Seit Jahrzehnten werden in der Türkei Fahrzeuge gebaut – von den verschiedensten Autoherstellern. Was bislang fehlte, war eine heimische Marke und die wird ab Anfang kommenden Jahres Fahrzeuge produzieren – natürlich elektrisch.
Hinter Togg steht ein Konsortium türkischer Unternehmen und Wirtschaftsorganisationen, das aus der Anadolu Grubu Holding A.Ş., BMC Otomotiv Sanayi ve Ticaret A.Ş., Turkcell İletişim Hizmetleri A.Ş., Zorlu Holding A.Ş. und der Union der Kammern und Warenbörsen der Türkei besteht. An der Spitze der Turkey's Automobile Initiative Group – oder Türkisch Türkiye'nin Otomobili Girişim Grubu, kurz: Togg – steht mit Mehmet Gürcan Karakaş ein CEO, der drei Jahrzehnte an verantwortlichen Stellen in der Autoindustrie arbeitete – zuletzt verantwortlich für die Elektroantriebe bei Bosch.
An Togg halten die fünf gleichberechtigten Partner jeweils 19 Prozent, die restlichen fünf Prozent verbleiben bei Togg selbst. Unter den Anteilseignern haben die Firmen Anadolu und BMC bereits einige Erfahrung in der Automobilindustrie, da sie Autos, Lastwagen und Busse für verschiedene ausländische Autohersteller produziert haben. Turkcell ist ein nationaler Telekommunikationsdienstleister, während die Zorlu Holding im Bereich Fernsehgeräte und Heimelektronik unterwegs ist und für die Technik im Fahrzeug sorgen soll.
Togg gibt ersten Ausblick auf der CES
Für den internationalen Erstaufschlag hat sich der neue türkische Autoproduzent einen ebenso aussagekräftigen wie imageträchtigen Ort ausgesucht, denn nicht auf der IAA 2021 oder einer anderen europäischen Messe gab es gleißende Scheinwerfer und die ersten Produkte zu bestaunen, sondern weit der türkischen Heimat entfernt auf der größten IT- und Computermesse der Welt, der CES 2022 in Las Vegas.
Togg sieht sich dabei weniger als traditioneller Autohersteller, sondern als Anbieter einer offenen Mobilität, bei dem das Auto als smartes Device nur eines der verschiedenen Module ist. Auf der CES enthüllte Togg im Wüstenstaat Nevada mit einem elektrischen Fastback nun indirekt einen Ausblick auf das erste Serienfahrzeug, das im ersten Quartal 2023 zunächst zu den türkischen Kunden rollen soll.
„Ende 2022 werden wir unser erstes Serienfahrzeug lancieren. Nach Abschluss der Homologationstests wird unser erstes Fahrzeug im C-Segment, der SUV, im ersten Quartal 2023 auf den Markt kommen“, erläutert Togg-CEO Mehmet Gürcan Karakaş, „es wird es das erste rein elektrische SUV sein, das von einem nicht traditionellen Hersteller auf dem europäischen Kontinent produziert wird. Danach werden eine Limousine und ein Fließheckmodell im C-Segment in die Produktion gehen. Mit den dann folgenden B-SUV und C-MPV Modellen wird unsere Produktpalette aus fünf Modellen bestehen, mit der gleichen DNA und der gleichen Plattform.“ Das Design entsteht nicht nur bei den Kreativexperten von Pininfarina, sondern unter Einfluss von Murat Günak, der in den frühen 2000er Jahren für das Aussehen der Volkswagen-Modelle verantwortlich zeichnete.
Togg ist auch ein politisches Projekt
Ein eigener Autohersteller aus der Türkei für die heimische Bevölkerung, das war nicht zuletzt eine Herzensangelegenheit des Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan, der sein Land in den europäischen Wirtschaftskreislauf einbringen will. Da käme ein moderner Autohersteller ohne Altlasten gerade recht, der sich zeitgemäß auf elektrische Fahrzeuge spezialisiert. Zusammen mit den Elektroautos hält auch ein Netz von Ladesäulen in der Türkei Einzug und die will das Konsortium auch den anderen Automarken zugänglich machen.
Erdogan und das nationale Wirtschaftsministerium waren verärgert, dass der Volkswagen Konzern 2019 die Pläne für sein 300.000-Fahrzeuge-Werk aufgrund der politischen Stimmung zu den Akten legte. Zunächst will man sich in einer Testphase auf dem Heimatmarkt behaupten, doch dann steht die Expansion in andere europäische Länder an, wobei zunächst Skandinavien ins Visier genommen werden soll. Bis zum Ende des Jahrzehnts will Gürcan Karakaş insgesamt eine Million Fahrzeuge in fünf verschiedenen Segmenten produzieren.
Produktion im türkischen Gemlik
Toggs Autos sollen auf absehbare Zeit aus der neuen Fertigung nahe Gemlik in der Region Bursa kommen, die aktuell aufgebaut wird und nach 18 Monaten Bauzeit in diesem Herbst offiziell eröffnet werden soll. „Es ist eine grüne Produktion im Nordwesten der Türkei am Marmara-Meer“, unterstreicht Karakaş, „wir haben dort eine Größe von 1,2 Millionen Quadratmetern und können dort zum Start 175.000 Fahrzeuge pro Jahr fertigen. Dabei ist das Werk modulartig aufgebaut und wir können es problemlos jederzeit erweitern.“ Insgesamt sollen für die neue Automarke über Zeitraum von zehn Jahren mehr als 3,5 Milliarden US-Dollar investiert werden.
Doch erst einmal braucht man Kunden und diese zu finden, wird gerade im eigenen Land nicht einfach, denn die Elektromobilität ist in der Türkei noch längst nicht angekommen. Über die Ladeinfrastruktur sagt Karakaş: „Die Ladeinfrastruktur wird im Jahr 2022 nicht nur für inländische Fahrzeuge, sondern auch für Elektroautos anderer Marken bereitstehen.“ Dazu wurde mit lokalen Versorgern ein quadratisches Rastersystem über das Land gelegt, das in den kommenden zwei Jahren mit Ladepunkten gefüllt werden soll.
Ein E-Auto und Smart Device
Die Rahmendaten des geplanten SUV lesen sich so, wie von vielen anderen Modellen, die in den kommende zwei Jahren auf die internationalen Märkte rollen. Ein Mittelklasse-Crossover mit verschiedenen Akkupaketen und Reichweiten zwischen 300 bis 500 Kilometern ohne nachzuladen, der wahlweise mit 200 oder 400 PS angeboten wird. Als Gegner sieht Togg-CEO Gürcan Karakaş Modelle aus dem C-Segment wie einen Peugeot 3008, einen Nissan Qashqai oder die Skoda-SUV.
Nachdem das Erstlingswerk im ersten Quartal kommenden Jahres in den türkischen Handel rollt, soll auf der gleichen Plattform bis Ende 2024 eine Mittelklasselimousine mit ähnlichen Leistungsdaten folgen. Dann wäre zeitlich auch die Expansion nach Deutschland oder andere Länder in Zentraleuropa denkbar. Ein eigenes Vertriebsnetz soll es nicht geben, Marken- und Flaggshipstores sollen die Kunden neben dem gefälligen Design zu Togg locken.
Dass die Türken die Autos als mobile Geräte eines Gesamtsystems sehen, ist schon daran zu erkennen, dass die Erträge langfristig nicht allein mit dem Verkauf und der Wartung eigener Fahrzeuge in die Kasse rollen sollen. Im Kern steht eine „tech-affine Zielgruppe“ im Alter zwischen 35 und 50 Jahren, die offen für ein ganzes Ökosystem ist. Daher gibt es Pläne, dass mit den Daten Geld verdient wird, die das Auto und deren Nutzer generieren. „Da ist einiges denkbar“, erläutert Mehmet Gürcan Karakaş, „Paketlieferungen ins Auto, Bankgeschäfte aus dem Fahrzeug – wir arbeiten aktuell bereits mit 30 Start-Ups zusammen, die Prototypen zukünftiger Dienstleistungen für uns erproben.“