Marc Kräutle ist seit mehr als 20 Jahren bei Agamus und seit 2018 CEO der Beratungsfirma.

Marc Kräutle ist seit mehr als 20 Jahren bei Agamus und seit 2018 CEO der Beratungsfirma. (Bild: Wolfgang Nürbauer)

Automobil Produktion Kongress 2024

Automobil Produktion Kongress 2024

Am 16. und 17. Mai 2024 treffen sich auf dem Automobil Produktion Kongress in München auch in diesem Jahr wieder Fach- und Führungskräfte, um über die Automobilfertigung der Zukunft zu sprechen. Gemeinsam streben Hersteller, Zulieferer und Dienstleister eine smarte, flexible sowie nachhaltige Produktion mit transparenter Lieferkette an. Seien Sie dabei und profitieren Sie von kollektiven Branchenwissen. 🎫 Jetzt Ticket sichern!

Herr Kräutle, wieso erfährt Lean aktuell wieder eine Renaissance?

Lean war Mitte bis Ende der 2010er-Jahre selten im Fokus der Führungskräfte. Es wurde als etablierte Praxis angesehen. Durch Pandemie und Halbleiterkrise, mit den vielen Stop-and-Gos, ist einigen Unternehmen klar geworden, dass sie in den Grundlagen nicht so robust unterwegs sind, wie sie vermutet haben. Manche haben sich zu sehr auf die Digitalisierung fokussiert und vergessen, dass bei Lean der Mensch im Mittelpunkt steht. Der Mitarbeiter ist ein Experte in seinem Bereich, er spielt eine zentrale Rolle bei der Problemlösung und beim Reduzieren von Verschwendungen.

Ob Heijunka, Karakuri oder Poka-Yoke – viele japanische Lean-Trendbegriffe hängen mit Toyota zusammen. Wieso ist das so?

Das Toyota-Produktionssystem ist der Grundstein für alle modernen Produktionssysteme, die es weltweit gibt. Toyota hat in den 1940er-Jahren angefangen, die Produktionsmethoden zu überdenken und ein Produktionssystem zu definieren. Was wir heute tun, ist an unsere Mentalität, an unsere Arbeitsweisen und unsere Denkmuster adaptiert worden. Im Grunde ist Toyota der Ursprung, aber die Weiterentwicklung in unserer Weltregion ist sehr stark europäisiert. Vor 18 Jahren haben wir die Studie begonnen mit dem Motto Kapieren und nicht Kopieren. An dieser Handlungsmaxime glaube ich nach wie vor.

Welche Trends sind aktuell am weitesten verbreitet?

Unsere jährliche Automotive Lean Production-Studie zeigt, dass in der Automobilproduktion 5S, Kanban, KVP und Poka-Yoke flächendeckend verbreitet sind, da sie wesentliche Bestandteile der Lean-Grundlagen bilden. Diese Bausteine in Kombination mit Shopfloor-Management, ob digital oder analog unterstützt, sind entscheidend für den Erfolg von Lean-Praktiken.

Was zeichnet die guten Werke aus?

Die guten Werke haben alle gemeinsam, dass sie die Standards und Routinen so robust implementiert haben, dass diese trotz all dem, was in den letzten vier Jahren passiert ist, weiter funktioniert haben. Bei vielen anderen ist herausgekommen, dass sie noch nicht so weit waren und jetzt arbeiten diese wieder verstärkt an den Grundlagen der Lean-Reise.

Was ist denn das Ziel der Lean-Reise?

Lean ist eine Reise, die nie zu Ende geht und es gibt unterschiedliche Etappen, welche heutzutage durch Digitalisierungslösungen unterstützt werden. Die Etappen bleiben aber gleich, ebenso wie das Ziel, die Wertschöpfung auf den Kunden zu konzentrieren. Es gibt bei Lean keine finale Ausbaustufe.

Die drei Schlagworte moderner Fabrik sind neben nachhaltig meistens lean und digital. Inwiefern beeinflusst die Digitalisierung das Lean Management?

Die Digitalisierung unterstützt die Lean-Reise und ermöglicht bei jeder Etappe, die nächste Effizienzstufe zu erreichen. Wenn man in diesem Zusammenhang über Smart Factory spricht, geht es stark um Lösungen und Anwendungen. Wenn es um exzellente Produktionsprozesse geht, sprechen wir von der gelungenen Symbiose von Lean und Digitalisierung. Die Digitalisierung der Arbeitsumgebung der Team- und Gruppenleiter sowie der Werker ist ein wichtiger Trend, zum Beispiel breiten sich die Werker-Assistenzsysteme zunehmend aus. Die besten Werke arbeiten intensiv an der Digitalisierung der Arbeitsumgebung in der Fertigung.

Wie stehen Sie im Zusammenhang mit der fortschreitenden Digitalisierung zu der Möglichkeit einer menschenleeren Fabrik?

Eine Dark Factory ohne menschliche Arbeitskräfte wird nicht kommen. Der Mensch wird weiterhin eine zentrale Rolle spielen, nur verändert sie sich durch die Digitalisierung, weil er seine Prozesse, seine Wertschöpfung viel stärker kontrollieren und verbessern kann. Es gibt viele Anlagen, die Mikrostörungen haben, die ein bis zwei Sekunden dauern, die früher gar nicht richtig aufgefallen wären. Jetzt mit der Digitalisierung und der Anbindung der Maschinen kann man diese Mikroverluste angehen. Die Systematik ist immer die gleiche: Ich muss meine Verluste erkennen, identifizieren und einen Problemlöseprozess einleiten. Durch die Digitalisierung kann ich neue Potenziale erheben, weil ich viel genauer bin.

Wo gibt es in der Autoindustrie noch den größten Nachholbedarf?

Die Schere geht immer weiter auf. Die Guten werden immer besser und durch die Digitalisierung werden sie noch mal besser. Und dann gibt es viele Werke, die bei Lean noch nicht robust genug sind, um die heute erforderliche Resilienz zu beherrschen. Wer die Lean-Grundlagen noch nicht im Griff hat, wird es auch mit der Digitalisierung nicht packen. Generell ist die Lieferanten-Entwicklung als Lean-Baustein unzureichend ausgeprägt. Das liegt auch daran, dass das Werk dafür meistens nicht direkt verantwortlich ist. Das Werk selbst kann 20 bis 30 Prozent der Wertschöpfung beeinflussen, ist aber trotzdem zu einhundert Prozent gegenüber dem Kunden verantwortlich. Unsere Studien zeigen Jahr für Jahr, dass es hier einen großen Handlungsbedarf gibt. Es gibt OEM-Werke, die hervorragend sind, aber wenn die ganze Lieferantenbasis darunter nicht hält, bringt das in Summe nicht viel.

Was könnte man denn tun, damit sich das bessert?

Der Ansatz wäre, über die Wertstrommethodik vom Kunden bis zum Lieferanten zu gehen und dann den Lieferanten in den Gesamtwertstrom einzubetten.

Wie beurteilen Sie in diesem Zusammenhang das Potenzial von Catena-X?

Ich kann Catena X schwer einschätzen, weil ich in der Praxis noch wenig gesehen habe. Das sind alles noch Pilotprojekte. Das Prinzip ist super. Mit einem einheitlichen Daten-Ökosystem ließe sich eine hohe Transparenz in der Lieferkette erzielen. Noch sind meiner Ansicht nach vor allem große Lieferanten angeschlossen. Die Frage lautet, wie weit die mittleren und kleinen Lieferanten in der Lage sind, angebunden zu werden und es überhaupt möchten. Es nutzt den OEMs wenig, wenn nur die Großen dabei sind, denn die Probleme kommen meist von den kleinen und mittleren Unternehmen weiter hinten in der Lieferkette, für die teilweise der Automotive-Anteil am Gesamtumsatz nur eine kleine Bedeutung hat. Der Gedanke ist richtig, eine stärkere Integration hinzubekommen. Es wird aber ein langer Weg, die kleinen und mittleren Lieferanten über die gesamte Lieferkette hinweg zu integrieren.

Welche Grundlagen sollten Ihrer Ansicht nach zunächst geschaffen werden?

Jeder sollte damit starten, auf Data Driven Manufacturing umzustellen. Und da sprechen wir noch nicht über KI oder ähnlichem. Sondern da geht es darum, die Daten, die ich bereits habe, so zu analysieren und aufzubereiten, dass sie einen Mehrwert bringen. Wenn man heute nicht anfängt, mit Daten zu arbeiten, wenn man es nicht gewohnt ist, dann wird es auch später mit komplexeren Themen wie Catena-X und KI nichts werden. Es geht primär darum, die Menschen in der Produktion zu befähigen, mit Daten über Verluste, Störungen und Qualitätsprobleme umzugehen. Gruppen- oder Teamleiter zum Beispiel sollten selbst in der Lage sein, Probleme zu analysieren und zu lösen oder Lösungsansätze abzuleiten und an der richtigen Stelle zu adressieren. Das ist der wichtigste Schritt, den Unternehmen gehen müssen und die Besten tun das bereits.

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