Smart Factory und Industrie 4.0 – sie sind die derzeit großen, in vieler Munde befindlichen Begriffe. „Smart Factory ist die Weiterentwicklung von Industrie 4.0“, sagt Professor Jürgen Welter, der im Studiengang Smart Factory an der Fakultät für Elektrotechnik und Wirtschaftsingenieurwesen der Hochschule Landshut lehrt. Doch was bedeutet dies für die Fahrzeugfertigung und insbesondere für ein komplexes Gewerk wie die Montage? Für das Brownfield jedenfalls noch kein Ende des Fließbands, ist Welter sicher. Auch wenn man in der Branche mit Blick auf die Smart Factory weg von der starren Bandmontage und hin zu autonomen Fertigungsinseln tendiere, gebe es gerade mit Blick auf das komplexe Produkt Automobil derzeit jedenfalls noch keine abschließende Antwort, so der Experte.
Fließbänder vs. flexible Fertigungsinseln
Mit Blick auf die zahlreichen Montageschritte sieht Welter ein Job-Enlargement in großem Umfang einhergehen. Denn in den Montagen müssen Menschen immer noch sehr viele verschiedene Schritte ausführen, was ein Qualifikationsproblem bedeute und letztendlich in ein Qualitätsthema münden könne, sagt der Hochschullehrer. Vorteile könnten sogenannte Inselfertigungen bieten, besonders dann, wenn der Fertigungsaufwand stark schwankt - etwa bei Fahrzeugen mit variierenden Ausstattungen.
Aufgrund des Miteinanders von E-Autos, Verbrennern und Brennstoffzellenfahrzeugen sieht auch der Forschungsbereichsleiter Innovative Fabriksysteme beim DFKI, Martin Ruskowski, in flexiblen Fertigungsinseln eine sinnvolle Lösung. So könne am jeweiligen Fahrzeug entschieden werden, welche Gewerke man tatsächlich benötige und welche nicht. Durch eine Modularisierung käme man im Laufe der Zeit jedenfalls der Vision einer IT-getriebenen, smarten Fabrik näher, konstatiert der DFKI-Experte.
Montage und Logistik seien mit Blick auf die Digitalisierung am weitesten von allen Gewerken, sagt Andreas Lehe, Leiter Strategic Planning bei Audi. Die Instrumente der KI ließen sich hier besonders gut einsetzen, wie auch die Qualitätsprüfungen verfeinern. So verfügt die Volkswagen-Tochter in Neckarsulm über ein komplettes Ökosystem, in dem sich die Aspekte der digitalen Fabrik durchspielen lassen. Drei Themen zählt der Audi-Experte dabei zu den Erfolgsgaranten: Die Organisation, die Menschen sowie die Technologie.
Montage bedeutet Gespür und Rückmeldung
Dass sich die Montage bereits ausreichend kostendeckend automatisieren lässt, sieht Smart-Factory-Experte Jürgen Welter noch mit Skepsis. Ist sie doch das Gewerk, das hoher Flexibilität sowie eines feinen Gespürs beim Positionieren, im Umgang mit Montagekräften und -momenten bedarf sowie den Arbeitern ständige Bestätigungen abverlangt. Gerade das Montieren von biegeweichen Teilen, das Einziehen von Dichtungen oder gar das Verlegen eines Kabelbaums, lasse sich nur sehr schwer automatisieren, sagt Welter.
Ihm zufolge sind in der Montage nach wie vor die herausragenden adaptiven Fähigkeiten des Menschen gefragt: ein Dreigestirn aus Hinschauen, Erkennen und Nachregeln. Roboter tun sich hier schwer. „Für die weitere Automatisierung sehe ich daher einen großen Bereich in optischen, etwa kamerabasierten Nachregelsystemen, kommen“, sagt der Experte.
Eine der größten Errungenschaften ist dem Hochschullehrer zufolge das sogenannte Bin Picking, also der automatisierte Griff in die Kiste unsortierter Bauteile mit gezielter Entnahme eines bestimmten Teils. Weitere zahlreiche Ideen verlassen bereits die Forschung und Entwicklung oder stehen kurz vor dem Durchbruch. Viele Unternehmen würden sich mit der Frage beschäftigen, ob und wie sie ihre Montageaufgaben automatisieren können, weiß man auch beim Fraunhofer-Institut für Produktionstechnik und Automatisierung, IPA. Bereits seit Jahren hat man dort die Automatisierungs-Potenzialanalyse, kurz: APA, im Portfolio.
Zunächst war diese an das Wissen eines Automatisierungsexperten geknüpft. Eine neue App soll es nun einfacher zugänglich machen und technische und wirtschaftliche Aspekte berücksichtigen und damit zur umfangreichen Datenbasis für Investitionsentscheidungen werden. Im Mai stellten die Fraunhofer-Experten zudem eine neue Software vor, die per maschineller Lernverfahren Bauteileigenschaften analysiert und daraus eine Einschätzung ermittelt, inwieweit sich ein entsprechendes Teil für eine Montageautomatisierung überhaupt eignet.
Modulare Produktionssysteme bei Audi, Daimler & Co.
Mehr Flexibilität lautet künftig das Motto für die Montage. Die Zukunft könnte daher modularen Produktionssystemen gehören, weil sie viel mehr Varianten fertigen können als die Linie, ist man sich in Expertenkreisen weitgehend einig. Dies haben auch die großen Hersteller erkannt, sagt Petra Foith-Förster, Geschäftsfeldleiterin Automotive am Fraunhofer-Institut für Produktionstechnik und Automatisierung IPA und nennt Beispiele: „Etwa Audi mit der modularen Montage in Györ und Ingolstadt, Mercedes-Benz mit der Factory 56 in Sindelfingen, Porsche mit dem Aufbrechen starrer Verkettungen in der Taycan-Produktion oder Daimler Trucks in der Konzeption der neu entstehenden Fabrik in Peking.“ Zwar lassen sich in Bestandsfabriken vorhandene Linien aus wirtschaftlichen Gründen nicht immer voll umgestalten. Zumindest in Vormontagen und in Teilabschnitten könne man aber flexibler agieren, die Linie verlassen und FTS nutzen, so Foith-Förster.
Ein Beispiel für ein Fabriklayout, mit dem ein Großserienhersteller digitale Erkenntnisse auf das gesamte Produktionsnetzwerk übertragen kann, ist freilich Daimlers Factory 56 in Sindelfingen. Bereits 2020 wurde am Standort Sindelfingen ein großes Maß an Flexibilität geschaffen, um auf unterschiedliche (Antriebs-)Bedürfnisse des Markts reagieren zu können. Produktionschef Jörg Burzer setzt für die Produktion der Zukunft auf „100 Prozent digital und papierlos“. Das digitale Ökosystem Mercedes-Benz Cars Operations 360, kurz MO360, ist dabei das Vehikel zur Integration. Dort laufen Produktionsdaten vollautomatisch in das digitale Shopfloormanagement (SFMdigital), sodass die Verantwortlichen jederzeit den Live-Status der Produktion kennen. Damit haben sie einen schnellen und konzentrierten Zugriff auf produktions- und steuerungsrelevante Kennzahlen und können rasch und transparent auf das aktuelle Produktionsgeschehen reagieren.
Für schlanke Prozesse setzt BMW auf Nvidia
Bei Mercedes-Benz werden mit Hilfe sogenannter TecLines alle komplexen Anlagentechniken an einer Stelle gebündelt und das klassische Fließband durch Fahrerlose Transportsysteme abgelöst. Für die Integration eines neuen Produkts und einer damit verbundenen neuen Anlagentechnik muss lediglich noch der Fahrweg des FTS geändert werden, heißt es bei Daimler. Mit der so genannten Fullflex Marriage hat man zudem einen neuen Standard für die Fahrzeughochzeit implementiert. Sie besteht aus mehreren modularen Stationen, wodurch sich große Umbauten und längere Produktions-Unterbrechungen vermeiden lassen sollen. In Sindelfingen konnte damit zwischenzeitlich der vollelektrische EQS recht reibungslos in die S-Klasse-Produktion implementiert werden wie etwa auch am Standort Bremen der vollelektrische EQE in die Linie von C-Klasse- und GLC.
BMW geht mit der iFactory einen vergleichbaren Weg. Beim Münchener OEM betont man, dass iFactory nicht für ein singuläres Vorzeigewerk steht, sondern für einen integrativen Ansatz für künftige Werke – vom Traditionsstandort München bis hin zum jüngst eröffneten Werk Debrecen in Ungarn. Im Headquarter baut man für das weltweite Produktionsnetzwerk auf die Integrationsfähigkeit aller Antriebsformen auf jeweils einer Fertigungslinie. Dazu setze man auf schlanke Prozesse und wettbewerbsfähige Strukturen, sagt Produktionsvorstand Milan Nedeljković. Ein Effekt sei die Steigerung der Aussagekraft von Echtzeitdaten über den gesamten Fertigungsprozess hinweg. Die Produktion vernetze per neuester Technologien dazu alle relevanten Produkt-, Prozess-, Qualitäts- und Kostendaten zwischen Entwicklungs-, Planungs- und Produktionsprozessen. Der Fokus liege dabei auf Anwendungen aus den Bereichen Virtualisierung, Data Science und Künstlicher Intelligenz, heißt es beim OEM aus München, der künftig alle Fabriken als digitale Zwillinge darstellen kann. Für Debrecen setzen die Experten von BMW dazu auf eine Kooperation mit dem US-amerikanischen Unternehmen Nvidia und die gemeinsam entwickelte Planungssoftware Omniverse.
Volkswagen digitalisiert das Brownfield
Ein Beispiel für den Transfer eines Bestandswerks nach den Gesichtspunkten der Smart Factory, gibt Volkswagen mit dem Standort Zwickau. Dort werden seit 2020 nur noch E-Fahrzeuge auf Basis des Modularen E-Antriebsbaukasten MEB gefertigt. Insbesondere für die Montage nutzte VW im großen Stil seine Umstellung im Antrieb, um die damit verbundenen strukturellen Herausforderungen in bestehenden Fabriken anzugehen. Gemeinsam mit dem Anlagenexperten Dürr wurden dafür im sächsischen Werk einige neue Prozesse in Gang gesetzt. Ein Vehikel dazu ist Next.assembly. Dabei handelt es sich um eine Strategie für die Endmontage, mit der Volkswagen die Kompetenzen von der Planung und Beratung über die Förder-, Klebe-, Montage- und Befülltechnik bis hin zu den Prüfständen am Bandstraßenende und den passenden digitalen Lösungen bündelt. Neben einer Steigerung der Effizienz streben die Wolfsburger damit auch eine Verbesserung der Ergonomie für die Mitarbeiter an.
Ein Ergebnis ist etwa das automatisierte Line Tracking-Verfahren, bei dem sich die Karosserien auf Schubplattformen kontinuierlich weiterbewegen, während Roboter die Seitenscheiben einkleben. Bislang ließen sich die nur im Stop-and-Go-Modus automatisiert einbauen. Beim OEM läuft nun alles vollautomatisch: die Zuführung der Großscheiben aus sequenzierten Transportbehältern und der Seitenscheiben aus sortenreinen Transportbehältern über das Logistikmodul, der Klebstoffauftrag sowie die Montage der Großscheiben im Taktbetrieb und der Seitenscheiben im Fließbetrieb. Die Zwickauer setzen obendrein für das als mühevolle geltende Einsetzen von Cockpits mittlerweile auf eine automatisierte Lösung, die insbesondere zur Entlastung der Mitarbeiter beitragen soll. Für den Automatisierungsgrad in der Montage nennen die Sachsen nun eine Quote von 28 Prozent. Gestartet sei man bei 16 Prozent und habe sich damit fast verdoppelt, betont ein Volkswagen-Sprecher.
Ford setzt für hohe Reproduzierbarkeit auf MRK
Einen ersten Einsatz von kollaborativen Robotern meldete Ford kürzlich in der Montage in seinem US-Werk Livonia, im Bundesstaat Michigan, wo die Amerikaner Drehmomentwandler in Getriebegehäuse einbauen. Um Verbesserungen und reproduzierbarere Ergebnisse zu erzielen, führte eine Ergänzung der entsprechenden Zelle mit der KI-Software Symbio DCS des kalifornischen Spezialisten Symbio Robotics zum Ziel. Die Besonderheit beim US-Giganten: Bestehende KI-basierte Roboteroperationen werden normalerweise zur Fehlererkennung eingesetzt und nutzen Vision-Systeme, um die Daten zu sammeln, die sie antreiben. Die Sensorik zur Steuerung der Montagezelle in Livonia basiert jedoch auf Force-Feedback, was der OEM als bisher einzigartig bezeichnet. Angaben des Autoherstellers zufolge bescherte sie ihm jedenfalls eine 15-prozentige Verbesserung des Durchsatzes.
Smarte Unterstützer, Wearables und kollaborative Roboter sind längst in der Montage angekommen. Die Systeme können Rücken, Arme, Schultern, Handgelenke wie auch Fingerkuppen bei Montagearbeiten unterstützen und sich recht gut in Industrie-4.0-Umgebungen integrieren lassen. Noch in einem frühen Stadium sind sogenannte Exoskelette, die im Vergleich zu statischen Systemen eine gesteigerte Performance für den einzelnen Mitarbeiter bedeuten. Besonders für Überkopfarbeiten könnten sich die sensitiven Arbeitsanzüge künftig in den Montagehallen verstärkt wiederfinden. Erste Einsätze dieser Lösung finden sich etwa bei Audi und BMW.