Continental hat über zwei Milliarden Euro in seine rumänischen Standorte investiert. Weshalb spielt das Land eine so große Rolle in der Zukunftsstrategie?
Wir haben von Anfang an das Potenzial der osteuropäischen Länder erkannt, wenn es um gut ausgebildete Fachkräfte geht. Deshalb hat Continental in Rumänien über die letzten 20 Jahre in zwei Richtungen investiert – in Produktionswerke sowie in Forschung und Entwicklung. Dies wirkte sich auch auf die Lehre aus. Zunächst widmete sich die Universität eher theoretischen Aspekten. Wir konnten praxisnahe Anwendungen ergänzen und mit Laboren und Studiengängen unterstützen. Da die Entwicklung so positiv war, brachten wir uns weiter ein. Als die Dinge noch besser liefen, investierten wir eben noch mehr. Mittlerweile haben wir in Rumänien nun über 19.000 Beschäftigte in R&D und Produktion.
Wurde der Standort Automotive in Timisoara durch den Fokus auf Forschung und Entwicklung autark aufgestellt?
Wir sind Teil eines globalen Setups. In Forschung und Entwicklung arbeiten wir an wesentlich mehr Projekten, als im Werk realisiert werden. Die Produktion ist fokussiert auf spezifische Produkte, während die Entwicklung international aufgestellt ist. Die Entwicklungs-Teams teilen sich auf verschiedene Regionen der Welt auf, um an einem Produkt zu arbeiten und die unterschiedlichen Bedürfnisse der Märkte zu inkorporieren. Es ist also kein autarkes System. Forschung und Entwicklung anderer Länder fließen ebenfalls in das Werk Timisoara.
In Timisoara und Sibiu werden gleich zwei große Elektronik-Werke betrieben. Gibt es Überschneidungen bei den Zuständigkeiten?
Nein, wir teilen die Standorte in dieser Hinsicht auf. Es ist ein globaler Prozess, bei dem ähnliche Produkte bestmöglich an einem Standort gebündelt werden. Einer der Grundsätze ist dabei: Wir produzieren in der Region, für die Region. Timisoara dient somit als europäische Megafactory für Produkte im Bereich User Experience. Sibiu hat derweil einen Fokus auf andere Produktlinien. Eine Display- oder UX-Fertigung gab es dort nie.
Wird ein Standort ausreichen, um den steigenden Bedarf an Displays in Europa zu decken?
Es ist absolut klar, dass ein Werk nicht ausreichen wird. Die Nachfrage und das Volumen sind schlichtweg zu groß. Wir erweitern unser globales Produktionsnetzwerk um weitere Megafactories, die sich dediziert Produkten im Bereich User Experience widmen. Zudem haben wir Standorte in der Tschechischen Republik und Entwicklung in Deutschland, die sich ebenfalls auf derartige Produkte konzentrieren.
Das Werk in Timisoara wurde stückweise erweitert. Weshalb erfolgte der Ausbau nicht auf einen Schlag?
Das Werk wurde 2006 eröffnet. Damals existierte bei Continental noch kein Konzept für eine Megafactory wie diese. Wir haben mit einem kleinen Werk angefangen. Anfangs wurde sich nicht das Ziel gesteckt, so groß wie jetzt zu werden. Es war vielmehr ein organisches Wachstum, das zu den drei Erweiterungen führte. Was wir im jüngsten Ausbau integriert haben, ist etwa die Produktion der asphärischen Spiegel für die Head-up-Displays. Am besten lässt sich die schrittweise Erweiterung aber mit dem Wandel der User Experience erklären: Unsere früheren Displays benötigten maximal 200 Quadratmeter pro Linie. Bei modernen, größeren Displays können es schon 2.000 Quadratmeter sein. Die Abkehr von den alten, kleineren Produkten hat dafür nicht genügend Platz geschaffen. Wer seine Kunden und Aufträge behalten will, muss investieren. Das Volumen lässt sich nur durch Erweiterungen aufrechterhalten.
Also ist das Ende der Fahnenstange noch nicht erreicht?
Natürlich haben wir bereits Pläne für künftige Erweiterungen, um die Integration der Displayfertigung weiter auszubauen. Das ist ein andauernder Prozess. Der Trend geht zu immer größeren Displays – über die gesamte Armatur von A-Säule zu A-Säule. Das ist, was die Kunden wollen. So etwas hatten wir zu Beginn nicht erwartet. Viele unserer Kunden haben in der Vergangenheit auf mechanische Instrumente gesetzt. Manche Marken haben früher große mechanische Uhren verbaut, nur um ihre Fertigkeiten in diesem Bereich zu demonstrieren. Ausgefallene, farbenfrohe, digitale Lösungen hatten wir damals eher für den asiatischen Markt prognostiziert. Mittlerweile hat sich dies gewandelt. Das bringt neue Herausforderungen bei der Produktion und der Qualitätssicherung mit sich. So müssen etwa Klima- und Kältekammern genügend Platz für die größeren Displays bieten. Die gesamte Infrastruktur muss angepasst werden.
Wie groß ist die Konkurrenz mit Display-Fertigern aus dem Bereich Consumer Electronics?
Aufgrund der Anforderungen können wir den Automotive-Bereich wesentlich besser bedienen als Unternehmen aus dem Bereich Consumer Electronics. Das liegt an den sehr spezifischen Anforderungen von Displays. Immerhin handelt es sich um sicherheitskritische Produkte. Selbst bei reflektierendem Sonnenlicht muss sofort alles erkennbar sein und eine Überhitzung ist ebenfalls nicht tolerabel. Zudem soll sich das oft gebogene Display möglichst perfekt in das Cockpit einfügen. Mit Blick auf das eigene Smartphone sind das gravierende Unterschiede. Trotzdem lässt sich die Konkurrenzsituation nicht unter den Teppich kehren: Wir bewegen uns in einem umkämpften Markt mit starken Wettbewerbern. Es gibt zahlreiche neue Firmen, die Displays herstellen. Bisher können sie allerdings nicht mit der Erfahrung eines Automobilzulieferers entwickeln und produzieren. Wir kennen unsere Kunden und arbeiten eng mit ihnen zusammen. Wir kennen die Design-Ideen, wissen diese zu bedienen und setzen eigene Trends. Das kann ein Newcomer nicht leisten. Deshalb sind wir immer einen Schritt voraus.
Was steckt hinter dem Begriff der Megafactory?
Der Begriff bezieht sich nicht nur auf die Größe des Werkes. Er ist verknüpft mit den Produkten und den Technologien einer Smart Factory. Aufgrund der größer werdenden Displays haben wir einen völlig neuen Produktionsansatz. Individuelle Kundenwünsche stehen mehr im Fokus denn je. Um dem gerecht zu werden, bedarf es gewisser Standardisierungen, Automatisierungen und Digitalisierung. Die digitale Infrastruktur und das Know-how unserer fähigen Mitarbeiter müssen an einem Ort gebündelt werden.
Wie schaffen Sie dabei Datendurchgängigkeit?
Zunächst einmal ist unser gesamtes ERP-System digital. SAP ist somit das Rückgrat unseres Werkes. Für uns ist es extrem wichtig, dass wir mit Hilfe der digitalen Infrastruktur jeden Schritt im Fertigungsprozess analysieren können. Alles, was sich im Produktionsumfeld bewegt, generiert Daten und hilft dadurch bei der Analyse sowie Verbesserungen. In einem Data Lake bringen wir diese Daten zusammen und lassen sie in ersten Ansätzen auch schon von künstlicher Intelligenz analysieren. So können wir etwa feststellen, wie sich Anlagen über eine längere Zeit verhalten, wann Predictive Maintenance notwendig ist oder wo Probleme auftreten könnten. Unser Management System ist indes ein sehr traditionelles, das aber hervorragend in die digitalen Abläufe integriert ist. Es basiert auf Routinen, die einen gewissen Standard etablieren. Damit vollziehen wir nach, was in den letzten 24 Stunden passiert ist, wie groß das Volumen einer Linie war oder welche Verbesserungen möglich sind. Dies alles hilft uns beim Betreiben der Linien mit Hilfe des MES-Systems. Was ebenfalls nicht unerwähnt bleiben soll, ist das Beispiel des Digital Twins. Mit ihm kommt nun Virtual Reality ins Spiel. Insbesondere in den Jahren der Corona-Pandemie war es ein großer Vorteil, dass wir aus der Ferne überprüfen konnten, wie die Prozesse laufen. Zudem benötigen wir durch ihn keine Hardware mehr, wenn Produktionsprozesse geplant werden. In der Vergangenheit haben wir mit Kartons simuliert, heutzutage läuft das alles virtuell ab. Wir sind mit der Planung einer Linie fertig und können diese bereits virtuell betreiben, bevor sie überhaupt in physischer Weise existiert.
Die Krisen der vergangenen Jahre haben die Auto- und Elektronikbranche stark getroffen. Hat sich die Lage mittlerweile entspannt?
Grundsätzlich schon. Aufgrund des Ukraine-Kriegs und Covid hatten wir auch im vergangenen Jahr noch Probleme mit unseren Zulieferern und Lieferketten. Die Preise für Rohstoffe, Vormaterialien und Energie sind gestiegen. Die Dinge wurden zunehmend schwierig. Mittlerweile entspannt sich die Lage und die Preise gehen wieder runter. Wir werden zudem resilienter gegenüber solchen Einflüssen und sind künftig besser vorbereitet.
Wie konnten die Krisen- und Aufbruchstimmung in Timisoara unter einen Hut gebracht werden?
Der Ausbau des Werks erfolgte hauptsächlich aufgrund der höheren Nachfrage bei Displays. Wir werden unsere Anlagen zweifelsohne auslasten. Die Krisen standen deshalb nicht im Widerspruch zu unserem Vorhaben. Das wäre sicherlich anders gewesen, wenn die Entscheidung einst gefallen und die Erweiterung plötzlich nicht mehr benötigt worden wäre. In Timisoara war hingegen klar, dass wir genau diesen Schritt gehen müssen, um unsere Aufträge zu erfüllen. Es war vielmehr ein Thema, wie wir den Zeitplan einhalten. Darum drehten sich unsere wöchentlichen Krisensitzungen.
Deutschland beklagt seit Jahren ein Fachkräftemangel bei Ingenieuren und IT-Spezialisten. Wie ist die Situation in Rumänien?
Auch in Rumänien spüren wir mittlerweile gewisse Engpässe, aber Continental war darauf sehr gut vorbereitet. Als wir hier vor 20 Jahren angefangen haben, sind wir mit dem Markt gewachsen und haben eine enge Partnerschaft mit den Universitäten etabliert. Dadurch können wir antizipieren, was wir in den nächsten Jahren an Fachkräften benötigen. Wir haben zum Beispiel Master-Studiengänge in künstlicher Intelligenz oder Cloud-Technologien initiiert – all jene Technologien, die immer mehr den Weg ins Fahrzeug finden. Ein duales Ausbildungssystem, Stipendien oder Trainingsprogramme wurden ebenfalls aufgebaut. Auch abseits der Universitäten gewinnen wir dadurch Mitarbeiter, die zum Wachstum in Timisoara beitragen und sich etwa zum Software Engineer weiterbilden.
Zieht es junge Menschen nicht in die Hauptstadt?
Natürlich gibt es auch große Universitäten in Bukarest, aber Timisoara und Iasi zählen in Rumänien zu den besten im Bereich Technologie. Das zieht junge Leute wie ein Magnet an. Und die meisten bleiben nach ihrem Studium in der Stadt. Timisoara ist das Silicon Valley von Rumänien. Wer im Bereich Elektronik und Software arbeiten möchte, ist hier genau richtig. Die Zusammenarbeit mit den Universitäten hat uns in diesem Sinne geholfen, zum Arbeitgeber der Wahl zu werden. Wir sind sehr zuverlässig, ein bedeutender Teil der lokalen und nationalen Gesellschaft und haben in all den Jahren noch nie Leute entlassen. Die Mitarbeiter haben Vertrauen in uns und bleiben dem Unternehmen treu. Sie sind die besten Botschafter für uns.
Ist der Standort aufgrund seiner Grenznähe auch für Fachkräfte aus Serbien und Bulgarien attraktiv?
Wir vertrauen größtenteils auf Experten aus Rumänien. Beschäftigte aus Serbien oder Bulgarien sind eher nicht üblich. Das mag daran liegen, dass osteuropäische Länder nicht die gleiche Kultur der Mobilität pflegen. Die Leute bleiben gerne an einem Ort. Wenn sie ihre Heimat verlassen wollen, zieht es sie eher in westliche Länder. Die sprachliche Komponente ist in Rumänien schließlich nicht einfacher für sie und vergleichsweise lässt sich im Westen mehr Geld verdienen. Pendler sind ebenfalls die Ausnahme, da alle drei Länder nicht zum Schengen-Raum gehören. Tägliche Fahrten sind schwierig, weil sich kaum vorhersehen lässt, wann man auf der Arbeit ankommt. Es hakt am Überqueren der Grenze. Andernfalls wäre Pendeln kein Problem.
Sie kennen Deutschland allzu gut: Was sollte die Bundesrepublik von Rumänien lernen?
Deutschland fehlt seit Jahren der positive Blick in die Zukunft. Wir sind manchmal zu dogmatisch und versuchen krampfhaft, Dinge zu bewahren. Die Rumänen sind weitaus pragmatischer und optimistischer. Sie suchen regelrecht nach neuen Möglichkeiten. Wenn in Deutschland eine neue Technologie aufkommt, werden zunächst die negativen Effekte in den Vordergrund gestellt, anstatt sich auf das Positive zu konzentrieren. Wir müssen sicherlich einiges bewältigen, aber wir sollten keine Angst davor haben, offen an Lösungen zu arbeiten. Wir müssen schauen, wie Technologie uns dabei helfen kann und sie nicht verteufeln. Technologieoffenheit ist das Schlagwort: Deutschland tendiert dazu, drastische Verbote auszusprechen. Wir alle kennen die Herausforderungen der Zukunft – etwa in Bezug auf die CO2-Emissionen. Um diese Ziele zu erreichen, helfen Verbote nicht weiter. Wir brauchen mehr Zuversicht.
Zur Person:
Christian von Albrichsfeld wurde 1966 im rumänischen Brașov geboren. 1992 schloss er sein Studium der Elektrotechnik und Automatisierungstechnik an der Technischen Hochschule Darmstadt ab und promoviert dort 1997 auf dem Gebiet Robotik und Künstliche Intelligenz. Anschließend startete er seine Karriere bei Continental, wo er in Forschung und Entwicklung zunächst verschiedene leitende Funktionen im Projektmanagement bekleidete. Seit 2009 ist von Albrichsfeld der Landesleiter von Continental Automotive Romania sowie der Forschungs- und Entwicklungsleiter zugleich.