Wenn Homeoffice schon keine Option sein kann, sollte wenigstens der Weg zur Arbeitsstätte erträglich sein. Da hilft die idyllische Kulisse des Hildesheimer Waldes, vor Schichtbeginn in der Fabrik noch mal durchzuatmen. Die Natur wird jäh unterbrochen, als sich das historische Werksgelände im Südwesten der kleinsten Großstadt Niedersachsens emporhebt. Auf 156.000 Quadratmetern hat der Geschäftsbereich Cross-Domain Computing Solutions sowohl Zentralfunktionen als auch Entwicklungsbereiche angesiedelt. Zusätzlich beherbergt Hildesheim Einrichtungen für den Elektronik-Service im Automotive-Aftermarket sowie einen Standort für die Zentralfunktion Forschung und Entwicklung. Schauplatz dieser Factory Tour war jedoch der Geschäftsbereich Powertrain Solutions, konkret die Halle 401, zu dem das Hildesheimer Werk gehört.
„Wir produzieren Rotor und Stator sowie die Gesamtmontage in Serie für verschiedene Kunden weltweit“, sagt der stellvertretende technische Werksleiter Peter Holweger. Vorbei an autonomen Flurförderfahrzeugen steuert er zunächst die Rotor-Linie an. Menschen sind an dieser Linie nicht zu sehen. Vollautomatisch wird der Rotor zusammengesetzt. Er besteht aus sehr feinen Lamellenblechen, die zu einem Turm übereinandergestapelt sind – zu fein, um sie mit dem Auge zu erkennen. Sie dienen dazu, den magnetischen Fluss und somit die Effizienz zu optimieren. „Die Physik gibt uns da ein Stück weit die Grenzen vor und wir versuchen natürlich diese möglichst auszureizen“, erklärt Holweger.
Die Permanentmagnetmotoren sind zunächst unmagnetisch, sonst könnte man sie nicht verarbeiten. In der Anlage werden sie zu einem Rotor zusammengebaut und anschließend so umspritzt, dass sie den Belastungen im Betrieb standhalten. Fliehkräfte zwischen 16.000 und 18.000 Umdrehungen pro Minute dürfen kein Problem darstellen. „Das ist das Schöne beim Elektromotor. Man hat ein super Durchzugserlebnis und das bedeutet natürlich auch entsprechenden Stress auf die mechanischen Komponenten. Das spielt sich alles im Rotor ab, weil er das Herz der Fortbewegung ist“, so Holweger.
Die Produkte aus Niedersachsen sind vorzugsweise für den europäischen Markt bestimmt. Weil Hildesheim das Leitwerk für E-Maschinen ist, werden hier neu entwickelte Technologien, Fertigungsprozesse und Komponenten erstmals produziert. Es werden erste Erfahrungen gesammelt und Prozesse optimiert, bevor sie an anderen Standorten eingeführt werden. „Da spielen Kostenaspekte eine Rolle, aber auch der Local-für-Local-Fokus. Wir entsenden auch Ingenieure in die anderen Werke, um vor Ort zu unterstützen“, erklärt der kaufmännische Werksleiter Dietrich Haas. Die Koordination des Netzwerks und die Weiterentwicklung seien wesentliche Aspekte des Leitwerks.
Neben reinen Elektromotoren werden auch hybride Antriebe in der Halle 401 produziert. Über eine kleine Leiterbrücke gelangt man direkt an die Linie, an der drei Mitarbeiter parallel arbeiten. In dieser Produktionslinie befindet sich ein Spulenkranz in einem Gehäuse, was aufgrund des Einbaus zwischen Verbrennungsmotor und Getriebe spezielle Dimensionen erfordert. Laserprozesse werden hier für Beschriftungen und als Verbindungstechnik verwendet. Mit Hilfe von künstlicher Intelligenz wird das Schweißen gesteuert und die Daten ausgewertet. „Die Datenmenge aus der Produktion wird so effizienter ausgewertet, um Prozesse zu optimieren und Fehlerkosten zu reduzieren“, erklärt Holweger.
Kamerabasierte Kontrollen werden durch smarte Algorithmen unterstützt, um die Qualität zu gewährleisten. Das Ziel: Mitarbeiter von monotonen Tätigkeiten zu entlasten und ihre Fähigkeiten anders einzusetzen. Dabei werde die Arbeitsumgebung kontinuierlich verbessert, um die Arbeit angenehmer zu gestalten. Ein Beispiel ist die ist U-förmig angeordnete Produktionslinie. Sie kombiniert automatische und manuelle Montageschritte, um Effizienz und Geschwindigkeit zu gewährleisten.
Personell war das Hildesheimer Werk früher deutlich größer als jetzt. Im Bereich Powertrain Solutions arbeiten zurzeit rund 1.500 Mitarbeiter, insgesamt sind es gut 3.200 in Hildesheim. Dennoch: „Wir haben eine Phase starken Aufbaus hinter uns, mit Zuwachsraten von 40 bis 50 Prozent“, sagt Dietrich Haas. Die Produktion habe sich ebenfalls enorm gesteigert, mit einer Verzehnfachung des Volumens in den letzten Jahren. Im Bereich der Elektrifizierung habe es eine Vervielfachung der Volumina gegeben, insbesondere in den letzten zwei, drei Jahren. Dieser Trend sei noch nicht zu Ende, ist sich der Werksleiter sicher. Neue, moderne Produktionslinien sind in Betrieb genommen und Leerstände in anderen Standortbereichen vermieden worden, indem Bosch Teile des Geländes vermietete. Die Mitarbeiter in diese Veränderungen zu integrieren und sie dabei zu unterstützen, sei eine zentrale Aufgabe der Werksleitung.
In der Produktion sind etwa 150 bis 160 Mitarbeiter pro Schicht tätig. Angekommen in der Stator-Fertigung zeigt Holweger, wie die Drähte für E-Motoren produziert werden. Hier werden die entsprechenden Stator-Komponenten für elektrische Motoren hergestellt. Bei der Schweißtechnik der Drähte wird hauptsächlich Laserschweißen verwendet, wobei darauf geachtet wird, dass keine organischen Materialien auf den Drähten verbleiben, da dies beim Laserschweißen Probleme verursachen könnte. Der Stator erzeugt ein Wechselmagnetfeld, das den Motor antreibt. „Es gibt verschiedene Technologien zur Herstellung der Stator-Spulen, darunter gewickelte Spulen und stabförmige Leiter. Die gewählte Technologie hängt von den spezifischen Anforderungen ab“, erläutert Holweger. Zwar wird die Qualitätssicherung während der Produktion kontinuierlich durchgeführt, aber in der Serienproduktion seien keine vollständigen Leistungstests mehr erforderlich.
Neben der Produktion von E-Maschinen ist im Bereich der Powertrain Solutions die Prozessentwicklung, das Prüfzentrum, der Musterbau und die Prototypenfertigung am Standort Hildesheim angesiedelt. Vom einstigen Leitwerk der Starter-Fertigung entwickelte sich die Bosch-Fabrik in Hildesheim seit den 2010er-Jahren hin zum Leitwerk für E-Maschinen. Für 2024 rechnet Haas mit einem Absatz von mehr als 500.000 Elektro- und Hybridmotoren.