Togg-Werk im türkichen Gemlik

In Gemlik sollen in diesem Jahr rund 45.000 Fahrzeuge vom Band laufen. (Bild: Togg)

Viel Urlaub hat Gürcan Karakas in den letzten sechs Jahren nicht gehabt. Denn 2018 hat der ehemalige Bosch-Manager die Firma Togg gegründet und daraus den ersten türkischen Automobilhersteller der Neuzeit geformt. Ausgestattet wurde der Hersteller dabei von fünf industriellen Schwergewichten aus Handel, Telekommunikation, Finanzen und Maschinenbau mit mehr als mit drei Milliarden Euro für die ersten 15 Jahre. Was anfangs kaum mehr war als eine kühne Vision und eine patriotische Vorgabe des Staatspräsidenten Erdogan, ist spätestens vor ziemlich genau einem Jahr Wirklichkeit geworden. Denn seit Ende März 2023 liefert Togg daheim in der Türkei den T10X aus – ein elektrisches SUV im Format des VW ID.4, dessen Preise bei 1,4 Millionen Lira oder umgerechnet etwa 40.000 Euro beginnen.

Parallel schießen überall im Land die ersten von 1.000 Togg-eigenen Ladesäulen mit mindestens 180 kW Leistung aus dem Boden und das digitale Ökosystem des Unternehmens, das mehr Tech-Konzern sein will als ein reiner Automobilhersteller, wächst und gedeiht. Schon in diesem Jahr rechnet Karakas dort mit über fünf Millionen Usern auf der Plattform.

Statt endlich mal in Bodrum am Strand zu liegen oder durch Kappadokien zu kraxeln, steht Karakas deshalb jetzt wie ein Feldherr auf dem künstlichen Hügel der Togg-Teststrecke und lässt hier in Gemlik in der Provinz Bursa den Blick schweifen über das 1,2 Millionen Quadratmeter große Areal, das gesäumt ist von Olivenhainen, vom Mittelmeer und einem Parcours, auf dem das Militär die Hunde- und Reiterstaffeln für den Katastrophenschutz ausbildet. Und mittendrin stehen ein halbes Dutzend Hallen von zusammen 230.000 Quadratmetern, in denen die türkische Antwort auf Tesla Gestalt annimmt.

Togg ist für alle Katastrophen gewappnet

Für den Neubau musste Karakas‘ Mannschaft einen gewaltigen Aufwand treiben. Und zwar nicht nur, weil die die digitale Kunst, mit der sie ihre Marke 2022 auf der CES in Las Vegas eingeführt haben, als eines der größten Wandbilder im Lande jetzt die Lackiererei ziert, die Karakas aus eine der saubersten der Welt rühmt. Und auch nicht, weil sie zum Schutz vor Mövenkot die Parkplätze für zigtausende Neuwagen überdachen mussten, aus der Not eine Tugend gemacht und darauf so viele Photovoltaik-Panels installiert haben, dass sie jetzt ein Drittel ihres Stroms selbst erzeugen.

Sondern, weil der Küstenstreifen 90 Minuten südlich vom Istanbul Erdbebengebiet ist. Deshalb hat Togg 44.000 Botensäulen von 1,5 Metern Durchmesser 15 bis 20 Meter tief in den Boden getrieben, um die Gebäude gegen Erdstöße zu wappnen. „Die Architekten haben uns versichert, dass wir bis Stärke acht sicher sind“, sagt Karakas. Trotzdem hofft der Togg-Chef natürlich, dass die Erde ruhig bleibt. Wenn hier ein Beben ausgelöst wird, dann von den Modellen, und erschüttert werden soll allenfalls der Markt.

Mit dem T10X hat das schon ganz gut geklappt. Nachdem in der Türkei im Jahr 2022 gerade mal 8.000 Elektroautos verkauft wurden, hat Togg mit dem Öffnen der Bestellungen die gleiche Anzahl an Stromern in nur acht Stunden verkauft. Und als Karakas die Bücher nach ein paar Tagen wieder hat schließen lassen, waren über 170.000 Namen notiert – alle verbunden mit umgerechnet rund 3.000 Euro Anzahlung.

Türkische Kunden möchten türkische Autos

Daraus haben die Türken dann 20.000 Erstkunden ausgelost, weil sie mehr Autos im ersten Jahr nicht produzieren konnten. Doch schon dieses Jahr werden es mehr als doppelt so viele sein und die ersten paar Tausend auch in den Export zum Beispiel nach Deutschland gehen, stellt Karakas in Aussicht. Ab 2025 läuft in Gemlik neben dem T10X dann auch die rund 4,80 Meter lange Limousine T10L vom Band, die in diesem Frühjahr auf der CES präsentiert wurde. Mittelfristig plant der Togg-Chef mit fünf bis sechs Modellen vom kleinen SUV bis zum leichten Lieferwagen, die alle auf einer Plattform basieren und über ein gemeinsames Band laufen. Mehr als 15 Sekunden brauche man nicht, um zwischen den Modellen zu wechseln, sagt Karakas und rechnet bis 2032 so mit einer Gesamtproduktion von einer Million Autos.

Das Togg-Werk Gemlik in Zahlen

(Bild: Togg)
  • Produktionsstart: 2023
  • Mitarbeiterzahl: 1.300
  • Kapazität: 100.000 (bis zu 175.000) Autos pro Jahr
  • Fläche Areal: 1,2 Mio, m2
  • Fläche Gebäude: 230.000 m2
  • Invest: ca 1,3 Mrd. Euro

Togg hat realistische Expansionsziele

Murat Akdas sieht Togg für das künftige Wachstum gerüstet. Er leitet das Werk und beschäftigt aktuell 1.300 Mitarbeiter, die er zum Gros schon länger kennt als seinen Vorstandschef Karakas. Denn Akdas war früher Spitzenmann bei Honda in der Türkei und hat sich die besten Kollegen für seine Startmannschaft aussuchen können, als die Japaner ihre Fabrik in der Nachbarschaft dichtgemacht haben.

Nachdem sie im letzten Jahr rund 20.000 Autos produziert haben, plant Akdas für dieses Jahr mit 45.000 Fahrzeugen und kommt bei einer Produktionszeit von rund 20 Stunden pro Fahrzeug auf eine Taktzeit von drei Minuten, die er mittelfristig aus zwei Minuten verkürzen will. „Damit sollten wir 100.000 Autos pro Jahr schaffen können“, ist er überzeugt.

Und Akdas ist fit  die Zukunft: Die Kapazität der Fabrik lässt sich mit weiteren Schichten auf bis zu 175.000 Fahrzeuge im Jahr erweitern, wenn der Werksleiter dafür seine Belegschaft verdoppelt. Und anders als bei uns kann er über Fachkräftemangel in der Türkei nicht klagen. Erst recht nicht, wenn der Job auch eine Frage der nationalen Ehre ist. Denn es macht für viele schon einen Unterschied, ob sie bei Renault arbeiten, bei Ford, Toyota oder Fiat, die in der Türkei in guten Jahren zusammen 1,5 Millionen Fahrzeuge produzieren, oder ob sie beim ersten türkischen Autohersteller unterschreieben. „Nicht umsonst wurden die Kollegen im Fernsehen gefeiert wie Nationalhelden, als letztes Jahr die ersten Autos vom Band liefen.“

Türkische Zuliefererindustrie wächst gemeinsam mit Togg

Aber Togg steht nicht nur für die Fabrik selbst und für den Aufstieg der Türkei zu einer echten Automobilnation. Sondern mit Togg wächst auch die Zulieferindustrie: „Wenn wir nach der Zahl der Komponenten gehen, sourcen wir bereits 76 Prozent lokal. Nach Kosten sind es immerhin 51 Prozent“, sagt Karakas und schließt die Batterien explizit mit ein. Die Motoren für den T10X und alle künftigen Modelle kauft er zwar bei seinem alten Arbeitgeber Bosch. Aber nicht umsonst steht links neben dem Togg-Werk auch eine Fabrik für Akkumodule, die Togg mit dem Partner Farasis Energy produziert - aktuell in Blocks von 52,4 oder 88,5 kWh, mit denen der T10X bis zu 523 Kilometer weit kommt.

Und dabei will es Karakas nicht bewenden lassen. Sondern während die Kapazität der Batterieproduktion schrittweise von derzeit drei Gigawattstunden pro Jahr auf bis zu 20 Wh zum Wechsel der Dekade steigen soll, stampfen sie rechts der Fabrik gerade eine weitere Anlage aus dem Boden, in der Togg mit Farasis im Joint Venture Silk Road Clean Energy Solutions (Siro) ab 2026 eigenen Zellen bauen und so den Import aus China überflüssig machen will. Auch in dieser Hinsicht eifert Erdogans Retortenmarke Togg also Elon Musk und Tesla nach.

Auch wenn Togg so langsam ins Laufen kommt, ist Karakas’Arbeitstag noch immer ein paar Stunden zu lang und Urlaub gönnt sich der charismatische Manager nach wie vor nur selten. Doch zumindest für die kleinen Auszeiten hat der Togg-Chef mittlerweile vorgesorgt für sich selbst und vor allem für seine Belegschaft. Denn wo andere Autofabriken klassische Kantinen betreiben, leistet sich der türkische Tesla das TOGG-ether Café am eigenen Sandstrand.

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