Der Produktionsstart des vollelektrischen EQA sollte eine Zeitenwende im Werk Rastatt einläuten. Doch in den Monaten nach dem Anlauf im Dezember 2020 wurde die Euphorie rasch gedämpft. Auf die Coronapandemie folgte die Halbleiterkrise: Die Fertigung musste mehrfach unterbrochen werden, über den rund 6.100 Mitarbeitern hing weiterhin das Damoklesschwert der Kurzarbeit. Viele bangten gar um die Zukunft des 1992 errichteten Standorts – bis Mercedes-Chef Ola Källenius auf einer Betriebsversammlung im Dezember 2022 den Fortbestand garantierte.
Ab Mitte der Dekade soll das Leitwerk der Kompaktklasse demnach mit der Fertigung auf Basis der Mercedes Modular Architecture (MMA) beginnen. Den Anfang macht der neue CLA, dessen Konzept jüngst auf der IAA Mobility in München präsentierte wurde. „Die Belegschaft am Standort Rastatt bereitet sich Schritt für Schritt auf die neuen Fahrzeuge der MMA-Plattform vor“, berichtet Marco Zwick, Standortortverantwortlicher und Produktionsleiter des Werks, anlässlich der Umbaumaßnahmen. Insgesamt wurde dafür ein niedriger dreistelliger Millionenbetrag investiert.
Montagehalle ist bereit für den CLA
Hinter den Hallen für Rohbau und Oberflächenbehandlung zeugen letzte Container vom Epizentrum des Umbaus – der Montagehalle 4.0. Während in der benachbarten Halle 4.1 bereits Verbrenner, Hybride und Elektroautos auf einer Linie gefertigt wurden, liefen hier bislang nur die A-Klasse sowie der GLA in allen Antriebs- und Modellvarianten vom Band. Insgesamt produzierte das Werk im Jahr 2022 über 210.000 Einheiten der A- und B-Klasse sowie des GLA und EQA.
Auffällig sind zunächst die Änderungen in der Fördertechnik. Dazu zählen die 240 neu installierten Hubgehänge, mit denen die Karossen durch die rund 300 Takte der sechs neuen Linien geführt werden. Elektrohängebahnen (EHB) unter der Hallendecke bringen derweil die Komponenten der Lieferanten direkt an den Verbauort, während darunter die abgeschlagenen Türen in einer separaten Linie für die Remontage nach der Hochzeit vorbereitet werden. Ebenfalls umgebaut wurde der Bereich für die Motorenaufrüstung sowie der Klebevorgang der Windschutzscheibe, der über zwei Roboter vollautomatisiert erfolgt.
„Digitalisierung ist nicht zu verwechseln mit Automatisierung. Wir fahren den Automatisierungsgrad sogar ein wenig zurück, weil wir in der Halle voll flexibel verschiedene Plattformen produzieren“, erläutert Werksleiter Zwick. Nach der Montage von Cockpit, Boden und Sitzen wird dies beim Verbau des Antriebs deutlich. Die alte Hochzeit wurde komplett ausgetauscht, um auch die Produktion von E-Autos abbilden zu können. Nachdem das Gehänge die Karosserie in die richtige Stellung befördert hat, bringt ein „menschlicher Treuzeuge“ das Federbein in die richtige Position. Die anschließende Verschraubung erfolgt dann vollautomatisiert.
Autos erhalten neuesten Software-Stand
Bevor die Fahrzeuge in die Finish-Linie einlaufen, hat Mercedes aber auch einige weniger offensichtliche Neuerungen auf Lager. „Bei digitalen Innovationen leisten wir am Standort Rastatt derzeit wichtige Pionierarbeit“, verkündet Zwick. Das erste Beispiel dafür geht mit dem Mercedes-Benz Operating System (MB.OS) einher, das mit den MMA-Modellen in die Serienproduktion gelangt. Die Fahrzeugsoftware werde fortan nicht mehr über verschiedene Hardware-Module, sondern über einen zentralen Server der Mercedes-Benz Intelligent Cloud (MIC) übertragen.
Damit verlässt jedes Auto das Werk auf dem neuesten Software-Stand. Grundlage für diese Neuerung beim Flashen der Fahrzeuge ist die Produktionsplattform MO360, die mittlerweile an rund 30 Standorten zum Einsatz kommt. Sie ist innerhalb des Entwicklungs-, Produktions- und Flottenbetriebsnetzwerks direkt mit der MIC verbunden und ermöglicht neben der flexiblen Produktion unterschiedlicher Antriebsarten auf einer Linie nun auch das automatische Installieren der Software-Pakete.
Digitaler Zwilling vereinfacht die Planung
Beim zweiten Beispiel positioniert sich das Werk Rastatt auch abseits der Montage als Vorreiter. So greift der Premiumhersteller im Bereich der Lackieranlage erstmals auf künstliche Intelligenz zurück, um Teilprozesse in den Decklackkabinen zu überwachen. Im Vergleich zur konventionellen, speicherprogrammierbaren Steuerung (SPS) konnte beim Aufbringen der Lack- und Schutzschichten enorm an Kosten und Zeit eingespart werden. Durch die KI-gesteuerte Verfahrenstechnik sei rund 20 Prozent weniger Energie für den Vorgang erforderlich, so der OEM. Auch dieser soll künftig auf weitere Standorte ausgerollt werden.
Zu guter Letzt stellt sich die Frage, wie der umfangreiche Umbau in lediglich zwölf Wochen gestemmt wurde. Die Antwort dürfte von einigen Greenfield- und Brownfield-Projekten der Konkurrenz bekannt sein – virtuelle Planung mit Hilfe eines digitalen Zwillings. Es ist das dritte Beispiel für die Rolle als Innovator und das Aushängeschild des sogenannten „Digital-First-Ansatzes“. Sämtliche Produktionsanlagen in der Montagehalle 4.0 wurden digital erfasst sowie im virtuellen Raum geplant, erprobt und angepasst.
So konnte die genaue Position von Robotern, Versorgungswegen oder Produktionslinien vorab simuliert werden, ohne die laufende Produktion zu unterbrechen. „Mercedes-Benz läutet mit der Integration von künstlicher Intelligenz, MB.OS und dem digitalen Zwilling auf Basis von Nvidia Omniverse in das MO360-Ökosystem eine neue Ära des Automobilbaus ein“, fasst Jörg Burzer, Produktionsvorstand von Mercedes-Benz, die wegweisenden Innovationen zusammen. Insbesondere dürfte es aber eine neue Ära für den Standort Rastatt sein.