Warum in die Ferne schweifen: Während die von gesättigten Märkten im Westen geplagten Vertriebschefs ihr Heil nach wie vor in China, in Indien oder in den aufstrebenden Ländern Südamerikas suchen, wird eine buchstäblich naheliegende Region dabei gerne übersehen: Der Norden Afrikas. Allein in Marokko, Tunesien und Algerien existiere eine potenzielle Kundenbasis, die die Branche bislang sträflich vernachlässigt habe, erkannte der einstige Seat-Chef James Muir schon vor zehn Jahren. „Dabei sind das für uns genauso Nachbarländer wie Frankreich oder Portugal“.
Seitdem hat sich zwar ein bisschen was getan in Algier, Tunis, oder Marrakesch. Doch mit gerade einmal 180.000 Neuzulassungen im Jahr 2022 sind zum Beispiel die 37 Millionen Marokkaner nach wie vor vergleichsweise zurückhaltende Neuwagenkäufer. Und in Tunesien (55.000 Zulassungen auf 12 Millionen Einwohner) oder Algerien (16.000, 44 Millionen) sieht es nicht viel besser aus.
Marokko expandiert als Exportstandort
Aber dafür drängt Marokko zumindest in einer anderen Disziplin mit aller Macht auf die automobile Weltkarte: „Das Land ist mittlerweile der größte Automobilexporteur auf dem Kontinent und hat Südafrika seit fünf Jahren abgehängt", sagt Zakia Subhan vom Marktbeobachter LMC in Oxford und beziffert die Jahresproduktion dort für 2022 auf gut 470.000 Einheiten. Trotz der Corona-Nachwehen und des Ukraine-Krieges waren das zehn Prozent mehr als im Vorjahr, meldet der Analyst und zeichnet die Zukunft in rosigen Farben.
Schließlich liegt die installierte Kapazität im Königreich nach Angaben des Analyseinstituts Eos schon jetzt bei 700.000 Fahrzeugen pro Jahr und soll dem Handelsministerium zufolge bis 2025 auf eine Million steigen. Dann soll der Sektor, in dem über 220.000 Menschen beschäftigt sind, im Jahr rund 22 Milliarden Dollar erwirtschaften.
Welche Autobauer setzen auf Marokko?
Treiber dieser Entwicklung sind vor allem Renault-Nissan-Mitsubishi auf der einen und Stellantis auf der anderen Seite. Renault war 2012 der erste Autohersteller, der dort ein Werk eröffnet und bereits fünf Jahre später das Erreichen der Millionengrenze gemeldet hat. Aktuell haben die Franzosen zwei Fabriken in Tanger und bei Casablanca mit einer Kapazität von 400.000 und 85.000 Fahrzeugen vor allem von Dacia und bereits eine Aufstockung angekündigt.
Und seit 2019 ist auch Stellantis im Land. Damals noch unter Führung der PSA-Gruppe hat Citroen in jenem Jahr eine Fabrik in Kenitra eröffnet, die jetzt ebenfalls ausgebaut wird: Erst im November hat der Konzern eine Investition von 300 Millionen Euro angekündigt und will 2.000 neue Jobs schaffen, um die Kapazität auf 450.000 Fahrzeuge pro Jahr zu verdoppeln und das Werk auf den Einsatz einer neuen Smart-Car-Plattform vorzubereiten. Sie soll mittelfristig das Gros der Fahrzeuge für die Region tragen, die bei dem Großkonzern künftig eine wichtigere Rolle spielen dürfte. Nicht umsonst will die Zentrale in Paris für die Region Naher Osten und Afrika bis zum Ende der Dekade eine Kapazität von einer Million Fahrzeugen erreichen.
Und die beiden Konzerne sind nicht allein, meldet Eos: Vor vier Jahren hat Volkswagen sein Werk in Algerien geschlossen und nach Marokko verlagert und vor zwei Jahren folgte der Hyundai-Konzern diesem Beispiel. Außerdem nennt Eos zahlreiche Zulieferer, die in Marokko heimisch sind. Allein der US-Konzern Lear verfügt dort über elf Werke, der chinesische Zulieferer Citic Dicastal produziert in zwei Werken unter anderem sechs Millionen Alufelgen pro Jahr und Unternehmen wie Valeo aus Frankreich, Varroc Lighting Systems aus den USA oder Yazaki und Sumitomo aus Japan sind ebenfalls vor Ort.
Diese Faktoren machen Marokko so attraktiv
Und es dürften noch mehr werden, schätzt Roland Berger-Partner Felix Mogge mit Blick auf den Trend zum so genannten Nearshoring: Seit die sich die Branche ihrer fragilen Lieferketten bewusst geworden sei, gewinne Afrika als Alternative zu Standorten in China oder anderen Staaten im Fernen Osten an Bedeutung.
Für den Aufschwung der Autoindustrie im eigenen Land hat das Königreich allerdings auch einiges getan. Laut LMC in Oxford gibt es mehrere Dutzend Freihandelsabkommen mit der EU, den USA, der Türkei und anderen afrikanischen Staaten. Und vor allem gibt es um die beiden Leitwerke von Renault und Stellantis zwei Automotive Cluster mit attraktiven Steuerregelungen, streicht Zakia Subhan heraus: In den ersten fünf Jahren fahren Firmen dort ganz steuerfrei und in den zwanzig Jahren danach werden maximal 8,75 Prozent fällig.
Natürlich profitiert Marokko aber auch von anderen Faktoren, sagt der Experte: Das europäische Festland ist mit Spanien für Warentransporte nur ein, zwei Tage entfernt, doch die Produktion sei sehr viel günstiger. So liege das Lohnniveau liege etwa bei einem Viertel des spanischen und sogar noch etwas unter dem in Osteuropa.
Nachhaltigkeit und Elektrifizierung rücken ins Rampenlicht
Und die Regierung in Rabat, die seit 1999 König Mohammed VI. untersteht, zeigt sich durchaus selbstbewusst: „Wir sehen das Königreich als einen der wettbewerbsfähigsten kohlenstofffreien Automobilindustriestandorte weltweit“, unterstreicht Industrie- und Handelsminister Ryad Mezzour. Und Maßnahmen wie die Aufstockung des Stellantis-Werkes, die ersten Tesla Supercharger im Land oder eine bislang allerdings noch nicht vollzogene Vereinbarung mit BYD über den Bau einer Autofabrik und eines Batteriewerks bestärkten Marokko darin, ein wichtiger Akteur für nachhaltige Mobilität zu sein.
Wenn der Minister von Nachhaltigkeit spricht, meint er aktuell vor allem die sauberen Fabriken. Denn das Dacia-Werk war bei der Eröffnung eines der ersten, das nahezu CO2-neutral gearbeitet hat. Und bei Stellantis loben sie ihre Fabrik als besonders energieeffizient, weil für jedes Fahrzeug nur 425 kWh aufgewendet würden und das Werk gerade auf den Einsatz erneuerbarer Energien vorbereitet werde.
Doch zunehmend werden neben der Produktion auch die Produkte sauberer. Auch wenn sie in Marokko bislang vor allem Billigautos mit einem technisch eher mäßigen Anspruch bauen, verschließen sie sich selbst der Elektrifizierung nicht. Im Gegenteil: Mit dem Citroen Ami und dem baugleichen Opel Rocks-e sammeln sie auf der Electric Avenue ihre ersten Erfahrungen und wollen die schon bald in die Produktion ausgewachsener Elektroautos einbringen. Als eines der ersten Stellantis-Modelle auf der neuen Smart-Car-Plattform soll dort der nächste C3 auch mit E-Antrieb gebaut werden, meldet LMC und wenn in einigen Jahren der nächste Dacia Sandero anlaufe, dann wird daraus ebenfalls ein batterieelektrisches Auto.