Wenn die Sonne verschwindet
Show off und Lamborghini – zeigen, was man hat – das gehört untrennbar miteinander zusammen; nicht nur hier in Miami Beach. Extrovertierter als in einem Lamborghini kann man sich im internationalen Straßenverkehr kaum präsentieren – erst Recht nicht in einem Roadster. Und wenn es einen perfekten Platz für eine Testfahrt des neuen Lamborghini Huracan LP 610-4 Spyder geben kann – dann ist das fraglos in und um Miami Beach. Hier muss man die Bluse ein paar Knöpfe weiter öffnen, um überhaupt die Blicke auf sich zu ziehen. Oder man zieht erst gar keine Bluse an – und fast so präsentiert sich zumeist auch der Huracan Spyder. Hier an der besonders nach Sonnenuntergang turbulenten Collins Avenue bieten Autovermietungen weder Ford Mustang oder Chevrolet Malibu an, sondern fahrbare Träume wie Corvette C06, Ferrari 458 oder den Lamborghini Gallardo. Dank mehr als 320 Sonnentagen war hier jeder zweite Gallardo ein offener Spyder – das wird sich beim Huracan kaum ändern.
Hier, wo abends wild gepimpte Boliden mit verchromten Giganto-Felgen und wummernden Beats um die Blicke von Locals und Touristen kämpfen, sorgt ein offener Huracan allemal für Aufsehen. Lamborghini ist in Miami Beach eine der wenigen automobilen Traumfabriken und jeder Türsteher, jeder Jugendliche und fast jeder Promi kennt den Gallardo-Nachfolger bereits als Coupé. Wie er offen fährt, ist den meisten jedoch ebenso verborgen wie dem ergrauten Einreisebeamten, der dem LP 610-4 Spyder fälschlicherweise nicht mehr als ein “show off” – das Gieren nach Aufmerksamkeit – zutraute. Ein Ungläubiger, denn der Lamborghini Huracan ist offen wie geschlossen ein grandioser Sportwagen reinsten Wassers. Gerade als Roadster zudem spektakulärer denn je und daher genau der Richtige für eine öffentliche Bühne wie Miami Beach.
Auffallen um jeden Preis
Das Styling der polarisierenden Flunder sorgt für Aufsehen – das Fahrerlebnis für noch so viel mehr. Der brüllende Klang des V10-Saugers lässt selbst Autoverweigerern das Blut in den Adern gefrieren. Man sollte seine letzten Jahre zelebrieren, denn einen echten Zehnzylinder-Saugmotor mit 5,2 Litern Hubraum wird es angesichts der immer strenger werdenden Schadstoffvorschriften nicht mehr allzu lange geben. Dem 449 kW / 610 PS starken Kraftkoloss hinter der eng geschnittenen Huracan-Fahrgastzelle sind im Laufe der Jahre Manieren beigebracht worden. Er ist längst viel mehr als laut und schnell, sondern filigran ansprechend und präsentiert sich durch Zylinderabschaltung und Start-Stopp-Automatik so sparsam wie es eben geht: 12,3 Liter. Das siebenstufige Doppelkupplungsgetriebe hat einen gewichtigen Anteil am offenen Fahrvergnügen, das zwischen lässig posen und wild jagend nahezu alles bietet. Je nach Gangart lassen sich am griffigen Lenkrad die drei Fahrmodi ganz nach Gusto durchschalten. Die präzise Lenkung: nahezu perfekt.
Es sind weniger die 0 auf Tempo 100 in 3,4 Sekunden oder die spektakuläre Höchstgeschwindigkeit von 324 km/h, die einen unweit der Art-Deco-Fassaden am Ocean Drive begeistern. Natürlich presst einen der über 1,6 Tonnen schwere Kanonenschlag Dank 560 Nm maximalem Drehmoment bei 6.500 U/min derart in die Sportsitze, dass dem autobegeisterten Grenzschützer beim vollem Leistungsabruf mehr als der Einreisestempel aus der Hand fallen würde. Es ist die auch bei geöffnetem Dach unglaublich steife Karosserie und die stimmige Fahrwerksabstimmung, die den offenen Lustspender aus Santa Agata selbst für etwaige Rennstreckeneinsätze gewappnet erscheinen lässt. Die 120 Kilogramm Mehrgewicht, die das bis Tempo 50 vollelektrisch zu öffnende Stoffdach ins Auto bringt, stören außerhalb des Grenzbereichs niemanden. Unverändert verzögert der Norditaliener ebenso stramm wie das Coupé. In kaum mehr als 32 Meter steht der ehemals 100 km/h schnelle Allradler auf dem Punkt. Der Allradantrieb – ebenso wie der niedrige Schwerpunkt einer der Pluspunkte des offenen Doppelsitzers.
Wenn etwas das exzellente Gesamtbild stört, dann sind es die Kleinigkeiten. Die nur 1,18 Meter hohe Dachlinie zerstört groß gewachsenen Personen mit geschlossenem Stoffdach die Frisur. Die Bedienung von Navigation, Bordcomputer und Soundsystem am überfrachteten Lenkrad ist alles andere als überzeugend und das Fehlen eines zweiten Bildschirms in der Mittelkonsole schlicht eine Fehlkonstruktion, die jedoch kaum Kunden kosten dürfte. Schließlich ist der emotionale Spyder in erster Linie etwas für Alleinfahrer, die Eindruck schinden wollen. Und zwar solche, denen ein großer Auftritt mindestens 221.875 Euro wert ist. Doch was ist das schon – für einen dauerhaft großen Auftritt und brüllenden Fahrspaß auf jedem Kilometer?