Beinahe täglich erhalte er Anfragen aus der eigenen Vertriebsabteilung, so der für die Rohstoffbeschaffung verantwortliche Einkäufer eines mittelständischen Automobilzulieferers. Er möge doch bitte mitteilen, wie viel CO2 bei der Produktion der gelieferten Bauteile anfalle. In der Regel sollen dabei nicht nur die im eigenen Werk versachten Emissionen genannt werden, sondern auch jene, die die Zulieferer des Zulieferers verantworten. In der Sprache der Nachhaltigkeitsexperten heißen die aus der Lieferkette resultierenden Emissionen „Scope 3“ – und die sind für Rohstoffe oft nur aus Datenbanken zu erhalten.
Der Einkäufer, der nicht genannt werden will, erhält außerdem regelmäßig die Weisung der Geschäftsleitung, solche Daten aus Wettbewerbsgründen überhaupt nicht herauszugeben. Lange durchhalten lässt sich eine Verweigerungshaltung allerdings nicht. Nahezu alle großen Autohersteller haben sich längst eigene Klimaziele gesteckt. Einige Vorreiter wie Mercedes-Benz, Polestar oder Volkswagen beziehen diese Ziele explizit auf den gesamten Produktlebenszyklus – also auch die Vorprodukte der Lieferanten.
Datenbanken oft zu ungenau
Gunter Beitinger, bei Siemens für die Digitalisierung der Werke verantwortlich, zeigt durchaus Verständnis dafür, dass Zulieferer ihren Kunden nicht die kompletten CO2-Emissionen aus der eigenen Lieferkette aufschlüsseln wollen. Denn abgesehen von dem damit verbundenen administrativen Aufwand könnten aus der Offenlegung durchaus Rückschlüsse auf die Kostenstruktur eines Produkts gezogen werden. Das Hantieren mit Datenbanken sei hingegen zu ungenau: „Die Schwankungsbreite beträgt bis zu 100 Prozent“, so Beitinger.
Ehrlicherweise müsste man immer den schlechtesten Wert nutzen, doch das könne einen Wettbewerbsnachteil darstellen, falls CO2-Emissionen neben den Bauteilkosten ein Vergabekriterium darstellten. Motiviert durch eine Arbeitsgruppe des World Economic Forum hat Beitinger die Softwarelösung SiGreen entwickelt, mit der der CO2-Fußabdruck über die gesamte Lieferkette anhand von gemessenen Realdaten nachverfolgt werden kann, ohne dass die beteiligten Unternehmen ihre Datenhoheit verlieren.
Estainium: Verwaltetes Vertrauen
Kern des von Siemens verfolgen Lösungsansatz ist ein Datenaustausch über dezentrale Rechnernetzwerke, wie sie die Distributed-Ledger-Technik (DLT) bietet. CO2-Daten können damit zwischen am Netzwerk beteiligten Unternehmen direkt ausgetauscht werden. Die Echtheit der Daten bestätigt ein parallel übersendetes Zertifikat, das ein Akkreditierer, etwa ein TÜV-Unternehmen, ausstellt und das über einen öffentlichen Schlüssel überprüft werden kann. Letztlich bestätigt ein solches Zertifikat, dass die Daten vertrauenswürdig und vollständig sind.
Die Verwaltung der digitalen Zertifikate erfolgt über Estainium, ein von Siemens ins Leben gerufenes Netzwerk, das technisch auf der vom Bundeswirtschaftsministerium projektierten IDunion-Infrastruktur beruht. Über die cloudbasierte Software SiGreen kann der Hersteller anhand der Stücklisten die CO2-Daten der Zulieferer anfordern. Der eigentliche Datenaustausch soll in weiten Teilen der Automobilindustrie in Zukunft allerdings über die Plattform Catena-X erfolgen, der sich mittlerweile bereits 96 Unternehmen angeschlossen haben. Deshalb arbeitet Siemens derzeit an einer Schnittstelle zwischen Catena-X und SiGreen.
Messungen im eigenen Betrieb notwendig
Erprobt hat Siemens die Werkzeuge zunächst anhand eines eigenen Produktes – der Steuerungseinheit S7/1500. Die Fertigungsabschnitte für dieses Produkt waren bereits soweit digitalisiert, dass die im eigenen Werk verursachten Emissionen exakt zugeordnet werden können. „Wir wissen genau, welche Fertigungsstationen dieses Produkt wie lange durchläuft“, erläutert Beitinger. Für mittelständische Zulieferer ist aber genau das noch nicht gegeben. Oft werden die gesamten Emissionen aus Energiebezug und Eigenproduktion lediglich durch die Anzahl der gefertigten Bauteile geteilt. „Das kann aber zu Fehlallokationen führen“, warnt Beitinger. Produkte, die in hoher Stückzahl, aber mit geringem Energieeinsatz gefertigt würden, erlitten so einen Wettbewerbsnachteil – zumindest, wenn CO2-Emissionen ein Vergabekriterium darstellen. Eine Lebenszyklusanalyse und eine mit entsprechenden Sensoren ausgestattete Produktion sei der erste Schritt, um dem CO2-Fußabdruck auf die Spur zu kommen.
Eines zeigte das interne Pilotprojekt aber auch: Am gesamten CO2-Fußabdruck der Steuerung hatten die aus der Lieferkette stammenden Emissionen einen Anteil von mehr als 90 Prozent. Die zu vernachlässigen, führt insbesondere bei wenig energieintensiven Elektroniksystemen zu unrealistisch niedrigen Werten – das ist von einer Industriesteuerung eins zu eins auf ein Fahrzeugsteuergerät zu übertragen.
Wie lässt sich CO2 noch rückverfolgen?
Den CO2-Fußabdruck über die reale Lieferkette nachzuweisen, ist insbesondere für jene Hersteller wichtig, die mit dem Argument des Klimaschutzes massiv in Elektromobilität investieren. Einen Beitrag dazu soll ein digitaler Batteriepass leisten, der die voraussichtlich ab 2026 EU-weit geltenden Anforderungen an neue Akkus darstellt. Zwar umfasst der Pass insgesamt zehn Kategorien, doch die durch die Produktion verursachten CO2-Emissionen dürften neben dem ebenfalls angegebenen Gesundheitszustand des Akkus eine der gefragtesten Informationen darstellen. Ein vom Bundeswirtschaftsministerium gefördertes Projekt soll nun zunächst einmal die Standards klären, nach denen die Angaben zu den Emissionen erfolgen. Dazu gehört die Frage, ob der CO2-Fußabdruck anhand realer Daten angegeben wird.
Eine weitere Anwendung mit Potenzial könnte die korrekte Erfassung von CO2-Senken sein. Wird beispielsweise das im Hochofen während der Stahlherstellung abgeschiedene CO2 anschließend gespeichert oder chemisch weiterverarbeitet, muss gewährleistet sein, dass der so produzierte Stahl als klimaneutral in die Klimabilanz des Fahrzeugs eingeht. Auch für die Produktion und Beimischung synthetischer Kraftstoffe kann es wichtig sein, Senken zu berücksichtigen – etwa wenn das Klimagas aus der Luft abgeschieden wird.