Die Türkei wird zur Größe in der Autowelt

Die Türkei wird in der Diskussion um die großen Autonationen in Europa oftmals übersehen - zu Unrecht. (Bild: Adobe Stock / makrushka, Ford Otosan)

Von wegen China oder die USA: Wer die Neuwagenströme in die EU untersucht, macht eine überraschende Entdeckung. Denn es sind nicht die üblichen Verdächtigen, die in der Statistik ganz oben stehen. Sondern gleich nach Großbritannien ist bereits auf Nummer zwei die Türkei zu finden, die im letzten Jahr mit 626.000 Fahrzeugen in der EU-Importstatistik noch vor den vermeintlich großen Automobilnationen lag. Und das ist nicht die einzige Überraschung. Sondern im globalen Ranking sind die Türken mit einer Fahrzeugproduktion von 1,4 Millionen im letzten Jahr und bereits 1,1 Millionen allein in den ersten drei Monaten diesen Jahres auf dem 14. Platz und damit ebenfalls unerwartet weit vorne.

Dass das Land am Bosporus so etwas wie ein Hidden Champion in der Autowelt ist, mag nicht zuletzt daran liegen, dass hier zwar 15 Lkw- und Pkw-Marken mit einer Jahreskapazität von 2,4 Millionen Fahrzeugen produzieren – darunter Marken wie Renault, Ford, Opel, Fiat und Toyota, es in der Türkei bislang aber noch nicht so recht zu einer eigenen Automarke gereicht hat. Erst recht keine, die es ins Ausland geschafft hätte. Ja, 1961 gab es den Devrim, von dem aber nur vier Exemplare gebaut wurden. Und 1966 hat Otosan mit Anadol die erste Massenmarke lanciert, die immerhin bis 1991 durchgehalten hat, bevor dann im Otosan-Werk nur noch Ford-Modelle gebaut wurden. Die erste Fabrik im Land wurde dagegen schon 1920 eröffnet, nur nicht von einem türkischen Unternehmen, sondern von Ford.

Togg hat internationale Ambitionen

Doch das Land ist ambitioniert und der Branchenverband OSD auch. Stolz darauf, seit 16 Jahren die Exportstatistik im Land anzuführen, will er den Fußabdruck der Türkei auf der automobilen Weltkarte deutlich vergrößern und das Land zum Ende der Dekade unter die Top 10 der Autohersteller bringen. Dafür buhlt Ankara nicht nur um weitere Werke aus den Ausland, sondern hat mit Togg auch eine eigene Marke mit internationalen Ambitionen aufgebaut. Bei Bursa hat das von fünf industriellen Schwergewichten aus unterschiedlichen Branchen von Handel bis Telekommunikation geformte Unternehmen eine Fabrik mit einer Jahreskapazität von 175.000 Fahrzeugen aus dem Boden gestampft und in diesem Sommer das erste von fünf Elektrofahrzeugen vorgestellt, das von der Bevölkerung fast euphorisch aufgenommen wurde. Angesichts eines überwältigenden Bestelleingangs hat Togg mit dem Export auch keine Eile, will ende nächsten Jahres in Skandinavien starten und dann 2025 auch nach Deutschland liefern.

Die Chancen für den Aufstieg des Autostandorts Türkei stehen gar nicht schlecht, sagt Jan-Philipp Hasenberg, Automotive Experte bei der Unternehmensberatung Roland Berger. Denn zur langen Tradition der Automobilproduktion komme die vorteilhafte Lage: Geografisch, weil es stabile Lieferketten und zuverlässige Transportwege gibt und wirtschaftspolitisch, weil die Türkei außen vor ist beim schwelenden Interessenskonflikt zwischen China, Amerika und Europa. „So rückt das Land bei der Reglobalisierung zunehmend in den Fokus“, sagt Hasenberg.

Zumal die Regierung sich redlich um Attraktivität bemüht, heißt es beim Strategieberater Berylls in München mit Blick auf üppige Subventionen und Steuererleichterungen für industrielle Neuansiedelungen sowie den Ausbau der Infrastruktur: Schon in den letzten 20 Jahren habe Ankara fast 200 Milliarden Dollar in Straßen, Schienen, See- und Flughäfen investiert und bereits ein neues Programm aufgelegt, das die Türkei bis 2053 zur Logistik-Drehscheibe machen soll.

Die Türkei ist längst eine Hightech-Nation

Nur, weil dort bislang vor allem billige Autos produziert würden, dürfe man zudem nicht auf einen Lowtech-Standort schließen, mahnt Hasenberg: „Der Ausbildungsstand ist gut, es gibt viele qualifizierte Arbeitskräfte und in anderen Branchen gilt die Türkei längst als Hightech-Nation“, sagt der Roland-Berger-Experte mit Blick etwa auf die Luft und Raumfahrt. Und aus den Berylls-Daten geht hervor, wie attraktiv die türkische Arbeitskraft für die Autohersteller ist: Das Durchschnittsalter der 85 Millionen Türken ist mit 34 Jahren vergleichsweise niedrig, der Bildungsstand insbesondere in den Metropolregionen Istanbul und Ankara ist hoch und die Löhne sind gering: Eine Arbeitsstunde im verarbeitenden Gewerbe kostet demnach in der Türkei mit 5,27 Dollar nur 10,6 Prozent des deutschen Vergleichswertes (49,56 Dollar). Bei rund 500.000 Mitarbeitern in der Autoindustrie kommt da einiges an Einsparpotenzial zusammen.

Aber es ist nicht alles eitel Sonnenschein, dämpft Stefan Bratzel die Euphorie. Denn bei allen Vorzügen sei die politische Situation der Türkei nicht wirklich stabil, die Stimmungslage zwischen Brüssel, Berlin und Ankara ausgesprochen volatil und die Logistik mangels EU-Mitgliedschaft nicht so unkompliziert, wie es die geografische Nähe vermuten lässt. „Da haben wir in Osteuropa bessere Optionen“, ist der Direktor des Center of Automotive Management (CAM) überzeugt. Und auch an die technische Reife der Türken will Bratzel noch nicht so recht glauben. „Bislang steht das Land vor allem für Lowcost-Fahrzeuge, Transporter und Einstiegsmodelle“, sagt der Professor und sieht bei der Elektrifizierung und der Digitalisierung noch Defizite.

Doch auch das könnte sich bald ändern, schätzt Roland-Berger-Experte Hasenberg und ein Blick in die einzelnen Werke und die Pläne der Hersteller gibt ihm recht: Schon jetzt werden bei Togg und bei Ford die ersten Elektroautos produziert, Toyota baut in der Türkei Hybrid-Modelle, es gibt eine Batteriefertigung im Land und von zahlreichen anderen Herstellern entsprechende Ankündigungen. „Und die Zulieferer im Umfeld der Werke ziehen auch mit“, gibt sich Hasenberg optimistisch.

Der türkische Markt für E-Autos steht vor dem Hochlauf

„Mit Togg kam der Zug in Bewegung“, sagt Albert Saydam, der Chef des Automotive Suppliers Association of Turkey und glaubt, dass mit dem eigenen E-Auto auch die Elektrifizierung auf den Straßen des Landes Fahrt aufnehmen könnte. Wurden in der Türkei im letzten Jahr keine 8.000 Elektroautos zugelassen, hält Saydam in drei Jahren schon eine Million Zulassungen für möglich. Natürlich nur, mit den üblichen Wenns und Abers – von den 180.000 benötigten Ladesäulen bis zur Absenkung der bis zu 95 Prozent Luxussteuer auf Neuwagen.

Zwölf Prozent mehr Produktionsvolumen im ersten Halbjahr, sieben Prozent mehr exportierte Autos und 16 Prozent mehr Umsatz - Zwar weist der Branchenverband OSD überall Plus aus. Nur über den dicksten Zuwachs mag sich keiner so recht freuen in der Türkei. Denn dass der heimatliche Neuwagenmarkt, traditionell angeführt von Fiat und Renault, in den ersten acht Monaten um 63 Prozent zugelegt hat und die mittelfristige Prognose von einer Million Fahrzeugen pro Jahr überraschend greifbar wird, liegt nicht am wirtschaftlichen Aufstieg des Landes. Sondern verantwortlich dafür ist vor allem der Verfall der türkischen Lira, die im Jahresverlauf wohl 50 Prozent an Wert verlieren wird. Die Bürger flüchten sich angesichts dieser Entwicklung in Sachinvestitionen und strömen deshalb in die Autohäuser – mit monatelangen Lieferfristen und einem überhitzten Gebrauchtwagenmarkt als Folge.

Und mit ungewöhnlichen Reaktionen der Regierung: Denn um dem wilden Treiben wenigstens ein wenig Einhalt zu gebieten, hat Ankara jetzt zumindest die Gebrauchtwagenpreise gedeckelt: Altfahrzeuge dürfen danach nicht mehr teurer verkauft werden als entsprechende Neuwagen.

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