Um in diesen streng geschützten Bereich zu kommen, heißt es erst einmal auf das Firmengelände zu kommen. Es dürfte eine der härtesten Türen im Ländle sein, denn die Pförtner am Tor 16 des Mercedes-Werks Sindelfingen verstehen keinen Spaß, wenn es um Eindringlinge geht. Schon gar nicht, wenn diese nicht schwäbisch sprechen und es ein Leben neben Zwiebelrostbraten und Maultaschen existiert. Selbst mit Anmeldung und entsprechenden Formularen stolpert in diesen streng gesicherten Daimler-Bereich niemand herein. Es ist nass und kühl. Kein Wunder, dass sich ein gutes Dutzend weiterer Personen eiligst Zutritt in das kleine Wärterhäuschen verschaffen wollen. Sie haben Computer dabei, müssen zu einem Besprechungsmarathon oder tragen kleinere Bauteile unter dem Arm, in der Hoffnung, dass diese später ein Placet von der Daimler-Entwicklungsabteilung bekommen.
Heute geht es via Tor 16 nicht ins Designcenter oder den Bereich, in dem die Prototypen zukünftiger Fahrzeuge aufgebaut werden. Wie ein Mercedes fährt, entscheidet sich mittlerweile in erster Linie an den Fahrsimulatoren. "Wir führen mittlerweile einen Großteil unserer Erprobungen virtuell durch", erläutert Markus Riedel, Direktor Ride und Handling im Hause Daimler, "damit können wir den Ingenieuren bereits eine Basis an die Hand geben, auf der sie bestens aufbauen können." Ist anhand des Lastenhefts und unzähliger Versuche am Computer sowie an dem Ride- und Fahrsimulator ein Grundpaket gefunden, geht es in die aufwendige Feinabstimmung. Fahrtests in der ganzen Welt sorgen dafür, dass das entsprechende Mercedes-Modell nach dem jahrelangen Entwicklungsprozess schließlich auch so fährt, wie es soll und der Kunde eines Sternenmodells es erwartet. "Für uns bei Mercedes steht der Komfort immer an erster Stelle", räumt Markus Riedel ein, "auch bei den sportlichen Modellen. Ein Mercedes muss immer komfortabel fahren - dazu gehören insbesondere Sicherheit und Souveränität in jeder Fahrsituation."
Hört sich erst einmal nett an. Doch eine Etage tiefer im sogenannten Ride-Simulator zeigt sich, was das heißt. Man nimmt Platz auf einer voll beweglichen Insel, auf der zwei Ledersitze befestigt sind, die diesmal aus einem Mercedes GLE stammen. Kein Lenkrad, keine Pedale, sondern man soll mit dem Körper nur fühlen, wie sich das Auto auf den Testrecken bewegt. Angeschnallt, der Ride-Simulator drückt sich einen halben Meter nach oben und los geht die virtuelle Tour. Auf dem gigantischen Bildschirm geht es zunächst auf eine Komfortstrecke des neuen Testcenters in Immendingen, das vor einem Jahr eröffnet wurde. Ein paar hundert Meter mit Querfugen, Gullydeckel und einem Fahrbahnbelag, wie man ihn aus Europa kennt. Es kommen Wellen, Unebenheiten und wieder ein paar Unebenheiten. Das gleiche nochmals und noch einmal. Wiederholungen sind hier das A und O. Hier hoppelt es mehr, da weniger - der Ingenieur hinter dem Steuerpult weist darauf hin, dass die Fahrten vorhin nicht entspannt genug für einen Mercedes gewesen seien. Mal zu schwammig mit hohen Aufbaubewegungen, mal zu stramm mit stößigen Anregungen. Die letzte Fahrt noch einmal - hier passt das Paket. Nicht zu stößig und nicht zu schwammig. So soll es sein, wenn es einen Stern tragen soll - egal, ob A- oder S-Klasse, AMG-Sportversion oder Elektromodell, die völlig neue Anforderungen bei der Fahrwerksentwicklung mit sich bringen.
Mit Tempo 200 durch die Pylonen
"Unser Anspruch ist es, dass man unsere Fahrzeuge sofort erkennt. Nicht nur am Mercedes-typischen Design, sondern auch am Fahrverhalten", erläutert Markus Riedel, "konkret zeichnet sich ein Mercedes durch drei stark ausgeprägte Charaktereigenschaften aus: Bestmöglicher Fahrkomfort, hohe Fahrsicherheit und spürbare Souveränität. Ein Mercedes-Fahrer muss in jeder Situation den Eindruck haben, dass sein Fahrzeug noch Reserven hat." Nach einer guten halben Stunde geht es über die Treppe eine Etage nach oben zum Fahrsimulator, einem der modernsten der Welt. Über eine Brücke geht es aus dem Kontrollraum in eine Art Raumschiff - und das hebt gleich ab. In der Karbonkugel, die sich auf einem zwölf Meter langen Gleitschlitten nebst Dämpfern ohne jeden Bodenkontakt hin und her bewegt, befindet sich eine weiße Mercedes C-Klasse - umrahmt von mächtigen Bildschirmen, die wie ein 360-Grad-Kino erscheinen. "Das Modell ist aktuell eine C-Klasse, doch wir können mit dem Fahrsimulator jedes beliebige Fahrzeug auf den verschiedensten Strecken abbilden", sagt Arne Felske, verantwortlich für den Bereich Handling Simulation. Der Eingang verschließt sich, die Brücke ins vermeintliche Raumschiff fährt zurück und das Auto legt nahezu lautlos ab in eine virtuelle Realität. Über Lautsprecher gibt es Anweisungen für die nächste Testfahrt. Alles, wie man es aus einem realen Auto kennt - Tür zu, anschnallen, Klimaanlage an und am Lenkrad die Fahrstufe einlegen. Diesmal geht es nicht auf eine Komfortstrecken, sondern es werden mit verschiedenen Fahrzeugen, Reifen und Beladungszuständen Ausweichmanöver gefahren.
Nach der leichten Einstimmung mit Tempo 130 geht es mit Tempo 200 in einem Mercedes GLE Coupé in die Pylonengasse. Zuerst ist das Fahrzeug leer, mal mit schlechten Reifen oder einer ungünstigen Aerodynamik ausgestattet, die es anfälliger für die böigen Seitenwinde mit 60 km/h macht. Alles im grünen Bereich - leicht gegenlenken und in der Spur bleiben. Jeder mögliche Parameter kann hier variiert und getestet werden. Ein paar Klicks im Kontrollraum und schon wird aus dem Mercedes GLE Coupé die deutlich handlichere C-Klasse mit weniger Wankbewegungen in der Karosserie. Das gleiche noch einmal - die Unterschiede sind deutlich. "In dem Simulator können wir jede Erprobung nachfahren - immer wieder und das ganze so wetterunabhängig reproduzierbar machen. Das ist für uns extrem wichtig", legt Riedel nach, als es zurück in den Kontrollraum geht.
S-Klasse und EQS kommen
Das Zünglein an der Waage bleiben letztlich jedoch die Testingenieure, die mit den Fahrzeugen auf allen Kontinenten in Eis, Schnee, Sand, Hitze, Kälte, Innenstädten und Autobahnen auf der ganzen Welt unterwegs sind und die im Entwicklungsprozess Millionen von Kilometern abreißen. Nur so stimmt das Gesamtpaket und der Stern kommt auf Motorhaube und Lenkrad. "Die Simulationen werden immer besser", ergänzt Riedel, "doch die letzten zehn Prozent können wir aktuell am Computer noch nicht wie in der Realität abbilden." So geht es ein Stockwerk weiter unten auf dem Parkplatz in die Prototypen und mit ihnen 20 Minuten weiter nordöstlich auf die Stuttgarter Einfahrbahn oder ins gut eine Stunde südlich von Sindelfingen gelegene Immendingen, um die Tests in der Realität zu verifizieren. Die gleichen Strecken - die gleichen Tests - irgendwie wirkt es geradezu surreal, dass das, was man vorher an den Großbildschirmen erlebte, nun in der Realität abläuft. Um sicher zu sein, fährt man das Fenster herunter und atmet tief durch. Es regnet - immerhin etwas Natur.
Völlig neue Aufgabenbereiche bringen auch die Entwicklungen an Elektrofahrzeugen und Plug-in-Hybriden, denn hier machen sich die geänderten Gewichtsverteilungen sehr deutlich bemerkbar. "Die Fahrzeuge haben einen niedrigeren Schwerpunkt und gerade die Plug-in-Hybriden tragen mehr Gewicht auf der Hinterachse, da hier die Akkus verbaut sind", erklärt Arne Felske, "das spürt man bei den Tests natürlich." Denn natürlich sollen sich auch die elektrifizierten Fahrzeuge wie echte Mercedes-Modelle fahren. Und in den nächsten beiden Jahren stehen dabei nicht weniger als die Königsaufgaben an. Im Herbst 2020 kommt die neue Mercedes S-Klasse, die die Fahrwerksmaßstäbe in der Luxusklasse neu definieren soll. Das will ab 2021 auch die Elektroversion des Mercedes EQS - man darf gespannt sein, doch in Sachen Komfort sollen beide Fahrzeuge in neue Dimensionen eindringen.
Hier lässt sich am eigenen Leibe ein Phänomen erleben, was aus der Akustik bekannt ist: der Maskierungseffekt. "Wenn man heute in einem ganz normalen Auto auf der Straße unterwegs ist, nimmt man Außengeräusche wie den Fahrtwind kaum wahr, weil sie vom Motorgeräusch überlagert werden. In einem Elektroauto fehlen diese Geräusche - und schon kommt einem der Fahrtwind sehr viel lauter vor," erläutert Markus Riedel. So ähnlich verhält es sich mit den verschiedenen Schwingungsfrequenzen: "Wir können natürlich versuchen, alle niederfrequenten Aufbaubewegungen des Fahrzeugs wegzudämpfen. Die hochfrequenten Schwingungen bleiben aber - und das ist dann dieses Kribbeln in der Magengegend, das viele Menschen schnell als sehr unangenehm empfinden."