
Bei Volkswagen soll die MEB-Plattform künftig der SSP weichen. (Bild: Volkswagen)
Auch Oliver Zipse geht unter die Hütchenspieler. Und er hätte sich für dieses Coming-Out keinen besseren Ort aussuchen können. Denn ausgerechnet in der Spielermetropole Las Vegas hat der BMW-Chef im Januar 2023 bei einer großen Keynote zur Elektronikmesse CES das Tuch von der Studie Vision DEE gezogen. Und die ist nicht nur ein starkes Statement für die Verschmelzung von virtueller Welt und Realität, für die unaufhaltsame Digitalisierung oder das Infotainment der Zukunft und obendrein als aalglatte Neuinterpretation eines BMW 2002 mit allerlei elektronischen Spielereien ein spektakulärer Blickfang. Sondern vor allem bot die handliche und für BMW-Verhältnisse überraschend konsenstaugliche Stufenheck-Limousine seinerzeit den konkretesten Ausblick auf die Neue Klasse. Auf der IAA im darauffolgenden September legte der OEM nach und präsentierte mit der Vision Neue Klasse erstmals ein Fahrzeug, das optisch sehr nach am Endprodukt liegen dürfte.
BMWs Hoffnung ruht auf der Neuen Klasse
Die Neue Klasse bezeichnet nicht irgendein neues Segment, das sich die Bayern erschließen wollen, wie damals in den 1960ern, als eine große Lücke klaffte zwischen Isetta, BMW 600 und 700 auf der einen und den Barockengeln auf der andren Seite, die BMW mit der Neuen Klasse als Vorläufer des Fünfers geschlossen und sich so das Überleben gesichert hat. „Sondern das ist der Baukasten für unsere Zukunft“, sagt Entwicklungsvorstand Frank Weber: Eine Architektur oder ein Komponentensatz, der vom Mini bis zum Rolls-Royce die Basis für alle kommenden Konzernprodukte bilden soll. Eine einheitliche Plattform also, auf die immer neue Hüte für immer neue Modelle gesetzt werden, um im Erklärmuster des VW-Patriarchen Ferdinand Piech zu bleiben, der als Wegbereiter dieser automobilen Hütchenspielerei gilt.
Streng genommen war zwar schon das Model T, mit dem Henry Ford die Industrialisierung des Autos angeschoben hat, ein Plattform-Auto, das mit einer Architektur zahlreiche Modellvarianten abdecken konnte. Doch so richtig perfektioniert hat die Idee der ehemalige VW-Chef Ferdinand Piech, der aufbauend auf den Erfahrungen mit den Plattformen PQ34 und PQ35 in der Kompaktklasse mit dem so genannten MQB sein Meisterstück abgeliefert hat. Denn dieser Modulare Querbaukasten mit dem Golf als Vorzeige-Modell und über zwei Dutzend Derivaten gilt als wichtigster Erfolgsfaktor der Niedersachsen in der Kompaktklasse und war zugleich Vorbild für ähnliche Konstruktionen bei allen Konkurrenten.
Denn auf der einen Seite garantiert eine konsequente Plattformstrategie gewaltige Skaleneffekte und damit attraktive Preise oder hohe Renditen. Und auf der anderen Seite ermöglicht sie schnelle Modellableitungen bei vergleichsweise geringen Aufwand – und damit im besten Fall eine attraktive Produktpalette.
Elektrifizierung braucht zentrale Plattformen
Doch das war nur das Vorspiel. Denn mit der Elektrifizierung der Modellpaletten wächst auf der einen Seite der Kostendruck und damit die Notwendigkeit hoher Stückzahlen: Je mehr Modelle auf einer Plattform stehen, desto schneller lassen sich die Stückkosten senken. Und auf der anderen Seite wächst die Flexibilität. Weil die elektrischen Architekturen in der Regel an ein Skateboard mit Achsen und Antrieben an den Außenseiten und der Batterie dazwischen erinnern, lassen sich Leistungsdaten genauso variabel gestalten wie die Zahl der Motoren, die Wahl der angetriebenen Achsen und die Batteriekapazität. Und wenn die physikalischen Dimensionen irgendwann nicht mehr mitmachen, packt man eben wie GM beim elektrischen Hummer einfach zwei Batterien übereinander.
Maximale Stückzahlen auf der einen und größtmögliche Flexibilität auf der anderen Seite: Kein Wunder, dass fast alle Marken und Konzerne auf solche mehr oder minder einheitlichen Plattformen setzen. Zumal sie damit zugleich die bei der Elektromobilität gegenüber dem Verbrenner noch sehr viel größeren Innovationssprünge schneller über ihre gesamte Palette implementieren können.

Wie große diese Sprünge sein können, beweist BMW mit der Neuen Klasse, die ihren Einstand 2025 zunächst mit zwei Modellen im Stil von Dreier und X3 geben soll: Denn neben den neuen Infotainment-Funktionen wie jetzt in Las Vegas gezeigt, mehr Recycling-Material denn je und einer neuen Generation effizienterer Motoren bekommt sie vor allem eine neue Batterie-Generation. Aus selbst entwickelten Rundzellen gefertigt, soll sie einen enormen Technologiespring ermöglichen. So soll die nächste Generation der Neuen Klasse mindestens 30 Prozent mehr Reichweite bieten als aktuelle Modelle, erklärt unter anderem Mike Reichelt, Leiter Neue Klasse bei BMW, auf dem Mobility Circle 2024. Zudem wolle man mehr Sekundärrohstoffe verwenden und die Fahrzeuge von Beginn an zirkulär konzipieren, um den ökologischen Fußabdruck weiter zu senken.
Für den globalen Siegeszug der Neuen Klasse nimmt BMW Milliarden in die Hand: Laut Produktionsvorstand Milan Nedeljković sollen entsprechende Fahrzeuge ebenso wie Batterien ab 2026 auch im chinesischen Shenyang gefertigt werden. Dafür investiert das Gemeinschaftsunternehmen umgerechnet über 1,3 Milliarden Euro in den Standort.
Volkswagens Neue Klasse heißt SSP
Was für BMW die Neue Klasse, das soll für VW die Scalable Systems Platform (SSP) werden, die das Rückgrat für nahezu die gesamte Modellpalette des Konzerns bilden wird. Dummerweise wollte VW-Chef Herbert Diess seinerzeit offenbar ein bisschen viel in diesen Baukasten packen. Deutliche Effizienzsprünge bei den Motoren und mehr Kapazität bei den Batterien waren ebenso versprochen wie dramatische Kostensenkungen in der Produktion. Und die Software-Architektur des Autos sollte mit der Konzerntochter Cariad für SSP gleich auch noch neu erfunden werden. Damit hat Diess seine Mannschaft offenbar überfordert – und die Geduld des Aufsichtsrates. Denn von einem Start zur Mitte der Dekade ist die SSP weit entfernt. Nicht zuletzt diese Verschiebung hat Diess seinen Job gekostet und sein Nachfolger Oliver Blume hat das Prestige-Projekt Trinity als ersten VW auf der neuen Plattform bereits auf den Prüfstand gestellt. Wenn das Auto überhaupt kommt, dann nicht vor 2032, und hinter dem Ingolstädter Pendant Audi Artemis stehen noch größere Fragezeichen.
Mittelfristig allerdings soll SSP zu einer Superplattform werden, neben der MQB oder MEB zu Spielzeug-Baukästen schrumpfen: Von 40 Millionen Autos war in Wolfsburg ursprünglich die Rede, die bei nahezu allen Konzernmarken auf SSP-Basis gebaut werden sollen. Ob dies angesichts der aktuellen Lage in Wolfsburg noch realistisch scheint, steht derweil auf einem anderen Blatt.

MEB und PPE bleiben im Fokus von Volkswagen
Nicht zuletzt wegen der Verschiebung gewinnt allerdings vorher noch zwei andere Baukästen im Konzern an Bedeutung. Die erste Elektroarchitektur MEB, die bislang für die Wolfsburger ID-Familie vom ID.3 bis zum ID Buzz steht, bei Audi als Basis für den Q4, bei Seat für den Cupra Born und bei Skoda für den Enyaq dient, wird noch einmal kräftig modernisiert und soll bis zum Jahr 2028 knapp 70 Modelle tragen.
Darüber hinaus rückt die Premium Plattform Electric (PPE) ins Blickfeld, die Audi gemeinsam mit Porsche als Rückgrat für die Mittel- und die Oberklasse entwickelt. Mit der PPE-Familie haben die beiden Konzerntöchter viel vor: Erster Audi auf Basis der Plattform ist der Q6 e-tron, in dessen Windschatten A6 e-tron als Limousine und Avant folgten.
Porsche entwickelte auf dieser Basis zunächst den elektrischen Macan. Und natürlich haben auch schon die Kollegen bei Bentley und wohl auch die von Lamborghini ein Auge auf diese Architektur geworfen.
Mercedes legt sich nicht auf eine Plattform fest
Während BMW und VW mittelfristig mit einer Plattform auskommen wollen, leistet sich Mercedes immerhin vier Architekturen, die sich die Schwaben bis zum Ende des Jahrzehnts rund 40 Milliarden kosten lassen: Denn die Ansprüche an die Kernmarke unterschieden sich zu sehr von jenen an AMG und vor allem an die Vans, als dass sich drei Fliegen mit einer Klappe schlagen ließen. Und auch wenn die Schwaben bis 2030 eigentlich nur noch Elektroautos anbieten wollen, lassen sie sich für Märkte mit weniger grünen Perspektiven ein Hintertürchen offen, für das sie sich eine eigene Plattform mit größerer Antriebsflexibilität leisten.
Die Rolle dieser Pufferplattform übernimmt die Mercedes Modular Architecture MMA, die für Fahrzeuge bis zur Größe der C-Klasse ausgelegt ist und 2024 mit den ersten Modellen der neu positionierten, ausgedünnten und aufgewerteten Kompaktklasse rund um CLA und GLA starten wird. Sie wird zwar vornehmlich für E-Antriebe optimiert, kann aber auch künftig Verbrenner tragen.
Ausschließlich elektrisch wird es bei der MB.EA, der Elektro-Architektur für alle kommenden EQ-Modelle im Kerngeschäft. Sie ersetzt die aktuelle EVA2-Plattform von EQS & Co und macht einen deutlichen Sprung bei Effizienz, Kosten, Reichweite und Ladegeschwindigkeit, verspricht Entwicklungsvorstand Markus Schäfer und lenkt den Blick auf den Reichweiten-Rekordler EQXX. „Von den eigenen Motoren über die nächste Batteriegeneration bis hin zu einer neuen Betriebssoftware steckt da schon ganz viel von der neuen Architektur drin.“
Über der MB.EA angesiedelt ist die Plattform AMG.EA mit einem stärkeren Fokus auf Performance als Effizienz. Als erstes Modell ist hier 2026 ein elektrischer Nachfolger des AMG GT 4-Türers zu erwarten, ein im November 2024 angekündigtes E-SUV der Performance-Marke dürfte etwas später folgen. Für die besonderen Anforderungen im gewerblichen Geschäft mit Sprinter & Co entwickelt die Mannschaft in Sindelfingen die Architektur Van.EA, die mit der nächsten Generation des Sprinters ihren Einstand gibt.

One-Size-Fits-All droht, die Modelle zu verwässern
Zwar sind die allumfassenden Elektroplattformen der Traum aller Controller. Doch bergen sie mehr noch als in der Verbrennerwelt auch das Risiko, den Charakter von einzelnen Modellen oder ganzen Marken zu verwässern. Denn wenn sich die Technik immer weiter angleicht, der Antrieb zunehmend an Bedeutung verliert sowie die Leistung mit der Elektrifizierung inflationär zunimmt und deshalb als Unterscheidungskriterium zunehmen verblasst, tun sich die Ingenieure mit der individuellen Ausprägung ihrer Autos entsprechend schwer. Kaum jemand weiß das etwa im VW-Konzern besser als die Entwicklungsmannschaft von Porsche, die deshalb schon früh die ersten Details zum neuen Macan verraten hat, um sich von Anfang an vom Q6 abzuheben.
Während die beiden PPE-Ableger Plattform-Errungenschaften wie die gute Raumausnutzung mit entsprechend viel Kniefreiheit auch für die Hinterbänkler und die 800 Volt-Architektur genauso teilen werden wie die Motoren mit bis zu 450 kW oder 612 PS Systemleistung und rund 1.000 Nm Drehmoment, legt Porsche Wert auf eine betont dynamische Abstimmung und treibt dafür einen entsprechend hohen Aufwand: So nutzen die Schwaben für die leistungsstärkeren Modelle des nächsten Macan einen sogenannten Performance-Hinterwagen, rücken die E-Maschine besonders weit nach hinten und erreichen so eine leicht heckbetonte Gewichtsverteilung. Weil zudem die Kraftverteilung zwischen den Motoren dynamisch angepasst wird und Porsche auf eine Mischbereifung mit noch größeren Unterschieden als bisher setzt, soll der Macan agiler aus der Kurve herausbeschleunigen als je zuvor.

Dazu gibt es vorne eine komplett überarbeitete Doppelquerlenker-Achse, die mit aufgelösten Lenkerebenen Verbesserungen in Ansprechverhalten, Lenkpräzision und Geradeauslauf verspricht. Für die Top-Versionen hat Porsche zudem eine elektronisch geregelte Quersperre an der Hinterachse für noch mehr Hummeln im Hintern in Petto. Und sowohl für die Stahl- wie für die Luftfederung gibt es künftig eine adaptive Dämpfung die mit Zweiventil-Technik arbeitet und so schneller reagiert und eine größere Spreizung erlaubt.
Helfen dürfte bei der Kurvenhatz auch die in diesem Segment noch vergleichsweise seltene Hinterachslenkung, die Porsche zumindest als Option anbieten will – auch wenn kaum vorstellbar ist, dass es die nicht auch bei Audi geben wird: Sie erlaubt Winkel bis fünf Grad, macht den Wagen in Kurven noch agiler, erleichtert das Rangieren mit einem um rund einen Meter geschrumpften Wendekreis und erhöht die Stabilität auf schnellen Geraden, weil sie dort den Radstand virtuell sogar streckt. Und obendrein ermöglicht sie eine direktere Lenk-Übersetzung an der Vorderachse um 15 Prozent, was den Macan noch handlicher machen soll.
Auch die Batterie soll Maßstäbe setzen
Aber Porsche will nicht nur sportlich auf der Straße sein, sondern auch an der Steckdose: Im Spannungsfeld von Gewicht, Reichweite und Ladezeit haben sich die Schwaben beim Macan deshalb für eine rund 100 kWh große Batterie für geschätzte Reichweiten um 500 Kilometer entschieden und zur Optimierung der Reisezeiten ein paar neue Register gezogen: So kommt der Macan auf eine Ladeleistung von 270 kW und lässt sich damit in weniger als 25 Minuten von fünf auf 80 Prozent betanken. Und zweitens führen die Schwaben bei ihrem BEV das so genannte Bank-Laden ein: An Gleichstromsäulen mit entsprechender Technik werden die Akkus virtuell in zwei Batterien geteilt, die an einer 400-Volt-Ladesäule ohne zusätzlichen HV-Booster parallel geladen werden können und so deutlich schneller voll sind.
Auf der einen Seite die Schwester Audi mit vergleichsweise hohen Stückzahlen und auf der anderen Porsche, der sich nicht zum Junior-Partner stempeln lassen will, sondern auf den Sex-Appeal der Sportlichkeit setzt – natürlich wirken solche Eitelkeiten von außen betrachtet ein bisschen albern. Aber erstens dürfte das allen bekannt vorkommen, die nicht als Einzelkind aufgewachsen sind. Und zweitens können die Kunden der PPE-Modelle davon am Ende nur profitieren: Mit Q6 und Macan gibt es statt Zwillingen mit unterschiedlicher Schminke Autos mit einem ausgeprägten Charakter - und die Verwechslungsgefahr bleibt ausgeschlossen. Denn nur, weil zwei das gleiche tun, kommt am Ende nicht dasselbe heraus.