Herr Ruskowski, wie muss eine Fabrik für Sie aussehen, damit sie den Stempel „Smart Factory“ von Ihnen bekommt?
Eine echte Smart Factory muss Abschied nehmen von klassischer Automatisierungstechnik und von der Denke, dass Computer eigentlich nur Kabel ersetzen. Bislang haben gelernte Elektrotechniker ihre Elektrokonstruktionen für SPS-Systeme programmiert – das ist nicht mehr zeitgemäß. Wir müssen stattdessen aus der IT-Welt kommend, die Kapselung von Services, intelligenten Benutzer-Interfaces oder agentenbasierten Ansätzen auf die Fabrik übertragen und vorantreiben. Das muss in allen Gewerken, allen Produktionseinheiten und bei den Arbeitsplätzen in der Factory passieren. Also nicht nur die automatisierten Bereiche, sondern auch solche, in denen Menschen tagtäglich arbeiten. Das bedeutet auch, dass wir uns von der klassischen Fließbandarbeit verabschieden und modulare, flexible Fertigungsinseln aufbauen müssen, die zugleich hierarchisch angelegt werden können.
Laut Ihren Prognosen werden die ersten echten Smart Factories noch einige Jahre auf sich warten lassen. Die entsprechenden Technologien seien noch nicht so weit, sagen Sie. Auch andere Studien sagen, dass viele Unternehmen immer noch nicht über die Planungsphase in Sachen vernetzter Fertigung hinausgekommen sind. Was ist es, was aus Ihrer Sicht noch fehlt?
Das Problem in den vergangenen Jahren lag darin, dass viele Unternehmen die Trendwelle Industrie 4.0 nur möglichst schnell hinter sich bringen wollten und kleine Lösungen stückwerkartig innerhalb der Fertigung umgesetzt haben. Eben ein bisschen Digitalisierung hier und da. Ein grundlegender Wandel der Produktion hat nicht stattgefunden. Das ist aber auch nachvollziehbar, da die Entwicklungszyklen in der Automatisierungstechnik sehr lang sind. Im Gegensatz zu Produkten aus der Consumer-Welt, die jährlich Erneuerungen erfahren, liegen zwischen Systemgenerationen in der Produktion meist fünf bis zehn Jahre. Daher ist es nicht verwunderlich, dass viele Unternehmen erst einmal eine Idee, einen Ansatzpunkt für eine digitalisierte Fertigung haben müssen. Die industriellen Revolutionen der Vergangenheit haben auch mehrere Jahrzehnte gedauert. Jetzt nach zehn Jahren Industrie 4.0 sind wir überhaupt erst an dem Punkt, ein einigermaßen einheitliches Verständnis davon zu haben, wo wir mit der Smart Factory hinwollen.
Smart Pressshop, Smart Paintshop, Smart Bodyshop – in der automobilen Fertigung entwickelt sich auch jedes Gewerk für sich weiter. Sehen Sie in der Automobilproduktion in Sachen Digitalisierung unterschiedliche Geschwindigkeiten und könnte dies womöglich eine ganzheitliche Betrachtungsweise von Industrie 4.0 verhindern?
Es ist utopisch anzunehmen, man könne alles auf einmal umbauen. Ehrlich gesagt, gibt es auch heute noch Bereiche in der Fertigung, in denen selbst die Automatisierung noch nicht Fuß gefasst hat. Das liegt daran, dass für den Umbau teilweise Milliardeninvestitionen vonnöten wären, die einfach nicht von heute auf morgen geschultert werden können. Daher wird es immer Gewerke geben, die moderner daherkommen als andere. Das liegt jedoch nicht unbedingt an den Gewerken selbst, sondern an den dahinterstehenden Unternehmen, die entsprechende Innovationen mit Nachdruck vorantreiben. Unser Mitglied (in der Technologie-Initiative SmartFactory-KL, Anm. d. Red.) Rittal beispielsweise, hat am Standort Haiger ein Werk konsequent nach Industrie 4.0-Maßstäben aufgebaut und musste dabei viele Ansätze, wie die Kapselung von Diensten, selbst entwickeln. Grundsätzlich wird auch in Zukunft gelten: Der Weg zur Smart Factory wird Schritt für Schritt begangen.
Sie sagen selbst, dass die IT im Werk der eigentlich größte Hebel für eine erfolgreiche Transformation ist. Doch gerade das IT-Backbone dreht ein Industrieunternehmen nicht einfach auf links. Wo können die Player aus der Autobranche ansetzen?
Der große Knackpunkt ist die Produktionsplanung. Klassische ERP- und MES-Systemlandschaften bedürfen enormer Anstrengungen, um sie zu erneuern. Helfen könnten dezentrale Planungen mit Multiagentensystemen, in denen sich einzelne Produktionsmittel lokal miteinander abstimmen und schnell und flexibel reagieren können. Diese lokalen Konzepte müssen mit MES-Systemen verknüpft werden, nur so kommen wir näher an das Idealbild einer intelligenten Produktion. Andernfalls werden mich immer alte Strukturen begrenzen und die Möglichkeiten der Smart Factory werden niemals vollends ausgeschöpft.
Denken wir an die Transformation ins Zeitalter der Elektromobilität und Digitalisierung: Ist es für Autohersteller ein klarer Vorteil, ein Werk im Greenfield zu errichten? Tesla in Grünheide und Volkswagens Trinity-Werk in Wolfsburg sind nur zwei aktuelle Beispiele…
Es immer schön, wenn man auf der grünen Wiese starten kann. Allerdings ist die Situation momentan noch ein wenig undankbar, weil noch nicht alles da ist, was man benutzen könnte oder möchte. Klassische Automatisierung wird immer noch verbaut, am Ende landet man bei einem hybriden Ergebnis. Die Chancen liegen eher im Kleinen, etwa bei der Veränderung der IT-Struktur. Es ist sehr undankbar, ein komplettes Werk neu zu planen. Ich würde da eher mit einem Gewerk starten und ausprobieren, Stabilität erzeugen, standardisieren, erste Use-Cases einführen, weitere Funktionen hinzufügen – das wäre für mich der richtige Weg. Aber einen klaren Vorteil der grünen Wiese gibt es dann doch …
Und der wäre?
Die Produktion ließe sich bereits mechanisch aufteilen, weg vom Fließband und hin zur Inselproduktion. Vor allem für die klassischen Autobauer ist das spannend, weil sie sicherlich noch auf Jahre mit einer hohen Varianz fertigen werden. Wir werden eine Phase erleben, in der Hersteller E-Autos, Verbrenner oder auch Brennstoffzellenfahrzeuge parallel produzieren. Da ergibt eine Inselproduktion Sinn, weil am jeweiligen Fahrzeug entschieden werden kann, welche Gewerke tatsächlich benötigt werden und welche nicht. Durch eine solche Modularisierung käme man im Laufe der Zeit der Vision einer IT-getriebenen, smarten Fabrik näher.
Sie haben davon gesprochen, dass es derzeit undankbar ist, ein Werk im Greenfield zu planen und zu errichten. Was meinen Sie damit?
Viele technologische Entwicklungen stehen noch am Anfang – oder mehrere Stränge verlaufen parallel. Denken Sie an die Videoformate von früher. Da haben auch einige Hersteller auf das falsche Pferd gesetzt. Es ist zum Start oft nicht absehbar, was sich durchsetzen und weiterentwickeln wird. Es ist also undankbar, sich vorher entscheiden zu müssen. Wobei ich schon sagen würde, dass wir langsam einer einheitlichen und sinnvollen technologischen Basis näherkommen, Stichwort: Verwaltungsschale. Darunter verstehen wir die Realisierung eines digitalen Zwillings, also die Gesamtheit der tatsächlichen Informationen rund um eine Komponente oder Anlage. Mit dem Konzept der Verwaltungsschale arbeiten inzwischen zahlreiche Unternehmen und Forschungspartner.
Irgendwann wird aus der grünen eine braune Wiese – haben Sie Tipps, wie sich Werke lange fit halten? Schließlich ist nichts so beständig, wie der Wandel…
Die IT-Branche macht das ganz gut vor: Durch Virtualisierung und Cloud-Technologien ist man bereits sehr unabhängig von Hardware geworden. In der Vergangenheit haben wir in der Industrie unglaublich viel in SPS, in Steuerungen und in Hardware investiert – das ist fix bis in alle Zeiten. Aber je eher man es schafft, auch in den untersten Ebenen Prozesse zu virtualisieren, desto flexibler ist die Fabrik für die Zukunft aufgestellt. Wir nennen das Konzept Industrial Edge Cloud: Die Rechenpower im Werk schalten wir zusammen, lassen darauf die entsprechende Software laufen und halten diese aktuell. Im Laufe der Zeit müssen dann lediglich die Server ausgetauscht werden – aber das sind inzwischen Standardprozesse und stellen keine Produktion mehr vor Probleme.
Was halten Sie in diesem Kontext von dem Prinzip der Microfactories, wie sie etwa E.Go Mobile nutzt?
Ein spannender Ansatz, denn Microfactories gehen einen Schritt in Richtung der Plattformökonomie für die Produktion. Auch wir verfolgen die Vision einer Shared Production. Die Idee: Die virtuelle Produktionsplanung findet getrennt von der physischen Fertigung statt. Letztlich sucht sich das Unternehmen aus einem Pool genau die Produktionsmittel aus, die es für die Fertigung des jeweiligen Produktes braucht. Da ist es am Ende egal, ob die Maschine in der eigenen Werkshalle steht oder woanders. Mit ausgereiften Data-Privacy-Konzepten könnte die Fertigung sogar beim direkten Konkurrenten stattfinden, ohne dass dieser an die Daten kommt. Diese Idee hätte vor allem den Charme, zunehmend lokal fertigen zu können. Wir wollen damit den Standort Deutschland wettbewerbsfähig halten. Ich denke, es ist momentan sehr offensichtlich, dass die Globalisierung an ihr Ende gekommen ist und an ihre Stelle eine „Glokalisierung“ treten muss: global denken, aber sich lokal aufstellen. Dafür braucht es volle Flexibilität.
Das klingt nach einem Paradigmenwechsel…
Ist es auch. Wir halten die Produktion in westlichen Industrieländern für sehr teuer, der Weg mit der Fertigung in Niedriglohnländer scheint alternativlos. Tatsächlich bezieht sich das aber rein auf die planerische Komponente. Die Anlagen, Maschinen und Roboter kosten doch überall das gleiche. Was es so teuer macht, ist die Tatsache, dass wir die Produktionsplanung, die aufwendig und kostenintensiv ist, nicht von der reinen Fertigung trennen. Diese Overhead-Kosten machen das Gesamtpaket teuer und Unternehmen denken, dass dieses Paket nicht trennbar ist – das ist es aber. Fertigung über einen Mausklick auf einem Marktplatz, ohne Verträge, komplexe Abwicklung und Bürokratie – das ist auch hierzulande kosteneffizient darstellbar. Diese Veränderungen machen für mich den Kern der vierten industriellen Revolution aus.
Werden wir zum Abschluss praktisch: Welches Industrie-4.0-Projekt aus der Industrie hat Sie zuletzt so richtig beeindruckt?
Ein konkretes Projekt möchte ich da gar nicht herausstellen. Ich sehe – und das stimmt mich positiv –, dass in der Industrie inzwischen ein sehr breites Verständnis vorhanden ist, was eine Smart Factory im Kern ausmacht. Ich glaube – ganz bescheiden –, dass wir mit der SmartFactory Kaiserslautern daran einen bestimmten Anteil haben. Ich mache eine Aufbruchsstimmung in der Industrie aus. Das begeistert mich momentan.
Zur Person:
Prof. Dr.-Ing. Martin Ruskowski ist Forschungsbereichsleiter Innovative Fabriksysteme am Deutschen Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz, Inhaber des Lehrstuhls für Werkzeugmaschinen und Steuerungen an der TU Kaiserslautern und Vorstandsvorsitzender der im DFKI beheimateten Technologie-Initiative SmartFactory KL e.V.. Seine Forschungsschwerpunkte sind neuartige Steuerungskonzepte für die Automatisierung, Künstliche Intelligenz in der Automatisierungstechnik sowie Industrieroboter als Werkzeugmaschinen. Zuvor hatte er mehrere Führungspositionen in der Industrie inne, zuletzt als Leiter „Research & Development“ bei Kuka Industries Group.