Herr Zink, die Lage in der Automobilbranche ist nach wie vor angespannt. Was bekommen Sie davon bei Schaeffler zu spüren?
Die Lage ist angespannt, das stimmt. Wir hatten jedoch ein gutes viertes Quartal, die Auftragsbücher sind voll. Daher ist es bei uns eher eine positive Anspannung. Ich kann aber noch nicht abschätzen, in welche Richtung diese Anspannung am Ende ausschlägt.
Heißt übersetzt: Planungssicherheit gibt es nicht für das Jahr 2021?
Das Jahr haben wir in einer schwierigen Zeit geplant und sind daher sehr konservativ vorgegangen. Wir sind grundsätzlich optimistisch, aber es gibt eine Reihe von Risikofaktoren, die wir berücksichtigen müssen.
Ihr CEO Klaus Rosenfeld hat im Rahmen der „Roadmap 2025“ stärkere Synergieeffekte zwischen den drei Sparten Automotive Technologies, Automotive Aftermarket und Industrie gefordert. Wo setzen Sie mit Ihren beiden Kollegen konkret an?
Wir nutzen schon heute viele Synergien. Vor allem zwischen den beiden Automotive-Sparten gab und gibt es diese schon immer. Wir wollen uns aber noch stärker mit der Industriesparte verzahnen. Als Beispiel lässt sich unsere Wachstumsinitiative Wasserstoff für Automobil- und Industrieanwendungen nennen. Ausgehend von unserer Fertigungs- und Industrialisierungskompetenz betrachten wir dieses Zukunftsthema als große Wachstumschance. Die Komponenten und Systeme von Schaeffler können dabei sowohl in der Nutzung von Wasserstoff durch Brennstoffzellen als auch in der Produktion von Wasserstoff mittels Elektrolyse eingesetzt werden. Ein anderes Beispiel ist der Bereich Digitalisierung: Die Vernetzung in Fabriken und Anlagen liefert gute Ansätze für eine enge Zusammenarbeit mit der Sparte Industrie. Und zuletzt: Schaeffler ist ein Technologiekonzern, der mit einer gemeinsamen Produktionstechnologie insgesamt zehn Sektoren bedient. Da gibt es mehr als genug Überschneidungspunkte, vom Einkauf bis zur Grundlagenforschung, wie wir sie zum Beispiel in unserem geplanten Zentrallabor in Herzogenaurach betreiben.
Ein anderer Punkt ist die Effizienz. Welche Rolle spielt für Sie die angesprochene Digitalisierung und Vernetzung Ihrer Anlagen und Werke in diesem Zusammenhang?
Auch wenn wir nicht mit Daten handeln, sondern nach wie vor primär mit Hardware, spielt das Thema eine große Rolle. Das beginnt zunächst bei der Supply Chain. Dort sehen wir den größten Vorteil der Vernetzung, weil sie uns hilft, insgesamt effizienter zu werden. Gerade in Coronazeiten ist Digitalisierung elementarer Bestandteil, um global schnell Informationen zu erhalten und reagieren zu können. Die Pandemie hat uns nochmal einen Schub gegeben und ganz andere Notwendigkeiten aufgezeigt. Wir forcieren die Vernetzung unserer Anlagen und steuern viele feinmechanischen Teile klassiert in das Endprodukt zu. Das wird durch die Vernetzung erheblich vereinfacht.
Das große Thema, das die Branche bewegt, ist die Elektromobilität. Vor drei Jahren hat auch Schaeffler einen Unternehmensbereich für die E-Mobilität gegründet. Welchen Anteil hat die Einheit heute schon am Umsatz und wo wollen Sie mittelfristig hin?
Der Bereich wächst deutlich und trägt heute mit über 600 Millionen Euro zum Gesamtumsatz der Sparte Automotive Technologies bei. Eine positive Entwicklung sehen wir beim Auftragseingang: Wir wollten im vergangenen Jahr Aufträge von 1,5 bis zwei Milliarden Euro verbuchen. Das haben wir übertroffen und uns für 2021 noch einmal das gleiche Ziel gesetzt. Ab 2022 sollen die jährlichen Auftragseingänge auf zwei bis drei Milliarden Euro wachsen. Damit steuern wir den Bereich in Richtung zwei Milliarden Euro Umsatz.
Schaeffler fertigt die Vorder- und Hinterachsgetriebe des Audi E-Tron, baut das Vorderachsgetriebe des Porsche Cayenne und liefert Hybridmodule für diverse Ford-Modelle. Welche Konsequenzen hatten diese Aufträge für die Produktion?
Das war anfangs eine große Umstellung für Schaeffler, wir wurden plötzlich ein Systemanbieter. Wenn man ein gesamtes System an seine Kunden liefert, ist das eine andere Rolle, als Komponenten und Module wie Kupplungen, Zweimassenschwungräder, Synchronisationen und Lager zu liefern. Das Verantwortungsniveau ist um ein Vielfaches höher. Das merken wir sowohl in der Entwicklung als auch in der Produktion.
Das klingt aber nach einer ganz gesunden Transformation. Die Mitarbeiter dürften sich mit der Entwicklung wohlfühlen…
Das Gute an unserer Transformation ist, dass wir das eine tun, aber das andere nicht lassen. Wir tauchen in die Systemebene ein, liefern unseren Kunden aber nach wie vor Komponenten. Aus dieser Kombination ziehen wir unsere Stärke. Nehmen Sie das Beispiel Hybridmodul: Wir ergänzen Technik, die wir schon haben – in dem Fall ein Drehmomentwandler – mit neuen Elementen, nämlich einem Elektromotor mit Zusatzfeatures und Leistungselektronik. Es ist eine Ausweitung der vorhandenen Technik. Unsere Mitarbeiter schätzen das.
Zur Transformation von Schaeffler gehörten in den vergangenen Jahren auch strategische Akquisitionen im Bereich der Elektromobilität. Fehlt Ihnen aktuell noch ein Puzzleteil?
Das müssen wir schauen. Der Schritt hin zum Systempartner in der E-Mobilität ist uns bisher gut gelungen. Durch die Zukäufe von Compact Dynamics und Elmotec Statomat haben wir uns im Bereich E-Motoren gezielt verstärkt. Wir gehen damit dieses Jahr in Serie. Partnerschaften sind für Schaeffler weiterhin wichtig, um auf dem herausfordernden Markt auch in Zukunft wettbewerbsfähig zu sein.
Momentan hat man den Eindruck, dass der Hype der E-Mobilität andere Antriebsformen etwas an den Rand drängt. Wie stellt sich Schaeffler für den Antriebsmix auf?
Was den Antriebsmix betrifft, haben wir bereits vor einiger Zeit ein 30-40-30-Szenario aufgesetzt: Im Jahr 2030 gehen wir von 30 Prozent vollelektrifizierten, 40 Prozent hybriden und 30 Prozent verbrennungsmotorischen Antrieben aus. Das haben wir vor etwa drei Jahren durchaus aggressiv formuliert, um uns auch selbst zu dieser Transformation zu zwingen. Heute sehe ich die Elektromobilität vor dem Durchbruch, getrieben durch einen starken Anteil an Hybriden. Schaut man sich zum Beispiel unseren Kunden Toyota an, dann stellt man auf dem europäischen Markt hohe Verkaufszahlen für Hybridvarianten fest. Einige Modelle werden ausschließlich in den entsprechenden Versionen angeboten. Perspektivisch wird der Anteil an Hybriden aber sinken.
Wenn Ihnen heute jemand eine Wette auf die Renaissance des Verbrennungsmotors anbieten würde, würden Sie einschlagen?
Nein, da würde ich nicht einschlagen. Alle Zeichen stehen auf E-Mobilität. Wahrscheinlich werden wir noch eine letzte Generation des Verbrennungsmotors erleben. Aber wir sehen deutliche Signale, dass die Technologie danach sukzessive aus dem Markt verschwinden wird. Trotzdem gibt es in der E-Mobilität noch Herausforderungen, die bewältigt werden müssen, zum Beispiel bezüglich Speicherkapazitäten und Ladeinfrastruktur. Ich denke nicht, dass das ganz disruptiv vonstattengehen wird.
Dann verstehen wir Sie richtig: Die Elektromobilität wird kommen, aber nicht für sämtliche Anwendungsfälle?
Auch wenn ich von der Elektromobilität überzeugt bin, wünsche ich mir eine Diskussion, die nach wie vor alle Technologien miteinbezieht. Momentan fahren 1,4 Milliarden Autos über den Planeten. Den CO2-Ausstoß nur über batterieelektrische Neufahrzeuge zu senken, dauert sehr lang und ist in meinen Augen nicht sinnvoll. Man sollte über die Zeit in die Elektromobilität gehen, davon bin ich ein großer Verfechter. Aber wir brauchen vernünftige Schritte und eine ehrliche Diskussion. Für einige Mobilitätsfelder kann auch Wasserstoff eine wichtige Rolle spielen.
Sie haben Toyota bereits als positives Beispiel genannt: Haben andere Autobauer aus Ihrer Sicht das Thema Hybridantrieb verschlafen?
Ich kann mich noch erinnern, als wir den ersten Toyota Prius analysiert und über die Technologie gestaunt haben. Sowohl Autohersteller als auch Zulieferer waren damals sehr auf die ausgereifte Konkurrenztechnik wie effiziente Dieselmotoren und leistungsfähige Automatikgetriebe fokussiert. Schaeffler hat immer mal wieder Hybrid-Konzeptfahrzeuge vorgestellt, doch der Markt für diese Technologie war schlicht nicht da. Ich würde es nicht verschlafen nennen. Ich würde sagen, man hat den Hybridantrieb ignoriert, weil man eine ebenso gute konkurrierende Technik hatte. In den letzten Jahren ist in diesem Bereich vieles im Galopp aufgeholt worden. Großserienreife Lösungen sind jetzt da.
Die Zeit drängt aber auch. Sie haben selbst von der letzten Verbrennergeneration gesprochen…
Es gibt noch Märkte wie Brasilien, Indien oder Südostasien, in denen Verbrennungsmotoren voraussichtlich eine ganze Weile länger angeboten werden. Aber grundsätzlich sehe ich die letzte Generation, das stimmt. Ich habe unser 30-40-30-Szenario schon angesprochen. Das haben wir kürzlich auf das Jahr 2035 ausgeweitet. Wir gehen dann bereits von 50 Prozent rein elektrischen Fahrzeugen, 35 Prozent Hybriden und 15 Prozent Verbrennern aus.
Blicken wir auf das autonome Fahren. Im Bereich Fahrwerk bereiten Sie sich explizit auf das autonome Zeitalter vor. Wie gehen Sie das an?
Grundsätzlich ist das Fahrwerk genau der Bereich im Auto, der beim autonomen Fahren im Zentrum steht: Es geht um die Lenkung und die Querführung. Der Antrieb ist zunächst untergeordnet. Die Steer-by-Wire-Technologie Space Drive kann ein zentrales Element hin zum autonomen Fahren sein. Wenn in einem selbstfahrenden Fahrzeug das Lenkrad wegklappt und der Passagier etwa am Bildschirm arbeiten kann, dann müssen wir die Lenkung mechanisch von der Lenkaktuierung entkoppeln. An der Stelle kommt Schaeffler ins Spiel. Wir sind schon lange Hersteller von mechanischen und mechatronischen Fahrwerkskomponenten. Da wir vorhin über Puzzleteile gesprochen haben: Vor etwa drei Jahren haben wir mit der Firma Paravan das Joint Venture Schaeffler Paravan gegründet. Das Unternehmen hat bereits große Erfahrung mit der mechanischen Entkopplung in Fahrzeugumbauten für Menschen mit Behinderung. Auf dieser Basis glauben wir, die hocherprobte und hochredundante Steer-by-Wire-Technologie serientauglich machen zu können.
Stößt das bei Autobauern auf Interesse? Möchten die Hersteller das nicht eher selbst entwickeln?
Beides. Es ist eine sehr spannende Frage: Geht man das Thema bottom-up oder top-down an? Von oben sprechen wir vermutlich zunächst über eine Cloud, dann über Lidar und Radar bis hin zu Software und am Ende über ethische und rechtliche Fragestellungen. Da sind sehr viele Aufgaben, die ein Autohersteller lösen muss. Die Liste ist sehr lang auf dem Weg zum autonomen Fahren. Hier braucht es bottom-up einen Partner, der den Mut und auch das Knowhow hat, die Lenkung zu entkoppeln. Ein fertiges Paket, abgesichert durch Elektronik und Software – das findet Abnehmer, da sind wir uns sicher. Nicht jeder Fahrzeughersteller wird das selbst entwickeln wollen.
Schauen wir zum Abschluss noch einmal auf die Märkte: China ist für die Autobauer bekanntlich der wichtigste Markt. Auch für Schaeffler?
Im Jahr 2020 haben wir 26 Prozent unseres Spartenumsatzes in China erwirtschaftet, das entspricht rund zwei Milliarden Euro. Über 1.000 Entwickler sitzen vor Ort, wir sind mit sechs Fabriken präsent. Dort arbeiten wir sowohl mit den europäischen oder amerikanischen Fahrzeugherstellern zusammen, die dort stark sind. Wir sind aber genauso mit lokalen Anbietern wie Great Wall oder Geely in Serienprojekten. Gerade bei diesen Herstellern konnten wir vor einigen Jahren einen regelrechten Boom in Sachen Modernisierung beobachten. Die Geschwindigkeit, mit der dort Technologien entwickelt werden, ist beeindruckend.
Gibt es auch den umgekehrten Fall: chinesische Lieferanten, die mit Konkurrenzangeboten zu Ihnen den Sprung nach Europa wagen?
Da gibt es auch einzelne Fälle, ja. Ich denke, wir als Automobil- und Industriezulieferer haben den großen Vorteil, dass wir sehr breit aufgestellt und unsere Produkte durch ein ausgeprägtes Systemverständnis und Engineering-Knowhow flankiert sind. Das können viele lokale Unternehmen so nicht unbedingt anbieten.
Nicht nur Autobauer, auch viele Zulieferer versuchen heute, ihre Produkte mit digitalen Mehrwertdiensten zu veredeln. Wird sich auch Schaeffler perspektivisch zu einem softwaregetriebenen Unternehmen entwickeln?
Ich glaube schon, dass wir bei Schaeffler in Zukunft deutlich mehr Software sehen werden. Zum Beispiel wenn es um autonome People Mover oder Mobilitätsökosysteme geht. Die Digitalisierung bereitet den Weg zu neuen leistungsfähigeren Lösungen in vielen Bereichen. In der Produktentwicklung etwa sind das zum einen neue Möglichkeiten im Entwicklungsprozess und zum anderen ganz neue Produktideen. Dass wir als Sparte Automotive Technologies in den Datenhandel einsteigen, sehe ich in absehbarer Zeit jedoch nicht.
Zur Person
Matthias Zink erwarb 1994 seinen Studienabschluss im Bereich Maschinenbau mit Schwerpunkt Kraftfahrzeugtechnik an der Universität Karlsruhe und begann seine berufliche Karriere im gleichen Jahr als Versuchsingenieur beim Zulieferer LuK. Hier stieg Zink bis 2006 zum Leiter des Geschäftsbereichs Kupplungssysteme auf, bevor er 2012 die Leitung der Region Asien/Pazifik bei Schaeffler Automotive verantwortete. Zwei Jahre später übernahm Matthias Zink die Leitung des Bereichs Getriebetechnologien, bevor er 2017 auf den Posten des CEO Automotive für den Unternehmensbereich Getriebesysteme und den Bereich Forschung und Entwicklung der Sparte Automotive Technologies wechselte. 2018 übernahm Zink zudem die Verantwortung für den neu etablierten Unternehmensbereich E-Mobilität. 2019 kam die Verantwortung für die Unternehmensbereiche Motor- und Fahrwerksysteme und das Global Key Account Management hinzu.