Frontbereich hat er ein Doppelradar vorne, ein Heck- und ein Seitenradarsystem. In diesem Technikträger kommen Regelungs- und Steuerungs­komponenten zum Einsatz, mit denen auch die drei Audi RS7 piloted driving concept 2014 und 2015 fahrerlose Rekorde auf den Rennstrecken von Hockenheim, Oschersleben, Ascari und Sonoma eingefahren haben.

Auch Opel ist an dem Projekt beteiligt. Die Rüsselsheimer zeigen mit einem Prototypen wie wie stark moderne Assistenzsysteme allein durch die Analyse des Fahrer-Verhaltens weiterentwickelt werden können. Basierend auf Fahrzeugdaten, einer Frontkamera sowie einer Kamera, die den Kopfbewegungen des Fahrers folgt, analysiert ein speziell entwickelter Algorithmus die Bewegungen des Fahrers und kann so bereits im Vorfeld erkennen, ob er zum Beispiel die Spur wechseln möchte oder nicht. Mit diesen Erkenntnissen lassen sich Assistenzsysteme wie der Toter-Winkel-Warner wesentlich optimieren, weil unnötige, den Fahrer ablenkende Warnungen überflüssig werden.

Auch was andere Verkehrsteilnehmer vorhaben, können die Assistenzsysteme erkennen. So steckt in einem Versuchsfahrzeug von Mercedes ein System zur Detektion, Klassifikation und Absichtserkennung von Fußgängern und Radfahrern. Wie ein menschlicher Fahrer sagt das System anhand der Kopfhaltung, der Körperstellung und der Position am Straßenrand voraus, ob ein Fußgänger am Gehweg stehen bleibt oder die Straße überqueren wird. In Gefahrensituationen kann dadurch eine unfallvermeidende Systemreaktion bis zu einer Sekunde früher ausgelöst werden als bei heute auf dem Markt befindlichen Systemen.

Bosch Urban Projekt

Die Bosch-Forscher haben ein Assistenzsystem entwickelt, das vor einem drohenden Zusammenstoß mit einem Fußgänger eingreift. Bis Tempo 50 hilft das System Autofahrern beim Bremsen und Ausweichen. Bild: Bosch

“Nur wenn wir genau wissen, was ums Auto herum passiert, können wir daraus die richtige Fahrstrategie ableiten”, sagt Lutz Bürkle von Bosch. Für die Umfelderfassung setzt Bosch unter anderem auf seine Stereo-Videokamera, die auch schon in Serienmodellen zum Einsatz kommt. Hinter der Windschutzscheibe im Bereich des Innenspiegels installiert, erfasst die Kamera die Straße vor dem Testfahrzeug und liefert ihre Informationen an einen Rechner im Kofferraum. Mehr als zehn Mal pro Sekunde wertet der Computer die Daten aus. Doch Bosch geht sogar noch weiter: “Wir lassen den Computer mit intelligenten Algorithmen berechnen, wie sich das Umfeld ändert und wohin sich Objekte bewegen”, so Bürkle. Die Bosch-Technik erkennt Passanten und Radfahrer nicht nur im Hier und Jetzt. Sie weiß auch, wo sie sich eine Sekunde später in der Zukunft aufhalten. Das bietet neue Möglichkeiten für den Fußgängerschutz.

Automatisches Ausweichsmanöver

Die Bosch-Forscher haben darauf basierend ein Assistenzsystem entwickelt, das vor einem drohenden Zusammenstoß mit einem Fußgänger eingreift. Bis Tempo 50 hilft das System Autofahrern beim Bremsen und Ausweichen. Lässt sich eine Kollision mit einem plötzlich auftauchenden Passanten allein durch Bremsen nicht mehr verhindern, berechnet der Assistent unter Berücksichtigung des sonstigen Verkehrs blitzschnell einen Ausweichpfad. Sobald der Autofahrer per Steuereingriff das lebensrettende Fahrmanöver startet, unterstützt ihn das System beim Lenken.

Bosch Urban Projekt

Für die Umfelderfassung setzt Bosch unter anderem auf seine Stereo-Videokamera, die auch schon in Serienmodellen zum Einsatz kommt. Hinter der Windschutzscheibe im Bereich des Innenspiegels installiert, erfasst die Kamera die Straße vor dem Testfahrzeug und liefert ihre Informationen an einen Rechner im Kofferraum. Mehr als zehn Mal pro Sekunde wertet der Computer die Daten aus. Bild: Bosch

Neben der Vermeidung von Unfällen arbeitet beispielsweise Opel auch an der Verbesserung der innerstädtischen Verkehrsbedingungen. Hierzu zeigt die GM-Tochter einen Insignia Sports Tourer als Versuchsträger, der Informationen der Verkehrsmanagement-Infrastruktur und anderen Fahrzeugen via WLAN erhält und daraus zum Beispiel Empfehlungen für das Verhalten an Kreuzungen ableitet. So kann sich der Fahrer langsam, sicher und ohne unnötig Sprit zu verbrauchen der Kreuzung nähern – im Idealfall muss er nicht einmal anhalten. Die Informationen werden über das MMI (Mensch-Maschine-Interface) der neuen Generation auf dem Monitor im Instrumententräger sowie zusätzlich in der Mittelkonsole angezeigt.

Im Teilprojekt “Vernetztes Verkehrssystem” entwickelte die Volkswagen Konzernforschung auf Basis der Car-to-X-Kommunikation den “Sondereinsatzfahrzeugassistenten”. Dieser informiert direkt alle Verkehrsteilnehmer über sich nähernde Einsatzfahrzeuge. Zudem optimiert er die Ampelschaltung und sorgt damit für die zügigere und für alle sichere Passage des Einsatzfahrzeugs.

Alle Beiträge zu den Stichwörtern Autobauer Assistenzsysteme

gp

Sie möchten gerne weiterlesen?