Herr Schuh, bei einer Veranstaltung von Automobil Produktion im Juni 2018 traten Sie als Herausforderer der etablierten Hersteller auf und provozierten mit einer unkonventionellen Produktionsdenke. Nach den Erfahrungen im letzten Jahr: Wie weit liegen Theorie und Praxis auseinander?
Ich sehe mich weder als Angreifer noch als Provokateur, höchstens als Pfadfinder. Wir wissen doch: Alle sogenannten Revolutionen in der Automobilindustrie haben ihren Kern in der Produktion. Das war nicht nur am Anfang der industriellen Massenfertigung à la Henry Ford so, sondern gilt unverändert, beispielsweise wenn es heute um das Thema Markendifferenzierung geht. In allen OEM-Konzernen setzen die unterschiedlichen Modelle sinnvollerweise auf einer gemeinsamen Plattformarchitektur auf.
Und das bedeutet?
Im Sinne größerer Evolutionsschritte häutet sich diese Branche regelmäßig über neue Produktionskonzepte. Als wir 2016 bei e.Go Mobile begannen, das Werk 1 in Aachen zu konzipieren, hatten wir als Wissenschaftler ein Produktionskonzept vor Augen, das mit einer entsprechenden Produkttechnologie und vor allem einer passenden Produktarchitektur Hand in Hand gehen sollte. Beides muss zusammenpassen.
Und wenn das nicht der Fall ist?
… erleben Sie die Kehrseite der heutigen Automobilfertigung: Sie ist geprägt durch Überkapazitäten und Überproduktion. Wir haben unser Produktionskonzept nicht entworfen, um irgendjemanden vorzuführen, sondern weil wir versuchen wollen, eine vielversprechende Theorie in der Praxis umzusetzen. Darin sehen wir keine Provokation, sondern einen Beitrag, der allen Marktteilnehmern neue Impulse liefern kann. In einer Welt mit wachsendem Ökologiebewusstsein kann es sich keine Industrie mehr erlauben, wertvolle Ressourcen für Überkapazitäten zu verschwenden.
Aber es waren doch gerade Produktionsingenieure, die immer wieder für beeindruckende Produktivitätssteigerungen gesorgt haben?
Das stimmt. Deshalb müssen wir uns ja heute verstärkt der Frage stellen, welches Erbe wir weitergeben wollen. Wir sehen doch, wohin uns die Massenproduktion mit ihren optimierten Skaleneffekten geführt hat: Fast alles, was wir heute industriell fertigen, können wir uns selbst dann leisten, wenn wir es nur selten nutzen – zum Beispiel einen Privat-Pkw, bei dem die durchschnittliche Auslastung gerade mal bei vier oder fünf Prozent liegt. Ein anderes Grundproblem ist die gestiegene Produktkomplexität: Die Autoindustrie ist – wie viele andere Branchen auch – aus einem Anbietermarkt heraus entstanden. Jetzt ist sie seit zig Jahren ein Käufermarkt, der sich immer weiter verästelt, ohne dass die OEMs wirklich wissen, was ihre Kunden eigentlich möchten. Auch dieser Miss-Match führt zu einem hohen Maß an Verschwendung.
Das mag so sein. Aber jetzt kommt doch niemand mehr aus der Nummer raus, oder?
Ja, das System ist keinesfalls selbstregulierend. Im Gegenteil: Über die Zeit haben ein gut gemeinter Verbraucherschutz durch den Gesetzgeber sowie die Aktivitäten allerlei anderer Institutionen zu einer Überregulierung geführt. Warum sehen wir keine Innovationen in der Bahntechnik? Weil sie seit Jahrzehnten überreguliert ist. Warum gibt es in der Luftfahrt kaum Erfindungen seit dem Turbinen-Strahltriebwerk, das inzwischen bald 70 Jahre zählt? Wegen Überregulierung. Und jetzt folgt die Autoindustrie: Man soll durch Verordnungen ökologischer werden – aber wenn das nicht mit einem Produktivitätsfortschritt verbunden wird, sehe ich keine Chancen auf Erfolg. Es reden zwar alle über das Elektroauto, aber der Normalverdiener kann sich die hohen Anschaffungskosten schlichtweg nicht leisten.
Was also ist zu tun?
Im ersten Schritt sollten wir uns darauf fokussieren, Fahrzeugflotten auf einen nennenswerten Anteil von E-Autos umzustellen. Und wir sollten E-Mobilität zielgerichtet im urbanen Raum ausbauen – speziell dort brauchen wir bezahlbare Konzepte. Bei e.GO Mobile können wir durch eine abgestimmte Produktionstechnik und Fahrzeugarchitektur Autos produzieren, für die wir nur zehn bis 15 Prozent der sonst üblichen Investitionssummen brauchen. Schon seit 20 Jahren lautet mein Rat als Produktionsforscher für die Autoindustrie: Sucht nach Konzepten, die euch nicht einfrieren und behindern und vermeidet CapEx-Orgien.
Leichter gesagt als getan …
Wenn wir unterstellen, dass es nur noch wenige Blockbuster-Fahrzeuge wie einst den VW-Käfer geben wird, sondern weiterhin viele Produkte in verschiedenen Fahrzeugkategorien, die alle pro Jahr und über ihren gesamten Lebenszyklus hinweg auf wesentlich niedrigere Stückzahlen kommen, dann haben solche Nischenangebote keine reale Chance, wirklich wirtschaftlich zu sein – selbst dann nicht, wenn der Markt sie gut annimmt und sie auf dem optimalen Betriebspunkt sind. Die Stückkosten sind oft gar nicht mehr das Entscheidende. Selbst für ein kleines Fahrzeug, klassisch gebaut, fallen 120 Millionen Euro Werkzeugkosten an – hydraulische Pressen, Karosseriebau und Lackiererei noch gar nicht mitgerechnet. Entwicklungsaufwand und Umlagekosten sind so immens, dass kein Hersteller mehr Geld verdient, egal, wie teuer das Kleinserienauto am Ende im Markt angeboten wird. Daran müssen wir etwas ändern.
Und das haben Sie bei e.Go Mobile getan?
Ja, wir haben die Produktion und das Produkt von Scratch an neu gedacht und umgesetzt. Das war bei uns, ehrlich gesagt, eine notwendige Herangehensweise. Einen neuen Autobauer hochzuziehen und mit X-Milliarden anfeuern mag vielleicht in Kalifornien funktionieren, aber nicht in Hypothekenbanken-Deutschland. Wenn uns hier ein Investor unter die Lupe nimmt, glaubt der die ersten sechs Wochen, das kann nicht stimmen, was wir erzählen. Weil er sagt: Wie kann das sein, dass e.GO mit weniger als 400 Millionen Euro schon so weit gekommen ist und der Rest der Welt das noch nicht geschafft hat? Außer Tesla und e.Go Mobile gibt es im Pkw-Bereich außerhalb Chinas unter den Startups keinen, der einen homologierten Pkw auf die Straße bekommen hat. Alle, die das bisher versucht haben, haben etwa fünfmal mehr Geld investiert als wir.
Ende 2019 wurde aber auch bei e.GO Mobile das Geld knapp. Jetzt sind Sie mit einem chinesischen Partner ein Joint Venture eingegangen. Verzweiflungstat oder strategischer Schritt?
Ein Startup hat immer wieder neuen Finanzierungsbedarf. In den USA würde kein Journalist auf die Idee kommen, daraus eine große Meldung zu machen.
Also haben Sie Ihren chinesischen Partner mit Bedacht gewählt, nicht in einer Notfallreaktion?
Ja, wir haben unseren chinesischen Partner schon 2018 ausgewählt. Ich habe unsere Firma von vornherein so aufgebaut, dass wir immer nur mit kleinen, kapazitätsoptimierten Einheiten antreten und dass wir unser Wachstum durch Joint Ventures in weiteren Zielmärkten etablieren können. Im Frühjahr 2019 waren wir uns mit dem chinesischen Partner handelseinig. Aber weil einer unserer Shareholder über diese Entscheidung noch Klärungsbedarf hatte, hat sich der Vertragsabschluss um ein halbes Jahr verzögert.
Nun führt die Corona-Pandemie nicht nur zur Unterbrechung des Verkaufs und der Supply Chains. Auch der Kapitalmarkt bricht weg …
Unsere überwiegend strategischen Investoren haben uns bis hierhin stark unterstützt und uns ermöglicht, als einziges Startup in Europa einen E-Pkw in Serie auf die Straße zu bringen. Jetzt haben sie verständlicherweise andere Prioritäten. Dennoch wollen wir alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter an Bord behalten und hoffen, dass uns unsere Kunden und unsere Lieferanten auch während der Eigenverwaltungsphase die Treue halten. Wir sind kreativ und zäh: Wir sind deutsche Ingenieure! Wir werden auch diese Krise überstehen.
Können Sie Details zur Kooperation in China nennen?
An die Bereitschaft, unser geistiges Eigentum in ein Joint Venture in China einzubringen, knüpfen wir die Verpflichtung, dass sich der Partner in unsere Muttergesellschaft einkauft und zwischen drei und fünf Prozent der e.Go Mobile AG erwirbt. Die sorgsame Auswahl von Shareholdern richtet sich nicht nur danach, wer bereit ist, viel Geld auf den Tisch zulegen, sondern wird vor allem daran bemessen, wer zu uns passt. Der Vollständigkeit halber sei gesagt, dass das JV schon unterschrieben ist, aber noch nicht final abgeschlossen, weil das Geld noch überwiesen werden muss. Sicher können Sie sich vorstellen, dass wir in den letzten Wochen Mühe hatten, mit China alles klar zu machen. Wir planen mit einer Fertigungskapazität von 100.000 Fahrzeugen pro Jahr und wollen dann in weitere Derivate gehen, die wir bis dahin hier in Aachen entwickelt haben werden. Wir streben in China einen hohen Lokalisierungsgrad an und werden bis zu 90 Prozent der Fahrzeugumfänge lokal sourcen. Wir bauen ein robustes, günstiges Auto – eine aufgeblähte Logistikkette und Teiletourismus verbieten sich von selbst.
Wird die Industrie 4.0-Vorzeigefabrik in Aachen die Blaupause für das Werk in China liefern?
Wir haben Aachen von vorneherein als Referenzwerk angelegt. Es ist weltweit die digitalste Montagefabrik, die ich kenne. Niemand arbeitet mit einem so hohen Vernetzungsgrad und generiert eine so hohe Datenqualität im laufenden Betrieb. Durch die Summe der aggregierten Daten entsteht Prognosefähigkeit mit dem Ziel einer durchgängig kontrollierten Produktion. Mit unserem digitalen Leitstandskonzept können wir alle Werke in der Welt wie ein Werk führen. Entscheidend dafür ist, dass wir alle 14 Softwaresysteme 1:1 übertragen. Das ist noch wichtiger, als die Physis identisch abzubilden.
Werden Sie tatsächlich 100.000 Fahrzeuge verkaufen können?
Unsere chinesischen Partner wollten mit einer Stückzahl von 300.000 starten. Aber wir wissen: Man muss die beeinflussbare Komplexität zu Beginn niedrig halten. Bei alledem, was das System kann: Alles muss sich Schritt für Schritt einfahren. Deshalb starten wir mit dem e.Go Life so, wie er jetzt ist. Bei der Lokalisierung braucht es weiteres Engineering, weil bei den Komponenten, die von chinesischen Zulieferern in China kommen und verbaut werden, Anpassungen erforderlich sind. Zusätzlich ist speziell für China eine größere Version vorgesehen, die wir mit unserem Aluminium-Space-Frame besonders leicht darstellen können. Mit diesem Gesamtkonzept haben wir uns in verschiedenen Regionen beworben und warten nun auf weiterführende Gespräche mit den lokalen politischen Entscheidern, die sich für dieses German-Engineering-Produkt interessieren. Es geht, das will ich nicht verschweigen, um ein beachtliches Fördervolumen. Und: Wir werden versuchen, über eine Premiumpositionierung in den Markt einzusteigen.
In Europa und speziell in Deutschland wird das nicht funktionieren …
… das kommt darauf an. Das größte Volumen sehen wir für uns in Europa im Zweitwagengeschäft. Kunden werden die nächsten fünf Jahre noch vorsichtig beim Kauf von E-Fahrzeugen sein. Viele wollen zwar etwas für den Klima- und Umweltschutz tun, aber fast jedes Elektroauto kommt ihnen wie ein Kurzstreckenauto vor. Wir stecken in einer Phase vergleichbar der Nachkriegszeit: Da hatte fast jeder Haushalt ein „Zweitfahrzeug“ – meistens einen Motorroller oder ein Moped. Genau das ist jetzt unsere Chance: Viele werden sich ein E-Auto als Zweitwagen zulegen. Es muss praktisch, sicher, effizient und günstig sein – wie der e.Go Life. Dieses Segment wird in dieser Dekade auf zehn bis zwölf Prozent Marktanteil anwachsen. Das wären allein in Deutschland 400.000 Autos jährlich.
Egal, ob in Asien oder in Europa – damit Produktion und Auslieferung reibungslos laufen, braucht jeder Autohersteller eine perfekt synchronisierte Supply Chain. Haben Sie die Zulieferprobleme mittlerweile im Griff?
Na ja, ich würde mal sagen, wir haben das Thema besser im Griff als mancher große OEM. Aber auch wir haben die hundert Prozent noch nicht erreicht. Wir hatten tatsächlich fünf Umfänge, die instabil waren. Teilweise lag es daran, dass die Qualität der Zulieferteile nicht in ausreichendem Maße gegeben war oder sich auch die Materialwirtschaft der Zulieferer schwierig gestaltete. Außerdem kam es unter anderem zu Unterschieden in der Prüfung der Zulieferer und unseren eigenen Prüfungen. Wir haben aber auch noch zu viel geändert. Wir wollten 2019 im September in eine ernsthafte Serienproduktion einsteigen. Aber unter anderem aus den oben genannten Gründen haben wir das nur im Stotterschritt hingekriegt. Erst im Dezember hatten wir dann ein paar wunderbare Wochen, in denen alles glatt lief und alle freuten sich schon: Jawohl, jetzt können wir es! Und im Januar kam es dann erneut zu Problemen. Es ist keine wirkliche Überraschung, dass die Batterie eines unserer Hauptthemen ist. Sie ist und bleibt das teuerste, das gefährlichste und das anspruchsvollste Teil. Deshalb überlegen wir, gemeinsam mit unserem Lieferanten hier in Aachen eine ergänzende Batteriemontage aufzubauen – und zwar Modulmontage und Gesamtpackage-Montage.
Wir erinnern uns, dass Sie früher Tesla dafür kritisiert haben, selbst zu viel zu machen …
Ja, ich muss aber zugeben, dass dies im Moment auch unser Reflex ist, wenn es um unsere Hauptproblemzonen geht. Wenn ich jetzt an dem von uns selber erfundenen Achssystem doch immer wieder Toleranzprobleme sehe, frage ich mich schon, warum wir das nicht einfach selber gemacht haben.
Mussten Sie wie Tesla-Boss Elon Musk schon einmal in der Fabrik übernachten?
Nein, ich habe es einfacher (lacht). Ich wohne in Jogging-Entfernung zum Werk. Ich bin nun schon etwas älter und laufe nicht mehr zehn Kilometer oder mehr. Von mir zu Hause bis zum Werk sind es Luftlinie 2,5 Kilometer. Das ist optimal, um am Wochenende eine kleine Runde zu drehen. Also jogge ich nicht mehr durch den Aachener Wald, sondern immer zum Werk und zurück.
Das Interview führten Ralf Bretting und Hilmar Dunker