Herr Burzer, die Gemengelage für einen Produktionsvorstand ist aktuell nicht einfach: Die Versorgung mit Halbleitern und Kabelbäumen bleibt angespannt, die Liefersituation von Neuwagen ist kritisch. Wie gehen Sie mit dieser volatilen Lage um und wann rechnen Sie mit einer Entspannung?
Prognosen sind sehr schwierig in dieser Zeit. So haben wir es seit Beginn der Pandemie auf der operativen Seite mit vielfältigen Herausforderungen zu tun: vom globalen Halbleiterengpass bis hin zur aktuellen geopolitischen Lage. Daher fahren wir – wie bereits in den vergangenen zwei Jahren – weiter auf Sicht. Insgesamt ist die Lage mit Blick auf die Werke stabiler geworden im Vergleich zum dritten Quartal 2021. Dank der guten Zusammenarbeit unseres Teams mit unseren Partnern waren wir von den Auswirkungen der Ukraine-bedingten Engpässe an unseren Standorten kaum betroffen. Aufgrund der Flexibilität unserer Werke konnten wir auch angemessen auf die Lage in China reagieren, global gesehen laufen alle Werke relativ stabil. Ich bin daher sehr stolz auf mein Team, was Entscheidungsgeschwindigkeit, Flexibilität und die Digitalisierung angeht.
Hätte ein eigenes Chipdesign Vorteile in einer solchen Situation und wäre dies eine Option für Mercedes-Benz?
Insbesondere zu Beginn der Halbleiterkrise haben uns die Kapazitäten bei Wafern gefehlt. Da hätte uns ein eigenes Chipdesign schlussendlich nicht geholfen. Wir müssen uns vielmehr genau überlegen, wie wir künftig noch enger mit den Halbleiterlieferanten und Tier-1-Partner kooperieren, um die Transparenz in der Lieferkette zu erhöhen.
Die explodierenden Material- und Energiepreise wirken sich sicherlich auf Ihre Produktion aus. Wie steht es aktuell um die Kostendisziplin?
Auf der Fixkosten-, aber auch auf der variablen Kostenseite haben wir in den vergangenen zwei Jahren viel erreicht. Das hilft uns nun in Zeiten von steigenden Energie- und Rohmaterialpreisen sowie der aktuellen Volatilität in der Lieferkette. Im Unternehmen fahren wir eine sehr fokussierte Kostenstrategie in allen Bereichen, das reicht von der Produktivität bis zum Thema Fixkosten. Einen riesigen Beitrag dazu leistet natürlich auch die Digitalisierung. Effizienz und Kostendisziplin sind also unser absoluter Fokus.
Die E-Mobilität befindet sich ja gerade im Hochlauf. Trotz aller Schwierigkeiten konnten Sie den Absatz von E-Fahrzeugen im ersten Quartal 2022 im Vergleich zum Vorjahr verdreifachen. In der Produktion werden Stromer ebenfalls priorisiert. Erzieht man damit die Kunden auch ein wenig?
Wir richten bereits jetzt alles auf E-Mobilität aus. In den Produktionsplanungsprozessen konzentrieren wir uns natürlich auf die Integration von E-Fahrzeugen in den Werken. Prinzipiell gilt: Alle Mercedes-Benz-Gewerke richten ihren Fokus klar auf die Elektromobilität, um unsere Strategie „Electric only“ bis zum Jahr 2030 realisieren zu können.
Welche Batteriekapazitäten können Sie in Zukunft selber stemmen? Und welche Rolle nimmt Untertürkheim dabei im Produktionsverbund ein?
Da muss man ein bisschen zwischen Batteriezellen und den Batterieproduktionskapazitäten unterscheiden. Vor zweieinhalb Jahren standen wir vor der großen Herausforderung, neun Werke in sieben Ländern auf drei Kontinenten nach oben zu fahren. Die Herausforderungen waren enorm spannend, und auch da kann ich nur nochmal ein großes Lob an die gesamte Mannschaft aussprechen. Wie gut der Anlauf geklappt hat, sieht man ja beispielsweise in unserem Werk in Kamenz. Untertürkheim spielt in diesem Atemzug natürlich auch eine entscheidende Rolle, mit seinen zwei Batterie- werken, dem E-Campus, für den wir gerade den Grundstein gelegt haben, sowie der zukünftigen EATS-Fertigung. In den USA haben wir auch vor zwei Monaten ein Batteriewerk eröffnet und als Nächstes folgt Sindelfingen. Es ist schön zu sehen, wie reibungslos das alles abläuft. Dabei unterstützen uns auch gute Partner auf der Anlagenseite, etwa Grob. Denn es hilft nicht, wenn man nur über Rohmaterialien und Chipkapazitäten nachdenkt, auch bei den Anlagen muss man vorbereitet sein.
Welchen Beitrag wird Farasis künftig leisten und wie kommt es, dass sich Mercedes-Benz lieber am Stellantis-Joint-Venture ACC beteiligt, als ein eigenständiges Projekt aus der Taufe zu heben?
Wir sind jetzt in der Situation, in der wir auf der Zellseite Kapazitäten absichern müssen und uns natürlich sehr genau anschauen, wie Innovationszyklen in der Batteriezellentechnologie ablaufen. Die Partnerschaft mit ACC dient dazu, ein Netzwerk zu schaffen, um die Kapazitäten für den Elektro- Hochlauf gewährleisten zu können.
Zur Person:
Jörg Burzer, Mercedes-Benz Group AG
1999 Projektleitung Vorentwicklung Pkw bei der Daimler-Chrysler AG
2002 Manager, Einkauf Powertrain/Materialmanagement
2004 Senior Manager, Global Powertrain
2007 Direktor, Einkauf Interieur E- und C-Klasse
2010 Direktor, Leiter Produktionssteuerung und Logistik, Tuscaloosa (USA)
2013 Direktor, Produkt und Produktionsstrategie & Lieferantenqualität, Peking
2016 Direktor, Vice President, Leiter Qualitätsmanagement Mercedes-Benz Cars
2019 Executive Vice President, Mitglied des Vorstands der Mercedes-Benz AG verantwortlich für das Ressort Produktion & Supply Chain Management
2021 Mitglied des Vorstands der Mercedes-Benz Group AG; Produktion und Supply Chain Management
Wie genau bringt sich Mercedes-Benz in ACC ein?
Wir verfolgen weitreichende Forschungs- und Entwicklungaktivitäten im Bereich der Batterietechnologie und bringen unser Knowhow in das Joint Venture mit ein. Dadurch unterstützen wir den Ausbau des Produktionsnetzwerks von ACC auf Basis der Qualitätsstandards von Mercedes-Benz. Mit unseren Joint-Venture-Partnern Stellantis und TotalEnergies sind wir je zu einem Drittel an ACC beteiligt. Aktuell stimmen wir uns auf der operativen Seite ab und definieren, was Entwicklung und Spezifikation betrifft.
China gilt für Mercedes-Benz als einer der wichtigsten Absatzmärkte. Welchen Einfluss hat die restriktive Null- Covid-Strategie der chinesischen Regierung auf Produktion und Absatz?
Bisher sind wir aufgrund der hohen Flexibilität unseres Produktionsnetzwerks gut mit der Situation in China zurechtgekommen. Unsere zwei Werke in Peking laufen. Von den Kolleginnen und Kollegen vor Ort haben wir viel gelernt, zum Beispiel die Ausgestaltung der Hygienemaßnahmen und die Anpassung der Schichtplanungen zum Schutz der Belegschaft. Natürlich fahren wir weiterhin auf Sicht und bewerten die Lage von Tag zu Tag neu.
In der Factory 56 erproben Sie seit 2020 neue Produktionstechnologien. Gilt das Werk als Blaupause für anderen Standorte oder müssen Sie nachjustieren?
Die 56 werden wir sicherlich nicht überall neu bauen. Das Werk ist ein Leuchtturm, in dem wir alle Visionen und Innovationen für die Produktion der Zukunft von Mercedes-Benz zusammengeführt haben: Nachhaltigkeit, konsequente Digitalisierung, hohe Effizienz und Flexibilität. Diese Strategie rollen wir nun im gesamten Produktionsnetzwerk von Mercedes-Benz aus. Das sieht man etwa in Bremen oder Tuscaloosa. Dort läuft die Produktion von verschiedenen Antrieben auf einer Linie völlig geräuschlos und auch der Anlauf neuer Modelle wie des EQE oder des EQS SUV klappt einwandfrei. Die Produktion der Zukunft ist also bei Mercedes-Benz schon Realität.
Bislang setzt Mercedes-Benz beim Antriebsstrang auf Flexibilität. Wann und wie erfolgt die Umstellung auf reine E-Auto-Werke?
Das hängt davon ab, wie sich die Kundennachfrage gestaltet. Wir gehen da sehr offensiv ran. Unsere strategische Entscheidung, bis 2030 vollelektrisch zu werden – dort, wo es die Marktbedingungen zulassen –, und das Ziel, bis 2039 CO2- neutral zu werden, werden die Verbindung zwischen Luxus und Nachhaltigkeit weiter stärken. Daher schätze ich, dass es in der ersten Hälfte dieses Jahrzehnts auch reine E-Werke bei uns geben wird. Das Entscheidende ist: Mit unserer Flexibilität in der Produktion können wir das gut abbilden. Dafür müssen wir keine neuen Werke bauen, sondern können auf das existierende Produktionsnetzwerk zurückgreifen. Dabei stellen wir immer den Menschen in den Mittelpunkt und legen großen Wert auf innovative Arbeitsmodelle und Qualifizierungen unserer Mitarbeiter.
Im Herbst 2020 wurde mit Mercedes-Benz Cars Operations 360 (MO360) ein neues digitales Produktionsökosystem ins Leben gerufen. Wie fällt Ihre Bilanz für den globalen Produktionsverbund aus?
Wir haben MO360 vor zwei Jahren implementiert und bauen es seither kontinuierlich aus. Die Initialzündung dafür kam aus der Qualitätssicherung, da hier Daten und Prävention natürlich gut zusammenpassen. Darauf auf- bauend haben wir weitere Kernprozesse der Produktion digitalisiert: angefangen vom Shopfloor-Management über die Überwachung unserer Anlagen in Echtzeit bis hin zur digitalen Werkerassistenz. Das MO360-Ökosystem hat sich also rapide weiterentwickelt. Wir hatten noch nie eine solche Transparenz und Prozessunterstützung wie heute. Ein großer Vorteil dabei ist unser Integra-Standard in der Steuerungstechnik, durch den wir alle relevanten Produktionsdaten weltweit schon heute standardisiert und in Echtzeit zur Verfügung haben. Die Steuerung des Produktionsnetzwerks und die Digitalisierung der Kernprozesse hat dazu geführt, dass wir in eine ganz neue Anlaufqualität kommen. Das Beispiel EQE in Bremen hatte ich ja schon erwähnt, das ist ein Paradebeispiel, wie ein neues Modell im Vollbetrieb der Halle integriert wurde. Da hilft uns die Digitalisierung enorm. Ein wichtiger Faktor dabei ist: Die konsequente Digitalisierung setzen wir mit unseren eigenen Leuten um. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter selbst wissen ganz genau, wo der Schuh drückt und an welcher Stelle die Digitalisierung die Prozesse erleichtern kann.
Konkurrenten wie Volvo oder Tesla setzen bei der Fahrzeugproduktion auf Gigacasting. Gibt es auch bei Ihnen Gedankenspiele, dieses neuartige Fertigungsverfahren in Betracht zu ziehen?
Bei unseren Mitbewerbern gibt es durchaus interessante Ansätze, im Bereich Leichtmetall die technologischen Grenzen zu überspringen. Wir stehen im Vergleich zu einem reinen EV-Hersteller aber vor einer anderen Herausforderung: Bis die E-Mobilität zu einhundert Prozent in unseren Werken angekommen ist, müssen wir uns im Karosseriebau, aber auch in der Montage flexibel aufstellen und unterschiedliche Rohbaukarosseriekonzepte fertigen. Wenn wir über die Produktion der Zukunft nachdenken, dann geht es bei uns darum, die Flexibilität zu managen. So hat jeder seine ganz eigenen Herausforderungen. Mit dem EQXX haben wir jedoch gezeigt, wie bei uns Gussstrukturen ausschauen können und auch in Zukunft ausschauen werden. Es ist stark bionisch interpretiert und auf das Thema Gewichtseinsparungen ausgerichtet.
Hat die kürzlich erfolgte Aufspaltung in ein Pkw- und Truck-Geschäft Auswirkungen auf Ihre Arbeit?
Auf unser Tagesgeschäft hat die Aufspaltung keine Auswirkungen. Wir waren schon immer stark fokussiert auf die Pkw-Produktion. Natürlich gab es einige Anknüpfungspunkte und gelegentlichen Wissensaustausch. Aber ich arbeite auch nach der Trennung so viel und intensiv wie vor der Trennung (lacht).
Auf der ESG-Konferenz wurden Maßnahmen vorgestellt, um den CO2-Fußabdruck jedes Fahrzeugs bis 2030 zu halbieren. Kann sich ein Hersteller aufgrund der unsicheren Versorgungslage überhaupt von bestimmten fossilen Energieträgern in der Produktion trennen?
Dass dies möglich ist, haben wir zum Beispiel durch Grünstrom-Verträge für unser Produktionsnetzwerk bereits gezeigt. Seit diesem Jahr stammt der Strom, der für unsere Werke zugekauft wird, ausschließlich aus regenerativen Quellen – also 100 Prozent Grünstrom. Hier nimmt Mercedes-Benz klar eine Führungsrolle ein. Da gehört aber natürlich auch eine persönliche Überzeugung im Vorstand dazu, dass man mit unserer „Ambition 2039“ den Weg der CO2-neutralen Mobilität bis 2039 konsequent geht. Wenn man die Klimasituation global verbessern will, muss die gesamte Produktion CO2-neutral ablaufen – das geschieht bei uns seit diesem Jahr weltweit in allen unseren eigenen Werken. Der nächste Step ist zu überlegen, wie man noch unabhängiger von fossilen Energieträgern wird. Energieintensive Prozesse wie etwa die Gusstechnologie werden künftig auch unter dem Nachhaltigkeitsaspekt bewertet. Ein wichtiger Faktor – das haben wir über die Factory 56 gelernt – ist die Eigenenergieversorgung. Die realisiert man am ehesten, wenn man Photovoltaik auf jedem möglichen Fabrikdach weltweit einsetzt. Künftig geht es auch darum, an eigenen Standorten Windparks aufzubauen. Darüber hinaus gibt es für energieintensive Gewerke, wie zum Beispiel die Lackieranlage, auch Ansätze, wie man den Gasbedarf weiter herunterfahren oder ganz eliminieren kann.