Ein Lieferwagen von Amazon

Das Startup Rivian spielt für Amazon eine wichtige Rolle. (Bild: Rivian)

Egal ob man Plug-in-Hybride mitzählt oder nicht und ob man Europa als EU wertet oder als EFTA+UK: Immer liegt der Anteil der Elektrofahrzeuge an den Neuzulassungen solide im zweistelligen Bereich. Zumindest bei den Pkw. Bei den Nutzfahrzeugen dagegen sieht die Sache ganz anders aus: Zwischen Ladesäule und Laderampe klafft bislang eine riesige Lücke, und je größer die Laster werden, desto weniger davon fahren bis dato mit Strom. Selbst die Transporter – dem Pkw noch am nächsten und deshalb tendenziell leicht umzurüsten – hinken hinterher: Unter den 1,5 Millionen europäischen Neuzulassungen im Jahr 2022 waren gerade mal 75.000 Elektro-Fahrzeuge, sagt Steffen Stumpp vom Strategieberater Berylls in München und beziffert den Marktanteil auf bescheidene fünf Prozent. Rund die Hälfte davon stellt Stellantis mit den Marken Citroen, Fiat, Opel und Peugeot. Ein Fünftel trägt den Mercedes-Stern und den Rest teilen sich Ford, Volkswagen und Renault-Nissan.

40 Prozent Marktanteil für E-Transporter?

Doch weil immer mehr Gewerbekunden eigene CO2-Vorgaben haben oder die ihrer Auftraggeber erfüllen müssen und weil es vom kommerziell genutzten ID.Buzz bei VW über den elektrischen Transit bei Ford bis zur nächsten Generation des eSprinters bei Mercedes in den nächsten Monaten zahlreiche attraktive Neuheiten gibt, starten die Commercials gerade eine Aufholjagd: „Wir erwarten, dass der Marktanteil für elektrische Transporter in Europa bis 2030 auf rund 40 Prozent steigen wird“, sagt Stumpp. 

E-Transporter bisher nur für den Stadtverkehr

Diese Erwartung fußt vor allem auf einem verbesserten Angebot: Schon heute haben zwar alle Hersteller BEVs im Angebot, sagt der Berylls-Partner. Doch erstens sei die Auswahl hinsichtlich Modell- oder Batterievarianten und Ladeoptionen oft noch sehr limitiert. Und zweitens seien bei nahezu allen Anbietern lediglich bestehende Verbrenner-Modelle nachträglich elektrifiziert worden, um schnell auf die wachsende Nachfrage reagieren zu können. Das zwinge zu Kompromissen bei der Konstruktion, treibe die Kosten in die Höhe und beeinträchtige Kernkriterien wie die Nutzlast und die Reichweite. „De facto kommen alle verfügbaren Fahrzeuge auf einen Aktionsradius von 150 bis 200 Kilometern und sind deshalb bislang nur für den städtischen Einsatz zu gebrauchen“, erklärt Stumpp den verhaltenen Zuspruch. 

Das planen Mercedes und Ford bei E-Vans

Doch es tut sich was zwischen Ladesäule und Laderampe und die Branche bessert dramatisch nach: Wenn Mercedes in diesem Jahr die nächste Generation des elektrischen Sprinters an den Start bringt, dann gibt es drei Batteriegrößen mit mehr als 400 Kilometern Reichweite – weit mehr als doppelt so viel wie bisher. Und statt nur als Kastenwagen kann man das Flaggschiff der Van-Flotte dann auch mit Pritsche oder Koffer kaufen: „Damit heben wir das Segment des elektrischen Large Vans auf ein neues Niveau. Der Dreiklang aus Effizienz, Reichweite und Ladevolumen bei gleichzeitiger Optimierung der Gesamtkosten macht den neuen eSprinter zum vielseitigsten Mercedes-Benz eVan aller Zeiten”, sagt Van-Chef Mathias Geisen.

Und bei Ford sieht es nicht anders aus: Auch dort fährt der elektrische Transit mit einem pfiffigen Heckantriebs-Modul, das viele Varianten erlaubt, und kommt mit Batterien für immerhin mehr als 300 Kilometer Reichweite. „Mit seinem elektrischen Antrieb, uneingeschränkter Leistungsfähigkeit und der Unterstützung durch sein integriertes Ökosystem hebt er die Wettbewerbsfähigkeit unserer Kunden durch den Umstieg auf eine nachhaltige Firmenflotte auf ein höheres Niveau und verleiht ihrer Produktivität einen Schub“, sagt Commercial-Chef Hans Schep.

VW ID.Buzz
Firmen wie Miele setzen bereits auf den ID.Buzz von VW. (Bild: Volkswagen)

Elektroplattformen werden auch für Vans die Basis

Mit diesen Modellwechseln hätten die Van-Hersteller ihre Plattformen auf E-Antriebe hin optimiert und könnten so das Portfolio in der Breite elektrifizieren, lobt Berylls-Partner Stumpp: Ein modulares Produktdesign werde dann wesentlich mehr Produktvarianten bei geringeren Kosten erlauben, außerdem stiegen die Batteriegrößen und Reichweiten um den Faktor zwei.

Aber auch das ist nur ein Zwischenschritt. Denn so, wie VW jetzt den ID.Buzz auf eine dezidierte Elektroplattform gestellt hat, werden auch andere Hersteller in anderen Segmenten dezidierte E-Architekturen als Unterbau nutzen. Mercedes zum Beispiel nennt die so genannte VanEA als eine von vier Architekturen, aus denen die Schwaben ab der zweiten Hälfte des Jahrzehnts ihr gesamtes Portfolio ableiten wollen.

Damit sind die etablierten Hersteller allerdings nicht allein. Denn den gleichen Ansatz verfolgen eine Reihe neuer Spieler, die auf der grünen Wiese entstehen und mit einem weißen Blatt Papier beginnen können. Allesamt kommen sie mit so genannten Purpose-Built-Fahrzeugkonzepten, die stark an den Anforderungen wichtiger Kunden ausgerichtet werden. Das gilt für Startups wie Rivian mit dem Leitkunden Amazon oder Arrival und UPS genauso wie für die junge GM-Tochter Brightdrop, die sich vor allem auf Walmart eingeschossen hat. 

Startups bedrohen etablierte Hersteller nicht

Anders als im Pkw-Geschäft wertet Berylls-Partner Stumpp die Startups aber nicht als große Gefahr für die etablierten OEM. Die sind mittlerweile aufgewacht und treiben den Wandel selbst massiv voran. „Deshalb wird es den Tesla-Effekt wohl kein zweites Mal geben“, ist Stumpp überzeugt. Zudem erlaubten solche Purpose-Built-Fahrzeugkonzepte nur ein relativ schmales Produktportfolio für ein standardisiertes Marktsegment mit überschaubaren Margen, insbesondere bei Flottenkunden. Und nicht zuletzt das Beispiel Rivian zeige, dass diese hoch gelobten Startups eben auch nur mit Wasser kochen: „Verschobene Produktanläufe, ausufernde Kosten, Probleme mit der Qualität: Im knallharten Autobusiness ist Erfahrung in Entwicklung, Produktion, Vermarktung und After Sales einen großer Vorteil.“

China drückt auch bei Elektro-Lieferwagen aufs Tempo

Viel gefährlicher als solche Newcomer könnten den Stammspielern die Chinesen werden. Schließlich bespielen die daheim den mit zwei Millionen neuen Light Commercials pro Jahr und einem Elektroanteil von heute bereits zehn Prozent größten Markt der Welt und haben längst die entsprechenden Erfahrungen gesammelt. Allen voran dominierende Marken wie Geely, Dongfeng oder Foton, die zusammen knapp die Hälfte des Volumens stemmen. „Mit ihren unschlagbar niedrigen Herstellkosten, dem großen Kompetenzvorsprung bei der Batterietechnik und dem kreativen Umgang mit digitalen Fahrzeugfunktionen sind die die größere Herausforderung“, ist Stumpp überzeugt. Und sie drängen bereits nach Europa, warnt er mit Blick auf Maxus oder BYD, die längst ihr Debüt vorbereiten. 

Profitieren wird von diesem Wettbewerb am Ende vor allem der Kunde. Entweder bekommt er billigere und womöglich auch leistungsfähigere Fahrzeuge von neuen Anbietern oder den besseren Service von den alten Platzhirschen. „Denn um sich dieses neuen Wettbewerbs zu erwehren, müssen die etablierten Anbieter den Kundennutzen in den Mittelpunkt stellen“, rät der Experte. Bei Nutzfahrzeugen zählten dazu maximale Verfügbarkeit, niedrige Betriebskosten, hohe Produktqualität und nicht zuletzt ein partnerschaftlicher Kundenumgang in Vertrieb & Service. Und auch das geht mit Erfahrung womöglich leichter, ist er überzeugt: Wer die in den unterschiedlichen Branchen sehr heterogen Kundenbedürfnisse verstehe und erfolgreich in Produkte und Services zu übersetze, verschaffe sich einen schwer einholbaren Vorsprung.

Ein Brightdrop
GM-Tochter Brightdrop könnte den US-Konzern wieder wichtiger in Europa machen. (Bild: Brightdrop)

Ladeinfrastruktur wird auch bei E-Lieferwagen entscheidend

Aber egal ob alt oder neu: Alle Anbieter werden nach Stumpps Einschätzung mit der Infrastruktur zu kämpfen haben. Denn nicht alle Fahrzeuge seien depotgebunden, sondern zum Beispiel im Handwerk würden Mitarbeiter häufig abends mit dem Transporter nach Hause fahren. Wer da nicht laden kann, der wird die Umstellung wahrscheinlich ausbremsen. „Wir erwarten deshalb je nach Branche und Einsatzzweck ein sehr unterschiedliches Tempo für die Marktdurchdringung elektrischer Transporter.“

China ist weit voraus und Europa am Aufholen, doch eine Region spielt bei der Elektrifizierung des Van-Segments kaum eine Rolle: Die USA. Während der E-Boom beim Auto ohne die USA nicht denkbar wäre, sind die Amerikaner an der Laderampe nur Zaungäste, sagt Stumpp. Weil dort nach wie vor der Pick-Up die gewerblichen Zulassungen dominiert, ist ihr Transporter-Markt mit rund 500.000 Zulassungen vergleichsweise gering.

Welche Rolle spielen elektrische Lieferwagen in den USA?

Allerdings ist auch um dieses kleine Stück vom Kuchen ein erbitterter Wettbewerb entbrannt, sagt Stumpp und verweist auf den Inflation Reduction Act der US-Regierung: Weil sie für kommerzielle Elektrofahrzeuge zum Beispiel eine Steuergutschrift von 30 Prozent in Aussicht stellt, stellen immer mehr Unternehmen ihre Flotten um. Berylls rechnet bis 2030 mit einer Elektrifizierungsquote von weit mehr als 50 Prozent – mehr als auf jedem anderen Markt. Davon wollen nicht nur Ford, GM und Stellantis profitieren, sondern auch die vielen Startups, denen Stumpp Marktanteile von bis zu zehn Prozent zutraut.

Und Mercedes. Zwar sperrt die Steuer- und Subventionspolitik ausländische Hersteller weitgehend aus, weshalb etwa VW erst einmal leer ausgeht und auch den ID.Buzz nur als hochpreisigen PKW anbietet. Doch nicht umsonst rüsten die Schwaben gerade ihr Van-Werk in Charlotte für den eSprinter um und sind dort sogar noch vor Europa mit dem modernisierten Stromer am Start. 

Umgekehrt allerdings könnte die Elektrifizierung des Transporters auch ein paar Amerikanern nach Europa (zurück) führen, glaubt Stumpp und verweist zum Beispiel auf die mittlerweile halbwegs öffentlichen Gedankenspiele der GM-Tochter Brightdrop.  „Während sich Chevrolet und Cadillac weitgehend aus Europa verabschiedet haben, könnte GM mit dem elektrischen Transporter so quasi durch den Lieferanteneingang wieder zurückkommen.“ 

Aber gerade das Beispiel Rivian und die geplatzte Kooperation mit Daimler zeigt, dass aus dieser Richtung zumindest akut noch keine Gefahr droht, sagt Stumpp „Die New Kids müssen sich erst mal in ihrem ‚Block’ bewähren, bevor sie auf Tour nach Übersee gehen können.“ 

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