Burger müsste man braten, dann wäre die Welt um einiges leichter. „Doch eine Autofabrik ist eben keine Fastfood-Kette“, sagt Jan Burgard, Partner beim Strategieberater Berylls in München, mit Blick auf den russischen Fahrzeugmarkt, der vom Ukraine-Krieg und den darauffolgenden Sanktionen gewaltig durcheinandergewirbelt wurde. Denn während es nicht viel mehr brauchte als ein paar Millionen Rubel, um die russischen McDonalds Filialen nach dem Handelsembargo unter neuem Namen mit den alten Rezepten aus dem eigenen Land heraus weiter zu betreiben, liegt die PS-Branche in Russland am Boden.
Der Markt, der vor der Krise 2019 mit 1,76 Millionen Zulassungen in Europa nach auf Platz fünf rangierte, ist kollabiert und im ersten Halbjahr 2022 um rund 80 Prozent zurückgegangen. Und wo in 13 Fabriken vor dem Krieg noch 1,46 Millionen Autos pro Jahr produziert wurden, laufen die Bänder seit Monaten nur noch im Schneckentempo – wenn die Fabriken nicht längst völlig aufgegeben wurden.
Rückkehr zur Normalität ist weit entfernt
Auch nach einem halben Jahr Krieg in der Ukraine ist ein baldiger Frieden nicht abzusehen – und mit ihm keine Normalität. Von einer Rückkehr zum alten Status quo ganz zu schweigen. Deshalb versucht vor allem der Kreml, eine neue Normalität zu schaffen und den Markt wieder anzukurbeln. Doch anders als bei Buletten und Brötchen ist das bei Autos nicht ganz so einfach. Auch mit allem Geld der Welt kann Russland die aufgelassenen Werke der westlichen Hersteller nicht mal eben wieder zum Laufen bringen, ist Berylls-Mann Burgard überzeugt: „Zumal sie ja nicht einmal die Produktion in den eigenen Fabriken aufrechterhalten können.“
„Die russischen Autowerke waren voll in den internationalen Lieferketten vernetzt und stehen deshalb jetzt ohne Schlüsselkomponenten da“, konstatiert Russland-Expertin Tatiana Hristova von S&P Global Mobility in Frankfurt: „Als Reaktion darauf hat die Regierung die technischen Standards gesenkt, so dass die Hersteller einfachere Komponenten bei lokalen Zulieferern einkaufen und die Bänder langsam wieder anlaufen lassen konnten.” Im Juni hat AvtoVAZ deshalb die Produktion des Lada Granta wieder aufgenommen – in einer Viertage-Woche und ohne ESP, ABS oder Servolenkung.
Staatliche Förderprogramme sollen den Absturz dämpfen
Parallel dazu habe die russische Regierung ein Förderprogramm mit speziellen Finanzierungs- und Leasingprogrammen für den Kauf heimischer Autos aufgelegt, meldet Carol Thomas, Osteuropa-Spezialistin bei LMC in Oxford: „Das hat den Markt befeuert.“ Während AvtoVAZ sich Komponenten wie die Klimaanlage, Parksensoren oder zuletzt sogar Airbags sichern konnte, wurde die Produktion in Togliatti Mitte August auf fünf und Ende des Monats sogar auf sechs Tage pro Woche gesteigert: So hat Lada im August 16.000 Autos gebaut und damit immerhin die Hälfte des Vorkriegsniveaus erreicht, konstatiert Thomas. Nach dem Granta laufe deshalb mittlerweile auch wieder der Niva vom Band, während sich AvtoVaz für dieses Jahr wohl von Largus und Vesta verabschieden müsse und den X-Ray womöglich gar nicht mehr bauen könne.
Mit verringerten Ansprüchen und reduzierter Auswahl kommt Lada also offenbar wieder zum Laufen und Analystin Thomas ist verhalten optimistisch: „Mit der geringen Fahrzeugverfügbarkeit am Markt, den hohen Preisen und der staatlichen Unterstützung werden sich die heimischen Marken auf kurze Sicht relativ gut schlagen. Doch sie müssen viele Kompromisse und Einschränkungen machen und die Auswahl für die Kunden wird deutlich geringer.” Doch bis die Russen wieder das Niveau vor der Krise erreichen, werde es mindestens fünf Jahre dauern, schränkt S&P-Expertin Hristova ein.
Chinesische Marken drängen nach Russland
Dass die russische Zulassungsstatistik seit dem Sommer wieder zaghaft nach oben weist, liegt aber nicht allein am neuerlichen Anlauf der Bänder in Togliatti. Grund dafür sind auch die Zugewinne vieler Importmarken aus Ländern, die sich nicht den Sanktionen angeschlossen haben – allen voran China. „Der Marktanteil der Chinesen ist im August auf 26 Prozent gestiegen“, berichtet Hristova und greift die Marke Haval heraus, die es im August nicht zuletzt wegen ihrer stabilen lokalen Produktion in Tula als erste chinesische Marke auf Platz 3 der Zulassungen geschafft hat. „Das wird sich zwar wieder ändern, wenn sich der Markt stabilisiert. Aber ganz sicher werden chinesische Autos viele Lücken füllen, die westliche und andere asiatische Marken gelassen haben. “
„Schon vor dem Konflikt haben sich die Chinesen langsam in Russland breit gemacht”, sagt LMC-Analystin Thomas und nennt als wichtigsten Beleg das Great Wall-Werk für Haval in Tula. “Aber seit Februar gebe es eine ganze Reihe von Ankündigungen und Absichtserklärungen für weitere Marken wie BYD, JAC, Voyah, Evolute, Hongqi, Jetour oder WOLV. Bislang geht es dabei meist um Importe aus China, aber es wächst der Druck, auch lokale Fertigungen aufzubauen.”
Zwar strecken viele chinesische Hersteller offenbar die Fühler aus nach Russland und versuchen, sich dort neue Absatzmärkte zu erschließen. „Doch ganz so einfach werden die Chinesen die Marktanteile der westlichen Autohersteller nicht subsituieren können“, gibt Berylls-Partner Burgard zu bedenken. Denn erstens wolle auch Peking nicht provozieren und dränge deshalb zumindest nicht offensiv, sondern allenfalls leise nach Russland. Und zweitens hätten viele chinesische Hersteller schlicht nicht die richtigen Autos für den Markt. „Als einer der Treiber der Mobilitätswende hat China früh auf elektrifizierte oder voll elektrische Antriebe gesetzt. Damit allerdings muss man den Russen kaum kommen“, sagt Burgard und sieht Moskau allenfalls als Markt für die Auslaufmodelle aus der Verbrennerwelt. Dafür könnten alte Fabriken in China abgebaut und dann in Russland wieder in Betrieb genommen werden, spielt Burgard die theoretischen Pläne durch.
Aber auch da gibt es ein Problem, ergänzt S&P-Analystin Hristova: „Mit der Öffnung für Parallel-Importe lohnt sich die lokale Fertigung oft nur schwerlich.“ Nicht umsonst plane Kasachstan gerade ein neues CKD-Werk, in dem ab 2025 rund 90.000 chinesische Autos pro Jahr montiert werden sollen – 60 Prozent davon für den Export nach Russland.
Moskau muss neue Lieferketten aufbauen
Für wahrscheinlicher als die lokale Produktion chinesischer Autos in Russland oder dramatisch ansteigende Neuwagen-Importe hält Berylls-Mann Burgard neue Lieferketten: Chinesische Zulieferer könnten mittelfristig jene Lücken füllen, die Bosch, Valeo und Co hinterlassen haben. Darauf spekulieren aber offenbar nicht nur Unternehmen aus der Volksrepublik, sondern auch aus dem Iran: Nicht umsonst ist der Industrieminister aus Teheran im August mit einer Delegation von 40 Zulieferern nach Moskau geflogen.
So oder so: Während sich in Russland offenbar für viele Hersteller aus China oder gar aus dem Iran neue Möglichkeiten eröffnen, ist der Osten für die Marken aus dem Westen erst einmal Tabu: Egal ob VW, BMW oder Mercedes – sie alle haben ihr Geschäft längst eingestellt, die Werke dichtgemacht und den Nachschub an Neuwagen gestoppt. Wenn überhaupt, dann gibt es vor Ort allenfalls noch eingeschränkten Service für Bestandskunden.
Westlichen OEMs bricht ein Markt weg
Das ist mitunter ein schmerzlicher Verlust: So galt Russland zum Beispiel für Lexus als der größte Markt, den die Europazentrale in Brüssel zu verantworten hatte. Und auch Rolls-Royce und Bentley, Maybach und AMG sowie die M GmbH bei BMW haben gute Geschäfte mit den Oligarchen gemacht. Fehlen werden den Marken zudem die Werke: „Wenn wir nach den Volumen vor der Krise schauen, dann haben Mazda 2,2 und VW 2,0 Prozent sowie Toyota und BMW rund 0,7 Prozent ihres Produktionsvolumens verloren“, rechnet Hristova vor. „Aber das sind Werte, die sich angesichts der weltweit schwierigen Logistik auf andere Werke verteilen lassen.”
Am härtesten hat es nach Einschätzung von LMC-Analystin-Thomas jedoch die Allianz von Renault, Nissan und Mitsubishi getroffen, der mit Russland 15 Prozent ihrer Einnahmen weggebrochen sind: „Schließlich war das Land für die Allianz mit mehr als 560.000 Zulassungen der zweitgrößte Markt.“ Das habe auch Konsequenzen für die Weltordnung: „Damit haben Renault & Co ihren Platz unter den Top 5 der größten Autohersteller verloren“, ergänzt Hristova.
Es gibt aber auch im Westen nicht nur Verlierer der Situation – denn zumindest für einige Kunden hat sich die Lage mit dem Auto-Embargo für Russland deutlich verbessert: Nachdem Mercedes für die G-Klasse Anfang des Jahres angesichts der vollen Bücher noch einen Beststellstopp ausrufen musste, waren mit dem Ausfuhrstopp nach Russland im Westen plötzlich wieder ein paar zusätzliche Exemplare verfügbar.