Herr Mogge, das erste Halbjahr 2023 ist in den Büchern. Wie bewerten Sie das bisherige Automobiljahr?
Alles in allem war das erste Halbjahr besser als zuletzt, aber noch immer weit entfernt von gut. In vielen Märkten sind die Fahrzeugabsätze gestiegen. In Europa etwa lagen sie im ersten Quartal rund 20 Prozent über dem Vorjahreszeitraum. Aber der Schein darf nicht trügen: Das Jahr 2023 bleibt durch viele außergewöhnliche Effekte belastet. Schauen wir auf 2019, auf die Zeit vor der Krise, dann muss man feststellen, dass die Branche von der damaligen Marktgröße noch weit entfernt ist. Woran das liegt, ist klar: an Versorgungsengpässen, an der Inflation, aber auch an einem zuletzt schwachen chinesischen Markt. Das ist der Markt, der OEMs und Zulieferer derzeit vor die größten Herausforderungen stellt. Die Volumen sind aktuell rückläufig. Für die folgende Erholung dürfte sich die Wachstumskurve deutlich abflachen. China nähert sich damit weiter der Dynamik an, die wir auf den westlichen Automärkten sehen.
Insgesamt sind die Automobilhersteller mit Fokus auf margenstarke Modelle allerdings hervorragend durch schwierige Zeiten gekommen. Eine Strategie, die gekommen ist, um zu bleiben?
Die vergangenen zwei Jahre bedeuteten für die OEMs eine Sonderkonjunktur, keine Frage. Es gab aus der Lockdown-Phase noch einen deutlichen Nachfrageüberhang, dem ein klar limitiertes Angebot gegenüberstand – die Gründe dafür sind bekannt. Diese Effekte haben sich allerdings ein Stück weit normalisiert. Das Angebot kommt langsam wieder, die Nachfrage sinkt dagegen vor allem durch die inflatorischen Entwicklungen der vergangenen Monate. Damit bewegt sich der Markt wieder in gewohnte Gefilde, und der Preiswettbewerb wird bei stagnierenden Volumen weiter zunehmen. Dazu kommt: Die von Ihnen angesprochenen Margen lassen sich derzeit nur für Fahrzeuge mit Verbrennungsmotoren realisieren. E-Modelle sind noch weit davon entfernt, derart rentabel zu sein. Vor diesem Hintergrund muss man also sehr zurückhaltend an die Renditeerwartungen der OEMs herangehen. Jedenfalls erwarte ich nicht, dass die aktuelle Situation dauerhaft anhalten wird.
Trotzdem haben einige Autobauer bereits Produkte aus ihrem Portfolio gestrichen. Vor allem die Premium-OEMs scheinen sich auf Luxus zu konzentrieren und das margenschwache Volumensegment zu verlassen …
Das ist in der Tat so. Aber da sprechen wir auch über einige spezifische Unternehmen. Alle OEMs stehen aktuell vor der Herausforderung, dass ihr Produktportfolio zu komplex geworden ist. Denn zu einer ohnehin schon großen Verbrennerpalette gesellen sich in den kommenden Jahren mehr und mehr parallel die Elektromodelle. Vor diesem Hintergrund ist es eine pure Notwendigkeit, das Portfolio zu bereinigen. Dass die Wahl dann eher auf das margenschwache Segment fällt, ist nachvollziehbar, allerdings steht diese Strategie auch nur wenigen OEMs zur Verfügung.
Schauen wir auf die Zulieferer, die vermeintlichen Verlierer der vergangenen Jahre. Sie haben im letzten Interview mit uns gesagt, wir stünden nicht vor einer Krise der Autoindustrie, sondern vor einer Krise der Zulieferer. Hat sich an Ihrer Einschätzung etwas geändert?
Nein. Die Zulieferer bewegen sich weiter in schwierigem Fahrwasser. Die EBIT-Margen lagen 2022 schon bei unter fünf Prozent und dürften in diesem Jahr noch einmal um bis zu einem Prozentpunkt sinken. Die Produktionsmengen liegen fast überall weiterhin unter Vorkrisenniveau. Das führt zu signifikanten Überkapazitäten, reduziert die Werkauslastung und drückt auf die operative Effizienz. Gleichzeitig gestalten sich die Diskussionen über Kostenübernahmen durch die OEMs schwieriger als noch im vergangenen Jahr. Viele Kompensationen, die die Zulieferer von den Herstellern erhalten haben, waren Einmalzahlungen. Das bedeutet, für die Lieferanten beginnen die Verhandlungen in diesem Jahr wieder von Neuem. Gleichzeitig haben sie mit ihren Vorlieferanten aber häufig längerfristige Preisanstiege vereinbart. Insofern hält die Krise für die Zulieferer an – aber sie werden womöglich schon bald von den OEMs Gesellschaft bekommen.
Deutliche Worte. Muss man sich um den einen oder anderen Zulieferer Sorgen machen?
Nicht um alle, aber sicher um einige. Ich sehe vor allem kleinere Zulieferer gefährdet. Die vergangenen zwei Jahren haben gezeigt, dass eine gewisse Größe und am Ende auch finanzielle Stabilität wesentliche Voraussetzungen sind, um einigermaßen gut durch die Krise zu kommen. Und zu den bereits genannten Herausforderungen im Markt kommen nun noch Themen wie Nachhaltigkeit und Transparenz in der Lieferkette hinzu. In Summe bedeutet das maximale Anforderungen für die Zulieferer – und teilweise Überforderung. Wobei natürlich auch die großen Zulieferer ihre Herausforderungen haben, auch wenn diese teilweise anders gelagert sind.
Dennoch hilft kritische Größe. Ein Beispiel: Hella und Faurecia bilden nun den Top-10-Zulieferer Forvia. Werden wir Ihrer Ansicht solche Zusammenschlüsse und Übernahmen häufiger sehen in naher Zukunft?
Das wird in Einzelfällen sicherlich passieren, aber ich sehe eher keine massive Bewegung in diese Richtung. Zwei Drittel aller Übernahmen schaffen letztlich keine signifikante Wertsteigerung. Und als Zulieferer muss ich mir gut überlegen, was ich mir eigentlich von einer Übernahme erwarte. Geht es um den Erwerb technologischer Kompetenzen, dann sind Partnerschaften oder Kooperationen möglicherweise einfacher und vielversprechender als ein aufwendiger Integrationsprozess. Und in den Commodity-Segmenten, in denen Zusammenschlüsse grundsätzlich sinnvoll wären, um den Markt und die Wettbewerbssituation wieder auf ein vernünftiges Niveau zu bringen, geht die Rechnung wirtschaftlich meist nicht auf. Ich denke, wir werden eine Konsolidierung in der Zuliefererindustrie sehen. Aber eher, weil sich die OEMs bei der Vergabe ihrer Aufträge in Zukunft auf einige wenige Zulieferer konzentrieren und andere damit aus dem Markt verdrängt werden.
Blicken wir auf Chancen im Markt: Welche Nischen könnten Automobilzulieferer denn besetzen, um zukunftssicher aufgestellt zu sein?
Das Problem ist ja, dass es im Grunde keine wirklich neuen Nischen mehr gibt. Die Wachstumsfelder – von denen gibt es in der Autoindustrie noch eine Menge – sind in der Regel sehr umsatzstark, damit aber auch meistens sehr investitionsintensiv. Ich denke da etwa an zentrale Technologien wie die Batterie, den elektrischen Antrieb, aber auch die Fahrerassistenz und Elektronik. In all diesen Feldern bestehen noch große Potenziale. Aber nur Zulieferer, die groß, finanzstark und technologisch kompetent sind, haben überhaupt eine Chance, sich von diesem Markt einen relevanten Anteil zu erarbeiten. Der Wettbewerb ist dort äußerst intensiv, das Preisniveau bereits in einem frühen Innovationsstadium stark unter Druck. Außerdem ist die Entwicklung neuer Technologien am Ende fast immer komplizierter, langwieriger und damit teurer als ursprünglich geplant. In diesem Umfeld einen wirtschaftlich stabilen Business Case darzustellen, ist sehr schwer.
Und nicht wenige Autohersteller bauen bei Komponenten für die E-Mobilität eigene Kapazitäten auf.
Natürlich positioniert sich der eine oder andere OEM in dem Bereich stärker. Sei es, um die Technologien zu beherrschen und auch kommerziell zu verstehen, oder auch, um selektiv Beschäftigungssicherung zu betreiben. Wir erwarten aber nicht, dass sich der Insourcing-Anteil in den kommenden Jahren in Summe signifikant erhöht. Eher dass der Anteil langfristig wieder sinkt. Die Elektromobilität ist und bleibt ein Markt für Zulieferer. Diese können in der Regel deutlich besser Kostenvorteile erwirtschaften und auf Standardisierung hinwirken, als es ein einzelner OEM könnte. Klar ist aber auch, dass viele Zulieferer mechanischer Bauteile in der elektrifizierten Welt immer größere Schwierigkeiten haben. Im Gegensatz zum Verbrennungsmotor werden viele von denen ihr Geschäft nicht mehr direkt mit dem OEM machen, sondern eher als Tier-2-Lieferant für die großen Systemzulieferer. Letztere könnten durchaus als Gewinner aus der Transformation zur Elektromobilität hervorgehen.
Können die Autohersteller angesichts des enormen Transformationsdrucks auf ein Verhältnis zur Zulieferindustrie auf Augenhöhe verzichten?
Aus meiner Sicht ist eine partnerschaftliche Zusammenarbeit zwischen OEMs und Zulieferern in Zukunft nötiger denn je. Die angesprochenen aktuellen Herausforderungen führen zu einer Volatilität und Unsicherheit, die einzelne Unternehmen nicht mehr wirtschaftlich beherrschen können. Der OEM braucht den Zulieferer zwingend als Quelle für Produktinnovationen und auch, um die Kosten im Griff zu behalten. Leider hat die Bewältigung der Inflationsproblematik im vergangenen Jahr einmal mehr offengelegt, dass Hersteller und Zulieferer von einem partnerschaftlichen Verhältnis oft noch recht weit entfernt sind.
Liegt für die hiesigen Zulieferer dann vielleicht eine Chance bei den chinesischen Elektroherstellern, die nach und nach auf den Weltmarkt drängen?
Der Erfolg der chinesischen Hersteller im vergangenen Jahr ist schon bemerkenswert. Viele haben im chinesischen Markt sehr konsequent auf das niedrige Preissegment gesetzt, für welches den westlichen OEMs fast vollständig das Produktangebot fehlt. Zu diesem Erfolg haben westliche Zulieferer ganz erheblich beigetragen. Denn das niedrige Preisniveau konnten die chinesischen Hersteller auch deshalb erreichen, weil sie sich bei den Komponenten aus dem Regal der großen Zulieferer bedient haben, anstatt selbst alles neu zu entwickeln. Damit einher geht auch eine deutlich höhere Entwicklungsgeschwindigkeit. Also ja: Die chinesischen Hersteller tragen bereits heute erheblich zum Geschäft der Zulieferer mit der E-Mobilität bei und das wird sicher auch so bleiben.
Wir haben das Thema der Transparenz in der Lieferkette ja bereits angesprochen. Aber auch in Sachen Nachhaltigkeit, ESG und Lieferkettengesetz stehen die Zulieferer unter großem Druck. Wie sehen Sie die Branche aktuell bei diesen Themen aufgestellt?
Zwischen Anspruch und Wirklichkeit besteht oft noch eine Diskrepanz. Ihre eigenen Aktivitäten haben die meisten Zulieferer noch einigermaßen gut im Blick. Aber über das, was in der vorgelagerten Lieferkette passiert, ist bisher kaum Transparenz vorhanden. Aus unserer Sicht werden die Zulieferer über alle Tier-Stufen hinweg in den kommenden Jahren hohe Investitionen tätigen müssen, um die Anforderungen in diesem Bereich erfüllen zu können.
Auch beim Sourcing von Halbleitern kommt den Zulieferern eine Schlüsselrolle zu. Es gibt einige Stimmen in der Branche, die für die Zukunft konzertierte Aktionen im Bereich der Chipbeschaffung fordern. Glauben Sie an gemeinsame Bemühungen der Branche?
Die Sichtweise auf Halbleiter als kritische Komponente für das Fahrzeug hat sich durch die aktuelle Krise massiv verändert. Allerdings gehen verschiedene Zulieferer sehr unterschiedlich damit um. Einige steigen selbst in die Halbleiterfertigung ein, bauen vorhandene Kapazitäten aus oder schließen langfristige Partnerschaften mit Investitionsbeteiligungen ab. Diese Strategie bietet eine Absicherung für Lieferengpässe in der Zukunft, erfordert aber zunächst hohe Investitionen. Andere Zulieferer setzen weiterhin vornehmlich auf den freien Markt. Daher glaube ich auch nicht, dass wir in der Zukunft nochmal konzertierte Aktionen sehen werden. Warum sollte ich das als OEM tun, und welches Interesse hätte ich als ein Zulieferer, der sich zuvor mit viel Aufwand Kapazitäten gesichert hat?
Zum Abschluss: Was ist Ihrer Ansicht nach der eine strategische Shift, den Zulieferer machen sollten, um auch in Zukunft erfolgreich zu sein?
Es wäre natürlich toll, wenn es da nur den einen Hebel gäbe. Aber wenn ich mich entscheiden müsste, dann würde ich sagen: eine maximal konsequente Ausrichtung des Geschäfts auf Effizienz in Produkt und Prozess. Ganz grundsätzlich muss die Autoindustrie viel effizienter werden, wenn das sicherere, umweltfreundlichere und digitalere Fahren von morgen für den Kunden auch bezahlbar bleiben soll.
Zur Person:
Felix Mogge ist Senior Partner bei der Unternehmensberatung Roland Berger. Er berät Firmen entlang der gesamten automobilen Wertschöpfungskette und ist Spezialist für die weltweite Automobilzulieferindustrie. Seine Expertise umfasst unter anderem Restrukturierungs- und Leistungssteigerungsprogramme, M&A und Post-Merger-Integrationen. Felix Mogge ist seit 2003 bei Roland Berger und hat Betriebswirtschaft an der Otto Beisheim Graduate School of Management in Vallendar (Deutschland) und der John M. Olin School of Business in St. Louis (USA) studiert.