Interview mit Jürgen Welter, Hochschule Landshut

Jürgen Welter thematisiert im Rahmen des Studiengangs Intelligente Systeme und Smart Factory die Transformation der klassischen Produktion zur Smart Factory. (Bild: HS Landshut)

Herr Professor Welter, was zeichnet eine Smart Factory aus?

Smart Factory ist die Weiterentwicklung von Industrie 4.0. Durch Industrie 4.0 wurde die vertikale Integration erreicht, Schnittstellen und Kommunikationswege sind geschaffen. Daten werden erfasst, weitergeleitet und zumindest rudimentär ausgewertet. Was bisher noch aussteht, ist das Nutzen der Daten. Genau dies findet in einer Smart Factory statt: Daten lokal nutzen, in Form eines Fahrerlosen Transportsystems etwa, das einem Hindernis ausweicht und die nachfolgenden Geräte informiert, damit sie von vornherein einen anderen Weg wählen. Das Thema reicht von lokalen bis hin zu übergreifenden Qualitätsregelkreisen. Bei Abweichungen im Fertigungsprozess bedeutet das beispielsweise, diese später kompensieren zu können, ohne neu messen zu müssen. Dazu wiederum bedarf es des Wissens über das Bauteil sowie des schnellen Weitertransports dieses Wissens von Station zu Station mit den Mitteln der Industrie 4.0. Jenseits der Übermittelung besteht die große Kunst also ganz klar darin, Daten in Beziehungen unter- und zueinander zu bringen.

Wollte man die Bestandteile einer Smart Factory definieren, zählen der Mobilfunkstandard 5G, Big Data, Cloud Computing, Security, Smart/Predictive Maintenance und die Intralogistik unabdingbar dazu?

Ja, aber in unterschiedlicher Tiefe. Nehmen Sie etwa 5G in der Produktion. Noch gibt es wenige Szenarien, bei denen der Mobilfunkstandard nötig wäre. Anwendungsfälle werden sich freilich finden, insbesondere im Bereich der Logistik. Ansätze mit sogenannten Low-Power-Applikationen, der Datenübertragung mit geringstem Energieverbrauch, etwa via Low Power Wide Area Network, zeigen dies bereits. In der Fabrik, in der Anwender hinter einer eigenen Firewall über ganz andere Möglichkeiten verfügen, ist eher ein individuelles Abwägen der Erfordernisse gefragt und in der Regel ist WLAN die unkompliziertere Lösung. 5G bietet den großen Vorteil, dass man es auch außerhalb der Firmengrenzen mit fließendem Übergang ohne Wechsel des Kommunikationssystems nutzen kann. In einer Produktionsumgebung existieren aber vielfältige Störeinflüsse auf eine Funkübertragung, die letztendlich die Echtzeitfähigkeit der Datenübertragung beeinflussen. Deswegen gilt es sehr genau abzuwägen welche physikalische Verbindung die beste für den konkreten Anwendungsfall ist. Für das zukünftig datengetriebene Arbeiten ist ein hochentwickelter, sehr flexibler und drahtloser Datenübertragungsstandard jedenfalls eine sehr große Chance. Für den Moment konstatiere ich allerdings, dass die Knackpunkte wo anders liegen.

Worin sehen Sie diese?

Insbesondere in den Themen Security und Safety. Gerade wenn es um Menschen geht, darf Technik nicht zur Gefährdung führen. Das Thema Safety ist hier hoch anzusiedeln. Mit Blick auf die Security kann man vereinfacht sagen, dass auch das beste digitalisierte System wenig nützt, wenn es angegriffen oder lahmgelegt wird. Ein großes Thema ist letztlich auch der Umsetzungs- und Integrationsaufwand der neuen Technologien. Bereits vor der Standardisierung im Rahmen der Industrie 4.0 konnte man Kommunikationswege proprietär umsetzen, aber mit hohem Aufwand. In einer ähnlichen Situation befinden wir uns heute in der Smart Factory nur auf breiterer Front. Ob es letzten Endes Errungenschaften wie beispielsweise die eines humanoiden Roboters braucht, muss sich zeigen. Die Idee Teslas diesbezüglich, könnte sich als Geniestreich erweisen. Viel greifbarer und einsatzfähiger ist jedoch das Umfeld der Bildverarbeitung. Schon heute sind hier Dinge machbar, die man vor fünf Jahren noch kaum für möglich hielt. Auch in der Qualitätssicherung gilt es noch flexibler zu werden. Hier zeigt sich die Robotik in Verbindung mit Kameras als erfolgversprechend. In meinem Umfeld habe ich daher die Losung ausgegeben, dass alle Forschungsanlagen und Testimplementierungen im Bereich Robotik über eine Bildverarbeitung verfügen müssen.

Das große Stichwort lautet: Daten. Wie gelingt es, nicht nur große Mengen zu sammeln, sondern Daten auch sinnvoll aufzubereiten und sie Mensch und Maschine gezielt zur Verfügung zu stellen?

Dies ist der große Bereich der Forschung und das Thema, das uns im eigentlichen Sinne noch von der idealtypischen Smart Factory trennt. Es geht hierbei um Methoden, Daten zu verwalten, zu sammeln und sie zu kombinieren. Das Weiterverarbeiten ist das große Thema. Hierfür spielen KI und regelbasierte Auswertungen eine Rolle. Die eine Patenlösung gibt es heute noch nicht. Gleichzeitig muss dies zwangsläufig erfolgen, da wir Menschen die Verarbeitung solch großer Datenpakete nicht beherrschen und uns überdies auch sehr schwertun, Daten über die Gewerke hinweg in eine Beziehung zu bringen. Ich konstatiere hier ein schrittweises Herantasten, etwa in Form von Dashboards, in deren Hintergrund die Daten zunehmend besser aufbereitet werden. Hier ist aber noch viel Arbeit zu leisten, insbesondere mit Blick darauf, die Prozesse transparenter zu gestalten.

Gibt es jemanden, der aus Ihrer Sicht bei dieser Thematik bereits im Lead ist? Womöglich auch außerhalb Automotive?

Als weit fortgeschritten würde ich die Börse bezeichnen, die mit ihren Parametern weit bis in die Bilanz eines einzelnen Unternehmens herunterbrechen kann. Dort werden sehr viele Daten verarbeitet und genutzt, auch bereits sehr verdichtete Daten.

Welche Fortschritte gibt es in den Fabriken bei der Datennutzung mit Blick auf die vorausschauende Wartung?

Die Möglichkeiten, Warnmeldungen weiterzuleiten und weiterzuverarbeiten sind bereits weitgehend Status Quo. Anders verhält es sich mit Blick auf die genaue Diagnose des Objekts. Predictive Maintenance auf Komponenten- und Zellebene ist derzeit im Entstehen. Den Weg der Warnungen vom Sensor bis zum Leitstand gibt es, jetzt geht es um die bessere Generierung der Warnung. Wir müssen also die Vorhersage von Einzelausfällen verbessern und die Auswirkung dieser auf das gesamte System einbeziehen.

Als eine der wesentlichen Voraussetzungen von Smart Factory gilt die Abkehr von der starren Bandmontage hin zu autonomen Fertigungsinseln. Wie lässt sich dies gerade in Bestands-Werken umsetzen?

Das Problem der Fertigungsinseln beziehungsweise Montageinseln bei komplexen Produkten wie Automobilen, die derart viele Fertigungsschritte erfordern, ist das damit einhergehende Job Enlargement in großem Umfang. Menschen müssten sehr viele verschiedene Schritte ausführen, was wiederum ein Qualifikationsproblem ist und damit letztendlich in ein Qualitätsthema mündet. Die Wahrscheinlichkeit, dass bei sehr vielen auszuführenden Schritten auch mehr Fehler erfolgen, ist klar höher. Dies zu minimieren, lässt sich freilich mit Instrumenten der virtuellen Realität, mit Mixed Reality, unterstützen. Die Frage bleibt dann aber immer noch, ob dies auch wirklich benötigt wird. Fertigungsinseln bieten dann einen Vorteil, wenn der Fertigungsaufwand stark schwankt. Bei Fahrzeugen mit extrem unterschiedlicher Ausstattung etwa. Lediglich eine Fertigungsinsel ist freilich utopisch, es muss also mehrere, aneinander gereihte geben, was dann zu Taktproblemen führt. Dies würde wiederum Puffersysteme für den Materialfluss bedingen. Kurzfristig erachte ich daher bei einer hohen Varianz eher ein Ausschleusen einzelner Fahrzeuge als praktikabel. Im Detail ist sowohl das Ausschleusen als auch das Umsetzen von Fertigungsinseln schwierig. Man muss also immer die Frage stellen, worin der Gewinn liegt.

Am Ende einer Smartifizierung der Autofertigung steht also nicht zwangsläufig ein Ende der Bandmontage?

Nein. Das zeigt sich auch darin, dass in der Autobranche die Varianz zurückgefahren wird und man aktuell eher in Richtung Pakete tendiert. Diese sind dann wiederum in einer flexibilisierten Bandmontage gut beherrschbar.

Welche Herausforderungen bedeutet ein konsequentes Umsetzen der Aspekte der Smart Factory insbesondere für die einzelnen Gewerke der Automobilfertigung?

Ein großer Hub liegt sicherlich in der Logistik und in der Montage, wie auch in der Integration des Qualitätsmanagements. Im Bereich Qualität ist die Branche ja schon recht weit fortgeschritten, wobei sich auch dieser Themenkreis noch weiter ausdehnen lässt. Mit Blick auf hohe Automatisierungsgrade sind der Karosseriebau, wie auch die Lackierung ganz vorn dabei. Ganz allgemein gilt es, das Nutzen wertvoller Daten über die Gewerke hinweg zu intensivieren. Vereinfacht gesagt kann man etwa von einer Größenabweichung nach oben, die im Karosseriebau erfolgt, bereits frühzeitig in der Montage wissen. Im nächsten Schritt ist eine geplante Kombination mit ebenfalls abweichenden Bauteilen denkbar, um letztendlich die Abweichung kompensieren zu können und eine sehr gute Paarung hinzubekommen. Die Qualitätsansprüche und Kosten der Einzelprozesse könnten somit reduziert werden, ohne dass die Endproduktqualität leidet. Hierbei geht es um die Gewerke übergreifende Weitergabe von Daten, die durchgehende Kenntnis des Produkts und des Wesens von Bauteilen - vom Stahlband bis hin zum fertigen Automobil.

Worin liegen denn die Besonderheiten der Montage?

Die Montage lässt sich noch nicht ausreichend kostendeckend automatisieren, denn es handelt sich bei ihr um den Bereich in der Automobilfertigung, in der beispielsweise hohe Flexibilität und Gespür bei Positionierung und Montagekräften benötigt wird und wo es ständiger Bestätigungen bedarf. Gerade die Montage von biegeweichen Teilen, sei es das Einziehen von Dichtungen oder gar das Verlegen eines Kabelbaums, lässt sich nur sehr schwer automatisieren. Hier sind schlicht die herausragenden adaptiven Fähigkeiten des Menschen gefragt: Hinschauen, Erkennen und letztlich Nachregeln zeichnet ihn im Vergleich zu einem Roboter aus. Für die weitere Automatisierung sehe ich einen großen Bereich in optischen, etwa kamerabasierten Nachregelsystemen, kommen. Eine der größten Errungenschaften aus der jüngsten Vergangenheit ist das sogenannte Bin Picking, also der automatisierte Griff in die Kiste unsortierter Bauteile mit gezielter Entnahme eines bestimmten Teils. Hinsichtlich der zu lösenden Aufgaben wird dies erst der Anfang sein.

Welches Modell der Fabrik eignet sich besser für die zukünftigen Herausforderungen, das der sogenannten Giga- oder jenes der Microfactory?

Eine sogenannte Microfactory eignet sich sehr gut für Kleinserienproduktionen. Hierbei kommt es freilich auf die Planung im Detail an. Denn klar ist auch: In einer Gigafactory ist ja nichts überflüssig. Alles, was sich dort mit Blick auf die Produktionsprozesse wiederfindet, wird auch in einer Microfactory benötigt. Bei einer Gigafactory handelt es sich um die Integration der Gewerke an einem Standort. Solchen Konstrukten haftet allerdings das Problem des „Single Point of Failure“ an: Entsteht irgendwo ein Problem, ist dies zumeist ein größeres Thema als in einer dezentralen Fertigung. Unter dem Strich kann man dennoch sagen, dass sich das Konzept der Gigafactory als sinnvoll erweist. Die Integration der Komponentenfertigung an einen Standort ist eine großartige Idee: So lassen sich etwa die meisten Lkw-Fahrten quer durch Europa schlicht mit Hängebahnen in der Fabrik vermeiden. Mit Blick auf die Ressourcenschonung bis hin zur Fertigungsplanung sind hoch integrierte Fertigungen also klar von Vorteil.

Welche Auswirkungen haben smarter werdende Fabriken auf die Menschen und ihre Arbeitsplätze?

Menschen zu finden, die all diese neuen Entwicklungen umsetzen, wird womöglich ein weit größeres Problem sein als die technische Umsetzung. Ich stelle eine gewisse Technik-Angst auch bei jungen Menschen fest, was für mich als technisch orientierten Mensch eher schwer nachvollziehbar ist. Bei vielen überwiegt ein Gefühl, mit der Technik nicht richtig umgehen zu können, was mir meine Kontakte mit Schülergruppen zeigen. Hier gilt es zunächst ganz gezielt Ängste zu nehmen und vor allem ausprobieren zu lassen. Das Experimentieren mit einer SPS etwa zeigt sehr schnell Erfolge und der oder die Einzelne erkennen rasch: Ich kann das! Speziell bei uns an der Hochschule sehe ich eine Aufgabe darin, Menschen von Technik zu überzeugen, ihnen das Gefühl zu geben, dass Technik beherrschbar ist und sie mit ihr letztlich richtig aufgehoben sind. Und vor allem: dass das Thema auch gehörig Spaß bereitet. Daher haben wir unseren Studiengang Intelligente Systeme und Smart Factory ins Leben gerufen, für dessen Absolvent*Innen wir einen überwältigenden Bedarf feststellen.

Es zeigt sich allerdings auch als eine große Aufgabe den entsprechenden Nachwuchs zu finden. Im Studiengang unterstützen wir die Technikbegeisterung mit zahlreichen Praktika. Wir legen Wert auf eine extrem anwendungsnahe Ausbildung zusammen mit Partnern aus der Industrie. Dazu muss man freilich die jungen Menschen erst einmal in die Ausbildung hineinbekommen. Im MINT-Bereich stagnieren die Zahlen leider, obwohl der Bedarf stark steigt. Ein weiterer wesentlicher Ansatz ist zudem die Nachqualifizierung von Mitarbeitern.

Schlagen die Unternehmen hierbei den richtigen Kurs ein?

Hier gilt es vor allem den Menschen Angst vor Jobverlust zu nehmen und ihnen begreiflich zu machen, dass Qualifizierung gerade der Jobsicherheit dient und es um das Erschließen neuer Einsatzmöglichkeiten geht. Bei den OEMs erkennt man das Thema und es wird angegangen. Ganz klar können in den Unternehmen zahlreiche Mitarbeiter nicht so einfach für die Weiterbildung aus der Fertigung genommen werden. Teilzeitmodelle und externe Weiterbildung sind also große Herausforderungen für beide Parteien.

Zur Person:

Prof. Dr.-Ing. Jürgen Welter, Hochschule Landshut
(Bild: HS Landshut)

Prof. Dr.-Ing. Jürgen Welter studierte Maschinenbau mit den Schwerpunkten Mechatronik und Fertigungstechnik an der TUM. Danach war er im Bereich Funktionstest und Zertifizierung von eingebetteten Systemen tätig. Nach seiner Promotion über die Diagnose von echtzeitfähigen Kommunikationssystemen wechselte er in die Produktion als Leiter Arbeitsvorbereitung. Seit seinem Ruf an die Hochschule Landshut lehrt und forscht er in den Bereichen Automatisierungstechnik und Produktionstechnik. Sein besonderes Interesse gilt der Transformation der klassischen Produktion zur Smart Factory durch das Retrofit fortgeschrittener Technologien und der Anpassung der Prozesse.

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