So startet Mercedes die Dekarbonisierung an der Quelle
Gemeinsam mit dem norwegischen Aluminiumhersteller Hydro arbeitet Mercedes-Benz daran, den CO2-Fußabdruck seiner Materialien deutlich zu senken.
(Bild: Deniz Calagan)
Mercedes-Benz treibt die Dekarbonisierung seiner Lieferkette voran – gemeinsam mit dem norwegischen Aluminiumhersteller Hydro. Die Partner zeigen, wie CO2-arme Materialien, erneuerbare Energie und Recycling den Wandel in der Automobilindustrie beschleunigen können.
Die Wende zur Elektromobilität verändert nicht nur das, was auf den Straßen fährt, sondern auch das, was tief in den Lieferketten verborgen liegt. Während Motoren leiser werden und Auspuffe zunehmend verschwinden, rückt ein anderer Teil der Wertschöpfung ins Rampenlicht: die Materialien, aus denen Fahrzeuge bestehen. Metalle wie Stahl und Aluminium entscheiden zunehmend darüber, wie klimafreundlich ein Auto tatsächlich ist.
Für Automobilhersteller wie Mercedes-Benz beispielsweise bedeutet das einen radikalen Perspektivwechsel. Mit der „Ambition 2039“ will der Stuttgarter Hersteller in gut einem Jahrzehnt eine CO2-neutrale Neuwagenflotte anbieten können und weiß gleichzeitig, dass dieses Ziel nur erreichbar ist, wenn auch die vorgelagerte Industrie mitzieht. Denn selbst wenn die Fahrzeuge mit grünem Strom geladen werden, bleibt der CO2-Rucksack aus Produktion und Materialeinsatz erheblich. Besonders Aluminium steht im Fokus und mit dem norwegischen Unternehmen Hydro hat Mercedes-Benz einen Partner gefunden, der an genau dieser Stelle ansetzt.
Bereits im Dezember 2022 unterzeichneten Mercedes-Benz und Hydro eine Absichtserklärung, die eine gemeinsame Technologie-Roadmap bis 2030 definiert. Ziel dabei ist es, Aluminium mit deutlich reduziertem CO2-Fußabdruck für den Automobilbau bereitzustellen. Markus Schäfer, vorheriger Vorstand für Entwicklung und Einkauf bei Mercedes-Benz, sprach damals von einem „wichtigen Signal, den Wandel in der Aluminiumindustrie zu beschleunigen“.
Klimaziele werden zur Einkaufsbedingung
Die strategische Bedeutung für Mercedes verdeutlicht auch Gunnar Güthenke, Leiter Einkauf und Lieferantenqualität beim OEM: „Drei Kernziele in unserer Lieferkette sind Dekarbonisierung, Zirkularität und Beyond Carbon.“ In der Praxis bedeutet das zweierlei: Zum einen setzt der Konzern verbindliche Anforderungen an alle Zulieferer und verschärft diese Jahr für Jahr. Zum anderen geht Mercedes bei besonders kritischen Rohstoffen wie Aluminium, Stahl, Batterien und Kunststoffen in Leuchtturmprojekten weiter, um größere Sprünge zu erzielen. Denn „80 Prozent des CO2-Fußabdrucks eines batterieelektrischen Fahrzeugs stammen aus der Lieferkette“, wie Güthenke betont.
Schon 2020 hatte Mercedes ein Ambitionsschreiben veröffentlicht, das von jedem neuen Lieferanten die Verpflichtung zur CO2-Neutralität bis 2039 einfordert. Seit 2022 gelten zudem verbindliche Standards zu Menschenrechten und Umweltschutz, die durch Audits überprüft werden.Um diese Risiken zu adressieren, wurden 24 kritische Materialien identifiziert, deren Abbau und Verarbeitung besonders anfällig für Menschenrechtsverletzungen sind. Bis 2028 will Mercedes für alle dieser Materialien ein Risikomapping abgeschlossen und Gegenmaßnahmen implementiert haben.
Governance allein genügt jedoch nicht, um Emissionen spürbar zu senken. Erst wenn strategische Vorgaben in industrielle Realität übersetzt werden, entsteht Wirkung. Genau an dieser Schnittstelle beginnt die Zusammenarbeit mit Hydro als Partner, der die gesamte Aluminium-Wertschöpfungskette kontrolliert – vom Bauxitabbau in Brasilien über Raffination, Schmelzen und Extrusion bis hin zu Recyclinglösungen.
Recycling und erneuerbare Energie als Effizienzhebel
Eivind Kallevik, CEO des internationalen Aluminiumproduzenten mit Sitz in Oslo, verweist auf zwei zentrale Stärken: den umfassenden Einsatz erneuerbarer Energien und die Recyclingkapazitäten. „Recycling von Aluminium benötigt nur fünf Prozent der Energie im Vergleich zur Primärproduktion“, erklärte er. Hydro betreibt Wasserkraftwerke in Norwegen, eigene Energieerzeugung in Brasilien und investiert in neue Verfahren wie die emissionsfreie Elektrolyse. Bis 2030 will das Unternehmen seine Emissionen um 30 Prozent reduzieren, bis 2050 klimaneutral sein. Die Partnerschaft mit Mercedes hebt Kallevik besonders hervor: „Sie geht über eine klassische Lieferanten-Kunden-Beziehung hinaus – wir suchen gemeinsam Lösungen.“ Statt reiner Bestellungen geht es um die gemeinsame Entwicklung von Technologien und Prozessen.
Wie genau Hydro Aluminium produziert, lässt sich am besten im norwegischen Årdal nachvollziehen. Das Werk mit rund 600 Mitarbeitenden stellt jährlich über 200.000 Tonnen Flüssigmetall her, die überwiegend in die Automobilindustrie fließen. Der Energiebedarf ist immens: 3,3 Terawattstunden. Dennoch liegt der CO2-Fußabdruck deutlich unter dem Weltmarktdurchschnitt. „Mit Wasserkraft erreichen wir etwa vier Kilo CO2 pro Kilo Aluminium – der Welt-Durchschnitt liegt bei 14,8“, so Werksleiterin Anveig Bjordal Halkjelsvik. Ziel sei es, die Werte perspektivisch auf rund zwei Kilogramm zu senken. Möglich werden soll das durch eine Kombination aus Recycling, optimierten Prozessen und neuen Technologien. Hydro testet biobasierte Anoden, den Einsatz von Wasserstoff und Plasmaverfahren. Zugleich laufen Pilotprojekte für Carbon Capture, um unvermeidbare CO2-Emissionen aus der Elektrolyse abzuscheiden.
Gemeinsam schärfen Mercedes und Hydro das Auge dafür, dass Nachhaltigkeit in der Lieferkette mehr umfasst als reine Emissionswerte. Mit dem „Corridor Program“ engagieren sich die Partner gemeinsam in der brasilianischen Bauxit-Region Pará. Entlang der 244 Kilometer langen Transportpipeline sollen lokale Gemeinden etwa durch Bildungsinitiativen, Arbeitsplätze und Infrastrukturprojekte unterstützt werden. Ziel ist es, die Lebensbedingungen der Bevölkerung zu verbessern und Menschenrechtsrisiken in der Rohstoffkette zu reduzieren.
Vom Gletscher bis zur Turbine
Eine Besonderheit in Årdal ist die unmittelbare Nähe zwischen Natur und Industrie. Hoch oben in den schneebedeckten Bergen sammelt sich das Schmelzwasser in klaren, eiskalten Seen, bevor es durch ein Netz aus Tunneln und Druckrohren ins Tal stürzt. Auf seinem Weg nach unten legt es mehr als 700 Höhenmeter zurück und treibt dabei die Turbinen an, die den Standort seit Generationen mit Energie versorgen. Bereits in den 1940er Jahren entstand hier das erste Wasserkraftwerk. Heute liegen die modernen Anlagen tief im Gestein verborgen, geschützt vor Schnee, Eis und Wind. Teile der ursprünglichen Generatoren sind bis heute in Betrieb – ein Beleg für die Langlebigkeit der norwegischen Ingenieurskunst.
Projektingenieur Jan Erik Vold beschreibt das Prinzip als nahezu perfektes Kreislaufsystem: „Das gleiche Wasser wird mehrfach genutzt, um Strom zu erzeugen.“ Mithilfe von Pumpkraftwerken kann das Wasser in Zeiten niedriger Strompreise zurück in die Bergseen befördert werden, um es bei hoher Nachfrage erneut einzusetzen. So fließt das Wasser, das oben zwischen Fels und Schnee entspringt, immer wieder durch die Turbinen – ein stiller Motor, der nicht nur das Werk antreibt, sondern auch den Energiemarkt stabilisiert und Überschwemmungen im Tal vorbeugt.
Der Balanceakt der Dekarbonisierung
So ambitioniert die Roadmap auch ist, sie bleibt mit Herausforderungen verbunden. Steigende Energiepreise in Europa erschweren langfristige Lieferverträge. Die Skalierung von Recycling und Carbon Capture ist technologisch und wirtschaftlich noch nicht gesichert. Und auch die Abwägung zwischen Primär- und Sekundäraluminium bleibt ein Balanceakt, da für sicherheitsrelevante Komponenten weiterhin hochwertiges Primärmaterial benötigt wird. Die Kooperation zwischen Mercedes und Hydro zeigt umso deutlicher, wie eng Automobilindustrie und Rohstoffproduzenten in der Dekarbonisierung zusammenarbeiten müssen. Aluminium bleibt ein Schlüsselfaktor für leichtere, effizientere Fahrzeuge zugleich aber auch ein Risiko in der CO2-Bilanz. Indem beide Unternehmen in Technologien, Energieinfrastruktur und soziale Verantwortung investieren, setzen sie wichtige Akzente für eine nachhaltigere Lieferkette. Ob die ambitionierten Ziele – minus 90 Prozent Emissionen bis 2030 – erreicht werden, hängt letztlich davon ab, wie schnell Innovationen im industriellen Maßstab umgesetzt werden können.