Frau Platz, bei der Auto-Motive Academy kombinieren Sie „die Vorzüge des dualen Hochschulsystems mit denen einer unabhängigen Bildungseinrichtung". Wie darf man sich Ihre Arbeit vorstellen?
Platz: Unsere Auto-Motive Aktivitäten basieren im Wesentlichen auf drei Bausteinen. Im Kern geht es uns darum, Plattformen für einen nachhaltigen Wissens- und Erfahrungsaustausch zu schaffen. Hierfür bringen wir regelmäßig Wissenschaftler, Industrieexperten und Top-Entscheider an einen Tisch. Wir befinden uns inmitten einer tiefgreifenden Transformation. In diesem Zusammenhang evaluieren wir unter anderem, welche Kompetenzen es aufzubauen gilt, und setzen mit unserem hochschulübergreifenden Academy-Konzept als zweiten Baustein genau da an. Dabei verzahnen wir Experten aus Wissenschaft und Forschung, die das duale Konzept gut kennen, sodass sich die Mitarbeiter am Puls der Zeit weiterbilden können, ohne ihr Arbeitsumfeld verlassen zu müssen. Im dritten Baustein beschäftigen wir uns damit, wie wir eine kontinuierliche Weiterbildung der Mitarbeiter sicherstellen können, die den neuen, deutlich kürzeren Produktzyklen gerecht wird und die individuellen Bedürfnisse der Einzelpersonen berücksichtigt. Dabei setzen wir verstärkt auf Möglichkeiten der Digitalisierung und Generative AI, die wir in unserem eigenen Lab in München bewerten, weiter erforschen und entwickeln.
Herr Reger, Automatisierung und Digitalisierung gelten mit Blick auf die Herausforderungen der Automobilindustrie als unverzichtbare Instrumente. Mit welchen Schritten und Angeboten geht ABB auf Automobilhersteller und Zulieferer zu?
Reger: Wir sehen uns als 'one stop shop' für die Roboter-gestützte Automation. ABB hat die Technologie, um Kunden bei der Transformation hin zur nachhaltigen Mobilität zu unterstützten. Dazu bieten wir eines der breitesten Produktsortimente mit 6-Achs-Robotern, Scara, Delta, Lackierroboter und AMRs. Außerdem bieten wir Funktionspakete für diverse Applikationen wie Schweißen, Punktschweissen, Kleben, Dichten und viele weitere. Speziell zu erwähnen ist hier PixelPaint, das individualisierte Lackierungen ohne zusätzliches Abdecken erlaubt. Dies ermöglicht eine nachhaltigere und flexibler Produktion. Wir bieten auch standardisierte Zellen, die den Integrationsaufwand minimieren und das Risiko für den Kunden senken, bis hin zu maßgeschneiderten, smarten Produktionslinien. Zusammen mit unseren AMRs können die verschiedenen Zellen automatisch be- und entladen werden. So entstehen flexible Produktionslinien, die sich schnell den Bedürfnissen anpassen lassen und auch mehrere Modell- und Variantenwechsel auf derselben Linie ermöglichen. Selbstverständlich bieten wir auch alles Nötige drum herum wie verschiedene Softwarelösungen und den gesamten Servicebereich.
Neben Automatisierung und Digitalisierung zählt die Qualifizierung der Mitarbeiter zu den absoluten Topthemen. Wie geht ABB hierbei vor?
Reger: Unser Service, der weltweit strukturiert ist, umfasst einen großen Trainingsbereich. Diesen bauen wir mit Blick auf die neuen Technologien, die gerade die Elektromobilität mit sich bringt, weiter aus. Dies insbesondere in Form von Schulungen unserer Kunden. Beispiele beim OEM sind die Montage von Motoren oder der Zusammenbau von Batterien. Zu diesen Themen können sich die Beteiligten in unserem Trainingscenter direkt an dieser Applikation weiterbilden inklusive der Arbeit mit der entsprechenden Software. Dieses Portfolio erweitern wir kontinuierlich, nicht nur, aber gerade auch um die Themenfelder, welche die E-Mobility mit sich bringt.
Laut einer gemeinsamen Erhebung von ABB und Automotive Manufacturing Solutions, glaubt die Mehrheit, dass der Zeitplan für die EV-Produktion zu ambitioniert ist. Stimmen Sie dem zu?
Platz: Die Transformation hin zu einer CO2-armen Produktion und der Massenadaption von Elektroantrieben ist zweifellos eine komplexe Herausforderung. Es müssen technische Hürden überwunden, Produktionskapazitäten aufgebaut und die öffentliche Infrastruktur angepasst werden. Ich denke, es ist wichtig, dass die technologischen und wirtschaftlichen Ziele realistisch und erreichbar sind und die Transformation schrittweise erfolgen kann. Dies bedeutet auch, angemessene Investitionen in Forschung, Entwicklung und in die Weiterbildung der Menschen zu berücksichtigen. Neue Fähigkeiten werden benötigt und Umschulungen sind notwendig. Es ist wichtig, die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in diesem Prozess zu unterstützen und sicherzustellen, dass niemand durch die Veränderungen abgehängt wird. Unter Berücksichtigung aller Faktoren erscheint es mir schwierig, eine konkrete Zeitschiene festzulegen, aber ich gehe davon aus, dass in den kommenden Jahren erhebliche Fortschritte erzielt werden.
Reger: Die Umfrage spiegelt den Druck und die Belastung wider, in der sich die Industrie momentan befindet. Ob sich die engagierten Vorgaben einhalten lassen, hängt von verschiedenen Faktoren ab. Sicher ist, dass die Automatisierung ein entscheidendes Element ist, um die Produktion belastbarer, effizienter und schneller zu machen. Deshalb verzeichnen wir eine hohe Nachfrage nach unseren Robotern, gerade nach solchen, die auf die Montage von Elektrofahrzeugen spezialisiert sind. Diese Lösungen helfen dabei die Bauzeiten radikal zu verkürzen, die Flexibilität zu verbessern und den Produktionsprozess weiter zu vereinfachen. Letztlich sinken damit auch die Produktionskosten. Letzteres ist entscheidend, da Elektrofahrzeuge immer noch teurer sind als Verbrenner.
Steht der Wandel zur Elektromobilität vor weiteren Herausforderungen?
Reger: Ein weiterer wichtiger Punkt ist, dass der Übergang zu EV geografisch sehr unterschiedlich sein wird. Manche Regionen werden längere Zeit brauchen, um die entsprechende Infrastruktur bereitzustellen, oder sie werden unter Umständen nie komplett auf EV setzen. Dies erklärt auch, weshalb der Verbrennungsmotor in naher Zukunft nicht komplett verschwinden wird. Dies ist eine weitere Herausforderung für die Hersteller, da die Anzahl herzustellender Antriebsstränge immer größer wird. Mit Blick auf die Menschen besteht ein riesiger Schulungsbedarf. In den Fabriken sind die Infrastrukturen ja vorhanden. Die Herausforderungen bestehen aber darin, Transformation zu gestalten und danach zu schauen, wie man die Menschen nach und nach hin zur Herstellung der Elektroautos bei gleichzeitig noch über Jahre hinweg laufender klassischer Antriebe befähigt. Dies ist machbar, wenn alle Beteiligten an einem Strang ziehen, denn der gesellschaftliche Druck in Richtung Nachhaltigkeit ist da.
In welchen Gewerken oder Prozessen sind Automatisierung und Digitalisierung besonders weit vorangeschritten?
Reger: Die Automobilindustrie ist bereits eine stark automatisierte Branche. Den Trend zur Automatisierung erkennen wir über die Autobranche hinaus. In der Weltwirtschaft sind momentan mehr als drei Millionen Industrieroboter im Einsatz - eine Zahl, die sich in den letzten zehn Jahren mehr als verdreifacht hat. Die Kosten für Roboter sind erheblich gesunken, sodass sie auch für mittlere und kleinere Unternehmen erschwinglich sind und eine kürzere Amortisationszeit bieten. Indem Roboter von lästigen, sich wiederholenden Aufgaben befreien, ermöglichen sie den Mitarbeitern, sich genau auf die Aufgaben zu konzentrieren, die einen echten Mehrwert schaffen und die sich nicht automatisieren lassen. Robotik hebt die Kluft zwischen Arbeitern und Büroangestellten auf und bietet den Digital Natives, intelligenter und sicherer zu arbeiten. Naturgemäß sind die Autohersteller bereits sehr stark automatisiert und digitalisiert. Auch die Zulieferindustrie holt stark auf. Pauschal lässt sich die Frage nach dem Automatisierungsgrad aber nicht beantworten, da dies immer von den vorhandenen Gegebenheiten abhängt. Es ist auch nicht immer sinnvoll, alles bis zum allerletzten Prozessschritt zu automatisieren. Hier bieten kollaborative Roboter, die sogenannten Cobots, eine gute Möglichkeit der Zusammenarbeit zwischen dem Mitarbeiter und der Maschine.
Wo bleibt der Mensch weiterhin unverzichtbar?
Platz: Robotik und Automatisierung bieten zweifellos viele Vorteile und ermöglichen uns bestimmte Aufgaben effizienter zu erledigen. Dennoch wird es immer Themen geben, die sich nicht über Maschinen abbilden lassen. Dazu zählen beispielsweise Bereiche, die mit Design und Ästhetik zu tun haben, aber auch solche, bei denen es auf eine schnelle Entscheidungsfindung und Anpassungsfähigkeit ankommt, wo vordefinierte Prozesse und Algorithmen auch einmal übergangen werden müssen. Die Zusammenarbeit von Menschen und Maschinen wird zunehmend zu einer Kompetenzverschiebung führen, in deren Zuge Berufsbilder tendenziell anspruchsvoller werden.
Reger: Höherwertige Arbeiten werden weiterhin von Menschen geleistet. Sie müssen darüber hinaus die Maschinen warten, Instand halten und Informationen auswerten. Die Operator in den Werken werden mit Blick auf den Ausbildungsgrad eine höhere Stufe erhalten. Mit Blick auf die abgewanderten Arbeitsplätze, schafft ein höherer Grad an Automatisierung wiederum die Möglichkeit, Tätigkeitsfelder hier in Europa zu lassen oder sie wieder zurückzugewinnen.
Ein höherer Automatisierungsgrad könnte Hochlohnländern zugute kommen, wie etwa bei der Kabelbaum- und Bordnetzfertigung…
Reger: Die Produktionsketten müssen gegenüber äußeren Einflüssen resilienter werden. Das haben wir schmerzlich mit der Pandemie oder auch aufgrund des Kriegs gegen die Ukraine erfahren müssen. Automation und Technologie sind Mittel, um die Produktion wieder näher an den Konsumenten zu bringen, die Stichworte lauten: Nearshoring und Friendshoring. Es ergibt keinen Sinn, bestehende Prozesse stur zu automatisieren, sondern es muss auch immer wieder nach neuer Technologie Ausschau gehalten werden. Um Ihr Beispiel der Kabelbäume aufzugreifen: Womöglich ist es besser, nach Technologie Ausschau zu halten, welche sie ganz oder teilweise ersetzen kann, anstelle diese aufwändig zu automatisieren. Aber selbstverständlich kommen auch in der Automation immer neue Technologien hinzu, die es ermöglichen, Produktionsschritte morgen zu automatisieren, bei denen das heute noch nicht möglich ist. In den letzten Jahren haben wir starke Fortschritte etwa in der Vision Technologie gesehen. Neu hinzukommen KI und Machine Learning.
Auch Weiterbildung und Qualifizierung bedürfen moderner Tools. Wie sehen die Lernsysteme der Zukunft aus?
Platz: Im Grunde haben wir es bei der Weiterbildung mit denselben Themen zu tun, wie Sie, Herr Reger, in der Industrie. Digitalisierung und Künstliche Intelligenz (KI) sind auch hier nicht mehr wegzudenken. Dies hatte ich eingangs mit „weg von traditionellen Lernsystemen“ gemeint. Hier kommt die Frage ins Spiel: Was muss Weiterbildung leisten, wenn Menschen und Maschinen immer näher zusammenrücken und Produktlebenszyklen zunehmend kürzer werden? Ich bin der Überzeugung, dass sie kontinuierlicher, flexibler, personalisierter und zugänglicher werden muss; durch virtuelle Assistenten, adaptive Lernplattformen und intelligente Tutoring-Systeme. Mit Blick auf die KI bedeutet dies beispielsweise dem Lernenden personalisierte Lerninhalte in Echtzeit auszuspielen, ihm seinen Lernfortschritt sowie etwaige Defizite sofort aufzuzeigen und seinen individuellen Lernpfad darauf anzupassen. Dabei beantwortet die KI Fragen, gibt Feedback und nimmt objektive Auswertungen vor.
Worin besteht der Unterschied zwischen den etablierten OEMs und neuen Playern bei Automatisierung und Digitalisierung? Wie eindeutig ist der Vorteil im Greenfield gegenüber dem Brownfield?
Reger: Die neuen Player haben schlicht kein Erbe, um das sie sich kümmern müssen. Wir sehen einige hoch erfolgreiche Autobauer aus China, die jetzt in den europäischen und amerikanischen Markt drängen. Unternehmen wie Tesla fokussieren sich ausschließlich auf batterieelektrische Fahrzeuge und müssen sich nicht um mehrere Antriebsvarianten wie ICE, HEV, BEV und so weiter kümmern. Dies verschafft ihnen einen großen Vorteil in Bezug auf die Komplexität ihrer Produktionsstandorte. Ebenfalls hinterfragen sie schlicht bestehende Produktionsmetoden, weil sie nicht auf bestehende Anlagen zurückgreifen müssen. Ein Stichwort mit Blick auf neue Fertigungsprozesse lautet Megacasting, die Fertigung großer Karosseriebauteile aus Druckguss, die zur Reduzierung der Komplexität führen kann. Diese neuen Player bringen also sehr viel Innovation in eine etablierte Industrie. Außerdem haben die etablierten OEMs zunehmend Probleme, Fachkräfte zu finden. Neben Motoringenieuren benötigen sie jetzt zusätzlich Batterieexperten und Elektromotorspezialisten, die nicht einfach zu finden sind.
Spüren Sie den Wettbewerb des Maschinen- und Anlagenbaus aus Asien?
Reger: ABB ist global aufgestellt. Unsere großen Kunden sind ebenfalls global. Das heißt, wir können unsere Kunden lokal betreuen und zugleich auf ein global verfügbares Portfolio zurückgreifen. Dies gewährt den Anwendern Sicherheit und bringt diverse Vorteile in der Ausbildung sowie dem Training der Mitarbeiter mit sich. Fachkräfte und Anlagen können dort eingesetzt werden, wo sie benötigt werden, die Stichworte lauten hier: Lift and Shift. Zudem haben wir das breiteste Portfolio am Markt. Wie erwähnt, decken wir von den Roboterprodukten über standardisierte Zellen bis hin zu ganzen Linien mit entsprechender Software alles ab. Mit Blick auf Automotive können wir die gesamten Prozessschritte eines Automobils in der Fabrik abdecken. Was uns noch viel stärker vom Wettbewerb unterscheidet, ist unser Fach- und Prozesswissen in den verschiedenen Industrien, zusammen mit unserem Automations-Know-how unterscheidet uns das von den meisten Anbietern.
Wenn Sie in der Automobilbranche einen Wunsch frei hätten, um unmittelbar etwas zu verändern oder zu beschleunigen, welcher wäre dies?
Platz: Beschleunigung ist ein gutes Stichwort. Im internationalen Vergleich stehen wir mit Blick aufs Tempo nicht gut da. Um dauerhaft an Geschwindigkeit, Innovationskraft und Wettbewerbsfähigkeit zu gewinnen, wünsche ich mir weniger bürokratische Strukturen und eine zielgerichtete Zusammenarbeit von Regierung, Wissenschaft und Wirtschaft.
Zur Person:
Carolin Platz ist automobile Gründerin, Wirtschaftswissenschaftlerin und Marketingexpertin. Sie berät Mobilitätsunternehmen zu strategischen, am Kundennutzen reflektierten Fragestellungen. Am Center of Automotive Management von Stefan Bratzel verantwortet Platz den Bereich Corporate Communications. Ihre persönlichen Forschungs- und Arbeitsschwerpunkte liegen in den Bereichen Digitalisierung und Künstliche Intelligenz. Von 2013 bis 2018 hat sie das automobile Schulungs- und Kompetenzzentrum (Zentrum für Elektromobilität) geleitet und 2019 die Auto-Motive Academy gegründet. Auto-Motive forciert den Austausch zwischen Wissenschaftlern und Top-Entscheidern und qualifiziert Mitarbeiter aller Ebenen in den Zukunftsfeldern Antriebstechnologie und Software.
Zur Person:
Jörg Reger ist seit 2022 Geschäftsführer für den globalen Bereich Geschäftslinie Automotive bei ABB Robotics. In dieser Position leitet er die gesamte Automotive-Sparte für das Robotikgeschäft. Zu ABB kam er 1994 und war im Unternehmen in verschiedenen Führungspositionen tätig, etwa als Lead Business Manager Deutschland für Robotik und diskrete Automatisierung. Vor seinem Wechsel zu ABB war er Projektmanager bei der Lurgi AG in Deutschland.