Blicke visualisieren und digitalisieren, um damit menschliches Verhalten zu studieren – das ist Eye-Tracking. Bisher beliebt bei Marketingleuten und Rezeptionsforschern, die ergründen möchten, was Menschen wie und warum wahrnehmen. Naheliegend, dass damit auch die User Experience in Fahrzeugen erhöht wird. So weit, so bekannt. Aber auch in der Produktion beginnt das Thema eine Rolle zu spielen.
Angesichts der Digitalisierung müssen ganze Belegschaften schnell immer wieder neue Prozesse lernen. Nicht zuletzt gilt es, Arbeitsabläufe ergonomischer zu gestalten. Hier kommt die Biometrie ins Spiel. „Eye-Tracking ermöglicht es, Aufgaben und Arbeitsschritte aus der Perspektive der ausführenden Mitarbeiter zu sehen. Es liefert objektive und genaue Daten darüber, wohin sie schauen und worauf sie bei der Ausführung eines Arbeitsschritts ihre visuelle Aufmerksamkeit richten“, erklärt Nils Berger, CEO und Gründer von Viewpointsystem. Seine Firma möchte diese Vorteile mit einem Eye-Tracking-System unter anderem auch ins raue Umfeld auf dem Shopfloor bringen. Im Automotive-Bereich verwenden bereits OEMs wie Toyota, aber auch Zulieferer wie Denso, IAC (International Automotive Components Group) und Magna die Smart Glasses der Firma aus Wien. Hauptanwendungsgebiete sind Training und Ausbildung, visuelle Inspektion, Prozessoptimierung sowie Remote Support.
Wie kann Eye-Tracking in der Autoproduktion helfen?
Berger sieht in der Automobilproduktion etliche konkrete Einsatzmöglichkeiten für das Eye-Tracking: In der Ausbildung und bei Trainings helfe es bei der Vermittlung von Fähigkeiten. Es werde zur Identifizierung von Hindernissen, Störfaktoren oder Ineffizienzen in einem Arbeitsprozess und entsprechender Prozessoptimierung eingesetzt. Im Bereich der Arbeitsergonomie und Sicherheit könnten anhand von Eye-Tracking-Analysen Verbesserungen vorgenommen werden. Bei der visuellen Inspektion würden via Eye-Tracking Qualitätsabnahmen oder Audits präzise dokumentiert: „Denn anders als bei normalen Videoaufzeichnungen sieht man mit Eye-Tracking genau, welche Bereiche eines Produkts oder einer Maschine der Prüfer abgetestet hat“, erläutert Berger.
Seine Stärken spiele die Technik vor allem auch im Remote Support aus, etwa in Form der Fernunterstützung durch Experten bei Maschinenausfällen oder -reparaturen. Das System von Viewpointsystem streamt Eye-Tracking live, so dass der Experte aus der Unternehmenszentrale oder dem Customer Support ein unmittelbares Bild der Situation aus der Perspektive des Trägers erhält, inklusive der Blickpunkte, die gerade die Aufmerksamkeit des Werkers auf sich ziehen.
Wie funktioniert Eye-Tracking?
Technisch ist das alles keine Hexerei: Eine spezielle Eye-Tracking-LED in der Brille sendet Nah-Infrarotlicht (NIR) aus, das sich in den Augen des Nutzers für diesen unmerklich reflektiert. Eine IR-Kamera registriert die Reflexionspunkte und damit die Bewegungen der Pupillen, woraus sich die aktuellen Blickpunkte berechnen lassen. Diese Technik macht sich auch das auf Blicksteuerung spezialisierte Start-up 4tiitoo zunutze. Ziel der Firma ist es, im industriell-kommerziellen Umfeld das Arbeiten einfacher zu machen, indem die Maus zuhaus' bleibt und Monteure die Hände frei haben. Messungen der Münchner haben ergeben, dass während der Arbeit mit der Maus täglich eine Strecke von bis zu sechs Kilometern zurückgelegt wird – plus etlicher Klicks. Auf diese Weise ergonomischer und effizienter gestaltet bereits Benteler die Arbeit bei der CAD-Konstruktion, aber auch im Bereich der Patentanmeldung.
Warum nicht jede Brille auf den Shopfloor gehört
Weitere Anbieter solcher Systeme, die allmählich den Weg in die Industrie finden, sind unter anderem Ergoneers, Eyegaze oder Tobii. Nicht auszuschließen, dass die XR-Brille Vision Pro von Apple oder die kommende neue VR-Variante von Meta dem Thema noch zusätzlichen Schwung verleihen.
Allerdings: Nicht jedes Gerät taugt für den Shopfloor. „Entscheidend für den erfolgreichen Einsatz in der industriellen Produktion ist, dass die Technologie optimal an die Arbeitsumgebung angepasst ist“, sagt Berger „Bei Eye-Tracking-Systemen, die traditionell aus dem Bereich der Forschung und Analyse kommen, ist dies meist der Knackpunkt, da sie beispielsweise sehr empfindlich sind und nicht in wechselnden Lichtverhältnissen funktionieren.“
Daher ist das Gerät von Viewpointsystem namens VPS 19 Smart Glasses als zertifizierte Schutzbrille nach EN 166 zwar robust ausgeführt, bleibt dabei aber leicht zu tragen. Dazu kommt eine Smart Unit mit Touch-Display für Berechnungen und Übertragungen. Die Frontkamera der Brille zeichnet die Umgebung des Trägers auf, zwei weitere Kameras erfassen dessen Augenbewegungen. Was erblickt wird, kann aus der Ferne im Livestream mitverfolgt werden.
So gelingen bessere und schnellere Trainings
Während des Streamings kann ein externer Experte dem Träger zudem Screenshots mit Anweisungen oder Zeichnungen auf die Smart Unit schicken. So sorgt er für präzise Anleitungen und Hilfestellungen, ohne dass es komplizierter Erklärungen bedarf. „Dies ermöglicht in Kombination mit dem Eye-Tracking eine verlustfreie Kommunikation auch über Sprachbarrieren hinweg und in lauten Produktionsumgebungen“, sagt Berger. Nicht zuletzt hat der Träger die Hände frei für die Arbeit. Und: „Die Eye-Tracking-Aufnahmen können zu Trainings-, Dokumentations- und Prozessoptimierungszwecken verwendet werden“, ergänzt Berger. Das Streaming ermögliche auch Live-Trainings, bei denen Trainer und Trainee über Video, Audio und Blickpunkt-Anzeige direkt verbunden sind.
Zulieferer Denso berichtet beispielsweise darüber, dass dank Eye-Tracking die Trainingszeiten für Mitarbeitende um die Hälfte gesenkt werden konnten. Denn geschult wird mit den visuellen Blickmustern langjähriger Inspektoren, so dass Newcomer direkt von den Erfahrungen der Profis profitieren.
Qualifizierung muss mit der Technik Schritt halten
Auf diese Weise den Blick zu schärfen, und das in immer schnelleren Takt, wird für Produktionsteams in der Automobilindustrie immer wichtiger. Berger: „Die Automatisierung und Digitalisierung in der Produktion haben zur Folge, dass sich die Aufgaben und Berufsbilder der Mitarbeiter schnell ändern.“ Viele müssten sich neu orientieren und beispielsweise lernen, wie man Maschinen oder Roboter bedient oder programmiert, nachdem sie zuvor manuell gearbeitet haben. „Der Wissens- und Schulungsbedarf ist enorm“, betont Berger, „Eye-Tracking liefert nützliche und präzise Daten für das Up- und Reskilling von Mitarbeitenden.“
Auch bei der Fernunterstützung und -wartung werde die Technologie künftig zur festen Größe: „Unternehmen sparen Zeit und Reisekosten, vermeiden Downtimes durch die sofortige Hilfe eines Experten und maximieren die Anlagenverfügbarkeit“, sagt Berger. Nebeneffekt: Unnötige Reisen von Fachpersonal werden vermieden und CO2-Emissionen eingespart.
Nicht zuletzt führe der sich verschärfende Fachkräftemangel dazu, dass für bestimmte Prozesse und Aufgaben schlicht keine Fachkraft mehr an jedem Produktionsstandort verfügbar sei. Ein Problem, das sich remote lösen lässt. Berger ist jedenfalls überzeugt: „Eye-Tracking wird dazu beitragen, AR und MR noch viel intuitiver und nutzerfreundlicher zu machen, was entscheidend sein wird für die Mainstream-Tauglichkeit und letztlich den Erfolg dieser Technologien.“