Portraitbild von Henner Lehne, Vice President Global Vehicle Group, IHS Markit

IHS-Experte Henner Lehne rechnet erst 2022 wieder mit einer Erholung der Märkte. (Bild: Archiv)

Herr Lehne, die Autobranche hat die Nachwirkungen der Pandemie größtenteils überwunden, ist mit dem Halbleitermangel jedoch direkt in die nächste Krise gestürzt. Wie schätzen Sie die aktuelle Lage der Branche ein?

Schlimmer als letztes Jahr. Die Pandemie war ein großes Absatzhemmnis, weil der stationäre Fahrzeugvertrieb monatelang im Lockdown war und auch Menschen in Kurzarbeit nicht unbedingt das Bedürfnis hatten, sich in dieser Phase ein neues Fahrzeug zuzulegen. Der Restart nach Corona war aber durchaus erfolgreich mit hoher Nachfrage und einem gesteigerten Produktionsvolumen mit bis zu 84,5 Millionen Einheiten für 2021. Der globale Halbleitermangel hat der Industrie jedoch einen deutlichen Dämpfer verpasst. Wir rechnen in diesem Jahr nur noch mit 74,8 Millionen produzierten Fahrzeugen – also auf Vorjahresniveau. Das ist aufgrund der ursprünglich positiven Prognosen für ein erfolgreiches Jahr 2021 ein ernüchterndes Ergebnis. Für das kommende Jahr rechnen wir wieder mit einer leichten Erholung der Märkte und rund 82,7 Millionen produzierten Einheiten. Es geht also wieder bergauf. Dennoch sind die Zahlen im Vergleich zum Vorkrisenjahr 2019 mit 89 Millionen Einheiten gewiss noch auf sehr niedrigem Niveau. In 2017 waren es sogar schon einmal 95 Millionen Einheiten.

Millionen Fahrzeuge werden dieses Jahr nicht mehr produziert werden können. Was bedeutet das für das kommende Jahr? Muss man diese Einheiten bereits abschreiben?

Wir haben nun das zweite Krisenjahr in Folge, die Hersteller kommen mit diesen Abschreibungen noch ganz gut zurecht, da sie die Folgen durch Hoch-Margen-Fahrzeuge abfedern können. Viel härter trifft es hingegen die Commodity-Zulieferer, die auf Stückzahlen angewiesen sind. Beispielsweise Hersteller von Abdeckungen im Innenraum für A- und B-Säulen. Sie haben nichts davon, wenn nur noch hochpreisige Fahrzeuge in geringen Stückzahlen verkauft werden. Dieser Mittelbau der Industrie ist aktuell stark gefährdet.

Kurzarbeit und Werksschließungen sind kurzfristige Maßnahmen, die OEMs und Zulieferer nutzen, um die Produktionsausfälle abzufedern. Was sollte als Erkenntnisgewinn aus dem Halbleitermangel für künftige Krisen haften bleiben?

Die Automobilbranche hat mittlerweile erkannt, dass die Chipindustrie nach anderen Spielregeln arbeitet. Wenn OEMs bisher manche Komponenten mit zwölf Wochen Vorlaufzeit eingekauft haben, so brauchen die Chiphersteller bis zu 24 Monate Vorlauf für die Produktion. Der Umgang mit strategischen Zulieferern hat sich also radikal verändert. Schon nach der Reaktorkatastrophe von Fukushima gab es zaghafte Bestrebungen der Automobilisten, mehr Planbarkeit und Voraussicht in die Lieferprozesse zu bringen, das hat sich dann jedoch relativ schnell aufgrund der hohen Kosten erledigt. Nun steht die gesamte Branche wieder vor dem gleichen Dilemma. Darüber hinaus braucht es künftig eine genaue Analyse, wie hoch der Chipbedarf für die einzelnen Fahrzeuge ist. Aktuell arbeiten die Autobauer mit älteren Chipgenerationen, die auch für Smartphones, Kameras und kontaktloses Bezahlen verwendet und von diesen Unternehmen in deutlich höheren Stückzahlen geordert werden. Es zeigt sich, dass das Komponentengeschäft vom reinen Teile-Thema immer mehr zum Tech-Thema wird, da Fahrzeuge über immer mehr Softwarefunktionen verfügen. Auch die Komplexität ist ein weiterer Punkt: Ob ich jetzt 32 verschiedene Varianten
mit unterschiedlichen Optionspaketen bei der Ausstattung brauche, darf durchaus bezweifelt werden.

Während große Automobilhersteller den Chipmangel finanziell abfedern können, trifft es Zulieferer und Sublieferanten umso härter. Welche Auswirkungen befürchten Sie für diese Unternehmen?

Ein paar Insolvenzen haben wir in den letzten Wochen in diesem Umfeld bereits gesehen. Die systemrelevanten Zulieferer werden sicherlich durchkommen, weil Autohersteller diese stützen müssen. Für die verlorenen Volumen müssen die OEMs vertraglich aufkommen. Doch wenn das bisherige Geschäftsmodell bereits auf Kante genäht ist, könnte es für den ein oder anderen Supplier eng werden. Weitere Fusionen sind hier wahrscheinlich, um zu überleben. Corona hat hier sicherlich einen Trend beschleunigt, der sich in den vergangenen Jahren bereits abgezeichnet hat.

Vulnerable Lieferketten waren schon in der Hochphase von Covid-19 ein großes Problem. Kommt die Automobilindustrie aufgrund des Kostendrucks gar nicht drum herum, ihre Komponenten von komplett unterschiedlichen globalen Playern zu beziehen?

Das Problem ist hier auch wieder die alte Chipgeneration, auf die Automotive-Akteure setzen. Diese werden auch weiterhin nur an bestimmten Standorten von einigen wenigen Herstellern produziert. Auch wenn die globale Halbleiterindustrie in neue Fertigungsstätten und Produktionsverfahren investiert, gilt das in erster Linie für neue Chipgenerationen, die von den Tech-Unternehmen nachgefragt werden. Die Autobranche muss hier noch durch einen Erneuerungsprozess gehen, um künftig profitieren zu können. Dazu trägt definitiv die Elektromobilität bei, die auf moderne Fahrzeugarchitekturen aufbaut. Dennoch lässt sich das Problem nicht so schnell aus der Welt schaffen.

China war lange Jahre ein Wachstumstreiber für die Automotive-Akteure. Nun schwächelt auch dieser Markt erheblich. Rechnen Sie im Reich der Mitte mit einer schnellen Erholung oder stellen sich auch hier Sättigungseffekte ein, die wir schon längere Zeit in Nordamerika und Westeuropa beobachten?

China ist nach wie vor ein Wachstumsmarkt. Alle grundlegenden Daten weisen darauf hin, dass sich das Reich der Mitte von der Krise wieder erholen wird. Ein Problem Chinas ist natürlich, dass sich viele Mobilitätstrends nur auf die großen Metropolen beschränken. In der Fläche dauert es deutlich länger, bis sich eine bestimmte Marktdurchdringung abzeichnet. Auf 1.000 Personen kommen 177 Fahrzeuge. Das bedeutet Rang 54 in der Welt, also ist da noch deutlich Luft nach oben. Irgendwann wird sich der Markt natürlich abflachen. Das Ende des Wachstums ist aber noch längst nicht erreicht. Insbesondere in den Bereichen Elektromobilität und autonomes Fahren ist China ein attraktiver Standort. Das Interesse an Mobilität ist ungebrochen hoch und das Auto ist hier nach wie vor ein wichtiges Statussymbol. Wenn hier die Kapazitäten nicht von der Regierung eingegrenzt werden, wird es auf die nächsten Jahre gesehen keine Sättigungseffekte geben.

Auch wenn die Zulassungszahlen in Deutschland noch auf einem überschaubaren Niveau liegen, fällt auf, dass der Absatz an Hybriden und reinen E-Autos immer weiter steigt. Würden Sie denn sagen, dass sich die Elektromobilität in der Fläche bereits durchgesetzt hat?

Wir müssen in diesem Umfeld aufpassen, dass wir nicht in verfrühte Euphorie verfallen. Es gibt aktuell eine Verzerrung auf dem Markt. Neben Hoch-Margen-Fahrzeugen bauen die OEMs vermehrt E-Autos, um ihre Flottenemissionsziele erreichen zu können. Daher fließen große Summen in die E-Mobilität. Für einen Durchbruch ist es jedoch sehr früh. Wir sehen aktuell viele First Mover, die sich für batterieelektrische Fahrzeuge interessieren. In Zukunft müssen aber auch die Preise für Stromer im C- und B-Segment sinken, damit die Fahrzeuge auch für einen großen Kundenkreis attraktiv werden. Denn um in Europa die Pariser Klimaziele erreichen zu können, braucht es auf Nachfrageseite noch einen deutlich größeren Schub. Bis 2030 muss dafür jedes zweite neu zugelassene Auto bereits ein vollelektrisches Fahrzeug sein. Das ist eine steile Rampe, die die Automobilindustrie begehen muss. Und selbst wenn dieses Ziel erreicht wird, bedarf es noch einer großen Kraftanstrengung in Sachen Ladeinfrastruktur und Ausbau von Grünstromangeboten, um die Elektromobilität auch wirklich nachhaltig zu gestalten. Wohlhabendere EU-Staaten wie Deutschland, Frankreich oder die Niederlande können das sicherlich hinbekommen, doch bei süd- und osteuropäischen Staaten wie Italien, Polen, Ungarn oder Tschechien sehe ich da größere Probleme auf die Industrie zukommen.

Könnten auch die aktuellen Preise an den Tankstellen diese Entwicklung weiter befeuern?

Die aktuellen Energiepreise begünstigen sicherlich den Trend zu batterieelektrischen Fahrzeugen. Doch wie langanhaltend diese Entwicklung ist, bleibt fraglich. Die USA und andere Staaten stehen bereits in Verhandlungen mit der OPEC, um weitere Kapazitäten auf dem Rohölmarkt freizumachen. Der Preis an der Zapfsäule könnte also auch bald wieder sinken.

Wie fallen Ihre Prognosen bezüglich alternativer Antriebe für die nächsten Jahre aus?

Es wird sich zeigen, inwieweit und wie schnell andere Käufergruppen nach den First Movern auf Elektromobilität umsteigen. Dafür müssen sowohl fahrzeugseitig einige Kinderkrankheiten wie die geringe Reichweite und hohen Anschaffungskosten aus dem Weg geräumt als auch die entsprechenden Rahmenbedingungen rund um das Laden
zuhause oder am Arbeitsplatz geschaffen werden. Es gibt ja bereits Abo-Modelle, über die man die Elektromobilität unverbindlich ausprobieren kann. Sicherlich werden mit einem breiteren Produktportfolio noch mehr Menschen auf elektrische Fortbewegung setzen. Wenn die Rahmenbedingungen passen, prognostizieren wir, dass jedes fünfte Fahrzeug im Jahr 2025 schon ein batterieelektrisches Modell sein wird.

Der Verkauf von Elektrofahrzeugen alleine ist jedoch nur eine Seite der Medaille. In Zukunft wird es verstärkt auch darum gehen, Produktionsstätten für Batterien und Komponenten in Deutschland selbst aufzubauen. Wie sehen Sie die deutschen Hersteller in diesen Bereichen aufgestellt?

Ich denke, da tut sich einiges und das ist auch wirklich gut so. Die Batterie wird künftig eines der großen Differenzierungsthemen in der Automobilbranche sein. Erstens über Kosten, aber auch über Performance und Leistung. Die deutsche Autoindustrie tut gut daran, sich hier eigene Kompetenzen aufzubauen. Wem der Durchbruch etwa bei der Feststoffbatterie gelingt und wer die Technologie zu einem guten Preis auf den Markt bringen kann, der wird die Nase vorn haben. Der Aufbau einer eigenen Zellproduktion hierzulande hat nur Sinn, wenn man die Lebenszyklusanalyse des Gesamtfahrzeugs im Blick hat. Da bringt es logischerweise wenig, wenn die Batterien auch künftig aus China kommen, die dort mit Energie aus Kohlekraftwerken produziert werden. Wir sehen jetzt schon ein Rennen um Kapazitäten und Rohstoffe und da haben die deutschen OEMs eine ganz gute Ausgangsposition.

Ein blauer Tesla lädt an einer Ladesäule.
Bis 2030 muss jedes zweite neu zugelassene Auto bereits ein vollelektrisches Fahrzeug sein, um die Pariser Klimaziele erreichen zu können.

In den vergangenen Jahren sind Startups im Bereich Elektromobilität wie Pilze aus dem Boden geschossen. Während sich einige dieser Unternehmen zu gestandenen OEMs entwickelt haben, gibt es auch eine Vielzahl an Insolvenzen und nicht eingelösten Versprechen. Glauben Sie, dass der Hype um die elektrifizierte Fortbewegung etwas abgenommen hat?

Der Hype ist noch nicht vorbei. Die Finanzmärkte pushen nach wie vor Investitionen in die Elektromobilität. Tesla hat es in diesem Umfeld vorgemacht und ist mit einem ganz neuen Technologieansatz gestartet. Das lässt sich in der Form natürlich jetzt nicht einfach wiederholen. Dennoch wird es sicherlich auch in Zukunft Nischen geben, in denen Unternehmen Fuß fassen können. Nio, Rivian und Polestar sind da nur einige Beispiele. Auch Auftragsfertiger wie Foxconn möchten ja nun in Richtung Elektromobilität gehen und eine eigene Plattform anbieten. Da bleibt abzuwarten, inwieweit diese Strategie von Erfolg geprägt sein wird.

Das autonome Fahren galt lange als große Verheißung der Automotive-Branche. Aufgrund steigender Entwicklungskosten schrecken viele Player jedoch vor der weiteren Entwicklung zurück. In welchen Zukunftsfeldern rechnen Sie in den nächsten Jahren mit den größten Investitionen und warum?

Beim autonomen Fahren gibt es nach wie vor zwei Fraktionen: Auf der einen Seite gibt es Akteure wie Waymo, die alles auf die Karte vollautonomes Fahren auf Level 5 setzen. Daneben gibt es die gestandenen Automobilhersteller, die von Anfang an die Schwierigkeiten bei der Entwicklung gesehen und eher zurückhaltend in die Technologie investiert haben. Momentan werden Gelder abgezogen und fließen in die weitere Elektrifizierung der Fahrzeuge, da dieses Thema aktuell deutlich drängender ist. Dennoch können Hersteller die bisherigen Entwicklungen beim automatisierten Fahren für die jetzigen Fahrzeuggenerationen bereits für teilautonome Systeme nutzen, etwa für einen Staupiloten. Längerfristig wird das Thema in den nächsten 20 bis 30 Jahren ein disruptiver Faktor sein, weil Mobilität bis dahin nochmal völlig neu gedacht werden muss. Noch ist viel Wunschpotenzial in der Technologie, doch das wird sich in Zukunft definitiv ändern. Insbesondere in den urbanen Räumen werden wir an neuen Formen der Mobilität nicht vorbeikommen.

Henner Lehne ist einer der Top-Referenten auf dem automotive production summit 2021 am 2. Dezember. Sichern Sie sich hier noch ein Digital-Ticket für das Event.

 

Weitere Top-Speaker sind unter anderem:

Dr. Peter Weber, Leiter BMW Group Werk München

Prof. Dr.-Ing. Günther Schuh, Inhaber des Lehrstuhls für Produktionssystematik an der RWTH Aachen, Mitglied des Direktoriums des WZL, Fraunhofer IPT und FIR

Rene Wolf, Geschäftsführung, Ressort Fertigung, Ford-Werke GmbH

Andreas Lehe, Leiter Strategic Planning, Audi

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