Stefan Bratzel, Leiter des Center of Automotive Management (CAM), ist überzeugt, dass der Brexit negative Auswirkungen auf die Autoindustrie haben werde. Am stärksten seien die Hersteller und Zulieferer betroffen, die Produktionsanlagen mit hoher Kapazität auf der Insel besitzen. Dazu zählen insbesondere Nissan und Jaguar Land Rover mit jeweils rund 500.000 produzierten Einheiten im Jahr 2015. „Den stärksten Negativeffekt wird es für die britische Automobilindustrie und deren Arbeitsplätze selbst geben, da der Standort außerhalb der EU unattraktiver wird.“
Bratzels Begründung: Insgesamt sei mit einem Anstieg der direkten und indirekten Kosten zu rechnen, wenn das Vereinigte Königreich im Verhältnis zur EU als Drittland gilt. Die Aushandlung von Kooperationsverträgen werde Jahre dauern. „Und das Ergebnis ist aus heutigen Stand offen“, so der CAM-Direktor. Um einen Dominoeffekt weiterer Austritte zu vermeiden, könnte die EU allerdings restriktive Bedingungen für Austrittsländer vorsehen. Infolgedessen sei mittel- und langfristig sogar mit Standortverlagerungen von der Insel in EU-Staaten zu rechnen. Bratzel sagt: „Der Brexit wird so insgesamt zu einem schleichenden Exit der Automobilindustrie von der Insel führen. Wirkliche Gewinner gibt es keine.“
Ferdinand Dudenhöffer, Direktor der CAR-Center der Uni Duisburg-Essen, sieht den Standort Großbritannien hingegen nicht in Gefahr: „Mittel- und langfristig profitiert der Autostandort England durch eine längerfristige Abwertung des Pfund.“ Denn damit könnten Unternehmen wie Jaguar Land Rover, Nissan, aber auch BMW-MINI positive Effekte in der Wettbewerbsfähigkeit erwarten.
Absatz-Einbruch auf der Insel
Allerdings erwartet Dudenhöffer für die nächsten Jahre einen deutlichen Absatzrückgang auf Britanniens Automarkt. Trotz der ersten fünf guten Absatzmonate prognostiziert er einen Rückgang der Neuwagenverkäufe auf 2,45 Millionen Einheiten. 2015 waren es noch mehr als 2,6 Millionen. „Es ist zu erwarten, dass sich der Rückgang im vollen Tempo im Jahr 2017 fortsetzt“, so der Autoexperte. 2017 würden die Autobauer sogar nur noch 1,89 Millionen Einheiten verkaufen. Erst 2018 sei wieder mit einer Erholung zu rechnen.
Das Analyse-Institut IHS Automotive kappt ebenfalls seine Absatzprognose für die kommenden Jahre. Zudem rechnen die Marktbeobachter damit, dass infolge der sinkenden Verkaufszahlen auch das Produktionsvolumen auf der Insel zurückgehen werde. Genaue Zahlen wollten die Analysten allerdings nicht nennen.
Auch die Autobauer selbst sind nicht gerade erfreut über den Brexit. Volkswagen sieht in den möglichen Konsequenzen des britischen EU-Austritts größere Unsicherheiten, hält die Folgen aber für wahrscheinlich beherrschbar. "Es ist zu früh, alle Auswirkungen auf die Aktivitäten des Unternehmens zu bewerten", hieß es aus der Wolfsburger Konzernzentrale. Man sei jedoch gut aufgestellt, um VW "an sich verändernde wirtschaftliche und politische Umstände anzupassen". Für das größte deutsche Unternehmen sei das Vereinigte Königreich der zweitwichtigste Einzelmarkt in Europa. Auch die Produktion der Tochter Bentley ist dort angesiedelt.
Der stark mit der britischen Wirtschaft verflochtene Hersteller Opel setzt sich für eine schnelle Klärung der künftigen Wirtschaftsbeziehungen zum Vereinigten Königreich ein. Während der Verhandlungen müsse der Handel weiter vom freien Verkehr von Waren und Personen profitieren, teilte der Europa-Ableger von General Motors mit.