Der Branchenzweig für Lkw und andere Nutzfahrzeuge ist in der Automobilindustrie so etwas wie die Vorhut bei der Erprobung neuer Technologien. So sehen viele Experten beispielsweise die Schwerlastlogistik auf Autobahnen und Highways als einen der ersten Anwendungsfälle fürs autonome Fahren. Neuerliche Feldtests von MAN auf der A9 illustrieren das Potenzial und die Realitätsnähe von autonomen Trucks. Oder das Beispiel Antrieb: Seit Jahren wird entwickelt und getestet, auf welche Weise der Schwerlastverkehr grüner werden kann – dabei ist die Diskussion deutlich technologieoffener und pragmatischer als im Pkw-Sektor.
Weniger prominent diskutiert wird allerdings bislang die Frage, wie weit der Fortschrittsbalken in Sachen Digitalisierung der Lkw-Herstellung gefüllt ist. Hier scheinen die Pkw-Produzenten deutlich freimütiger zu sein und haben gerade in den zurückliegenden Jahren gezeigt, dass die Fortschritte bei der Smart Factory mittlerweile mehr als sporadisch sind. Doch was Intelligenz und Vernetzung in der Produktion anbelangt, stehen Pkw- und Lkw-Hersteller letztlich vor den gleichen Herausforderungen. Top-Priorität hat dabei die Durchgängigkeit der Daten über die gesamte Supply Chain hinweg.
Was ist das Ziel von Twin4Trucks?
Das illustriert auch das Forschungsprojekt Twin4Trucks, bei dem der Lkw-Hersteller Daimler Truck im September 2022 die Konsortialführerschaft übernommen hat. Zudem beteiligt sind das Deutsche Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz (DFKI) und die Technologie-Initiative SmartFactoryKL sowie die IT-Dienstleister Eviden, Infosys und Pfalzkom. Im Fokus des Vorhabens: Die Optimierung der Fertigung durch den Aufbau eines digitalen Zwillings beziehungsweise eines sogenannten Digital Foundation Layers für das größte Montagewerk im Produktionsnetzwerk von Daimler Truck im rheinlandpfälzischen Wörth.
„Über allem steht das Thema Datendurchgängigkeit“, betont Projektleiter und Senior Manager Manufacturing Engineering bei Daimler Truck, Ekkehard Brümmer, „Kern des Projekts ist die Entwicklung eines übergreifenden Systems für die digital vernetzte Produktion von Nutzfahrzeugen. Das bedeutet, dass wir aus vereinzelten Datennutzungen, die wir schon betreiben, ein System über sämtliche Produktionsprozesse hinweg entstehen lassen.“ Schwerpunkte bilden dabei die Bereiche Montage, Materialversorgung und die Qualitätssicherung.
Zahlen & Fakten zum Daimler-Truck-Werk Wörth:
- Gründung: 1963
- Belegschaft: ca. 11.000
- Werksfläche: 2,9 km²
- Produktion: bis zu 470 Lkw am Tag
- Bandbreite: 70.000 unterschiedliche Lkw pro Jahr
- Modelle: Actros, Arocs, Atego, Econic, Unimog, Zetros
Datensicherheit und Robustheit der Fertigungsprozesse
Der Daimler Truck-Standort in Wörth am Rhein ist mit über 11.000 Beschäftigten und einem Output von bis zu 470 Lkw pro Tag das wichtigste Werk und für Brümmer damit der Ort, wo Innovationen zuerst ausprobiert werden würden. Schließlich hätten sie dort gleich den größten Effekt auf die Prozesse. „Aber es geht auch in Wörth noch viele Orte, an denen händische Prozesse zwischengeschaltet sind, die einerseits einen hohen Aufwand bedeuten, nicht wertschöpfen sind und bei denen andererseits ein gewisses Fehlerpotenzial vorhanden ist“, erklärt der Fachmann.
Ein Beispiel sind Schraubvorgänge, bei denen Werker mit Scannern händisch dafür sorgen, dass die richtigen Schraubdaten auf dem entsprechenden Tool erzeugt werden. Was es an dieser Stelle der Lkw-Montage bräuchte, wäre ein Ortungssystem, das Produkt und Werkzeug automatisch verheiratet, sodass der „nicht wertschöpfende Handlingvorgang“ aus dem Prozess eliminiert würde, so Brümmer. Zugleich entstünde eine absolute Datensicherheit, da die exakte Ortung und Zuordnung zu einer eindeutigen Datenverknüpfung führten. „So kommen wir durch die Vernetzung der Informationen zu einer viel höheren Robustheit der Produktionsprozesse,“ sagt der Experte von Daimler Truck.
Wie entsteht der digitale Zwilling im Werk Wörth?
Was Brümmer hier beschreibt, ist im Kern das Versprechen des digitalen Zwillings, mit dem momentan allerorten in der Autoindustrie experimentiert wird. Antrieb der Entwicklung ist die Vision von vollumfänglicher Datendurchgängigkeit über alle Gewerke und Materialflüsse hinweg – und die Ausmerzung der über Jahrzehnte hinweg angefüllten Datensilos. „Es gibt aktuell entweder die Sicht auf die Produktionsanlagen oder auf das Produkt. Hier einen Transfer zwischen beiden Sichten herzustellen, ist die große Aufgabe“, erläutert Martin Ruskowski, Vorstandsvorsitzender der SmartFactoryKL und Forschungsbereichsleiter Innovative Fabriksysteme am DFKI. Momentan sei es die Regel, dass sich ein Mitarbeiter an ein Messgerät setzt, für ein bestimmtes Fertigungsereignis in der Datenbank einen Datenpunkt heraussucht und am Ende alles manuell zusammenführen muss. So werde die theoretische Verfügbarkeit der Daten durch das praktische Vorgehen – also die manuelle Suche – begrenzt, erklärt der Wissenschaftler.
Dem DFKI beziehungsweise der SmartFacotryKL-Initiative fällt dank des Knowhows im Kontext der Smart Factory und der sogenannten Verwaltungsschale die Rolle des Technologie-Enablers und Orchestrators zu. „Unser Fokus liegt darauf, die Enden des digitalen roten Fadens zusammenzuführen“, sagt Ruskowski. Dabei geht es unter anderem um die Frage, wie man aus Daten verschiedener Maschinen und Gewerke ein Backbone – den Digital Foundation Layer – herstellt und gleichzeitig aus den Daten auch mittels KI-Methoden Auswertungen erreicht und entsprechende Schlüsse ziehen kann. „Und letztlich geht es uns auch darum, diesen Schritt raus aus der Forschung, rein in die Praxis zu wagen.“
Und genau das passiert aktuell im Montagewerk in Wörth am lebenden Objekt: In einem ersten Schritt muss dort eine entsprechende Dateninfrastruktur etabliert werden, um interne und externe Datenquellen sinnvoll miteinander zu verknüpfen. „Das ist sicherlich der entscheidende Punkt, an dem wir aktuell stehen“, stellt Ekkehard Brümmer fest. Neben der Verknüpfung, Auswertung und Nutzung der Daten geht es dabei zunächst um die Erzeugung. „Die Frage, ob es die benötigten Daten überhaupt schon gibt, sollte man nicht unterschätzen“, betont Brümmer. Unter anderem deswegen gehört zum Forschungsprojekt auch eine Annäherung an das Thema 5G: Mit dem IT-Partner Infosys wird nach einer Netzwerklösung auf 5G-Basis gesucht, mit der die entsprechenden Datenmengen erzeugt, latenzfrei übertragen und auf einer Cloud-Datenplattform zusammengeführt werden können.
Anbindung an Catena-X ist geplant
Noch steht Twin4Trucks ganz am Anfang – das interne Datenhandling ist für Brümmer und Ruskowski der erste große Meilenstein, den es zu erreichen gilt. Dennoch denken die Projektpartner bereits darüber nach, den Datenraum auch jenseits der Wörther Fabrikgrenzen zu erweitern und auch das Lieferantennetzwerk zum Teil des Digital Foundation Layers zu machen. Über die IT-Firma Eviden (ehemals Atos) soll eine Datenanbindung an die europäische Cloud-Plattform Gaia-X beziehungsweise Catena-X erfolgen, um den roten Faden der Datendurchgängigkeit konsequent zu Ende zu denken. Die entsprechende Cloud-Infrastruktur kommt dabei vom Unternehmen Pfalzkom, das eine Regional Edge Cloud in den eigenen Rechenzentren aufgebaut und mittels Glasfaser mit dem Werk Wörth verbunden hat.
„Der große Vorteil von Twin4Trucks ist seine Modellhaftigkeit. Wir haben ein kleines Testfeld geschaffen, auf dem wir sämtliche Themen von Datenerzeugung bis Datenhaltung ausprobieren können“, sagt Projektleiter Brümmer. Ein Experiment, das für die Digitalisierung der Wertschöpfungskette nicht nur von Nutzfahrzeugen in naher Zukunft wertvolle Erkenntnisse liefern könnte.