Mercedes Marienfelde Smart Factory

In Marienfelde ersetzt das Tablet für den Werker am Band die Dokumentation von Komponenten mit Stift und Papier. (Bild: Mercedes-Benz)

Tradition schützt nicht vor Transformation. Noch vor zwei Jahren stand der älteste Produktionsstandort von Mercedes-Benz in Berlin-Marienfelde vor dem Aus. Dort gefertigte Verbrennermotoren und Komponenten fallen langsam aus der Zeit. Fortan schlägt in der Hauptstadt nun das Herz für die weltweite Digitalisierung von mehr als 30 Werken: In Marienfelde wurde offiziell der Mercedes-Benz Digital Factory Campus (MBDFC) eröffnet. Das 1902 gegründete Werk mit dicken Backsteinmauern symbolisiert wie kein anderes die Transformation der Industrie und die Zukunft, sagte Ola Källenius, Vorstandsvorsitzender der Mercedes-Benz Group, zur Eröffnung: „Die Außenmauern stabil, doch von innen heraus stellen wir uns völlig neu auf.“

Wie digitale Automobilproduktion schon heute funktioniert und wie sie sich weiterentwickelt, lässt sich hier mit einer Reihe modernster Pilotlinien und Testzellen, in denen digitale Zwillinge ihren Dienst tun, studieren. Auf dem Campus wird das digitale Ökosystem für die Produktion des Hauses namens MO360 weiterentwickelt, erprobt und weltweit ausgerollt. Das Besondere: Ehemalige Monteure werden am Campus zu Junior-Softwareentwicklern weitergebildet. Als „digitale Pioniere“, so der Jargon, werden sie die Transformation ihrer ehemaligen Arbeitsplätze vorantreiben.Sie wirken daran mit, dass Produktionsprozesse standardisiert, digitalisiert und getestet werden. Etwa durch neue Apps, mit denen Werker am Band wechselnde Komponenten richtig und automatisch dokumentiert einbauen – ohne Papier, Stempel und Sucharbeit. Ein Tablet genügt.

Trainings- und Qualifizierungszentrum für das hauseigene Produktionsbetriebssystems

So wurden bereits in kurzer Zeit insgesamt 70 Mitarbeiter, die früher in der Motoren- und Komponentenproduktion tätig waren, in neue, digitale Jobprofile eingearbeitet, berichtet Matthias Ziege, Leiter des MBDFC. Und so wird es beständig weitergehen. In einigen Jahren sollen hier hunderte Softwareentwickler beschäftigt sein, so Jörg Burzer, Mitglied des Vorstands der Mercedes-Benz Group, zuständig für Produktion und Supply Chain Management. Der MBDFC fungiere als „digitale Anlauffabrik im Anlagenbereich“. Ohne sie gehe im globalen Produktionsnetzwerk von Mercedes-Benz künftig nichts mehr, betont Burzer.

Nicht nur, weil im Trainings- und Qualifizierungszentrum Mitarbeiter in Sachen MO360 fit gemacht werden, sondern auch, weil der Automobilkonzern hier selbst innovative Schulungskonzepte entwickelt. Am Campus wurde unter anderem die bei Mercedes-Benz Operations implementierte digitale Lernplattform Learning Environment System (LES) aus der Taufe gehoben. Speziell auf Produktioner zugeschnittene, digitale Umschulungen sollen diese für die Transformation ertüchtigen. Darunter anwendungsbezogene, AR- und VR-gestützte Onlinetrainings für ganze Teams, die remote an Monitoren und Multitouchtischen (die eigens von Mercedes-Benz entwickelt wurden) gemeinsam zum Beispiel in das Thema Data Management auf dem Shopfloor eintauchen können. „Nebeneffekt ist, dass weniger Reisen nötig sind, was nachhaltiger ist“, sagt Marc-Oliver Füger, Sprecher für Industrie 4.0 und Digitalisierung.

Angesichts des Fachkräftemangels müssen Unternehmen das Heft der Qualifizierung selber in die Hand nehmen. Idealerweise so gründlich, wie das in Marienfelde geschieht, wo bald auch der mit Spannung erwartete High-Performance-Elektromotor Yasa gefertigt wird. Elektrifizierung und Digitalisierung der Automobilindustrie bringen nun mal große Veränderungen für alle Stellenprofile mit sich. Wohl dem, der seine Belegschaft darauf passgenau inhouse vorbereiten kann.

Mercedes-Benz Marienfelde
Die eigens von Mercedes-Benz entwickelten Multitouchtische unterstützen gemeinsame Teamtrainings. (Bild: Mercedes-Benz)

Wo der Digital Twin aus seinem Schatten tritt

Als Kompetenzzentrum für eine smarte IT-basierte Produktion werden hier künftige Softwareapplikationen und -konzepte für MO360 maßgeblich entwickelt, erprobt und validiert – und das in einer realen Produktionsumgebung. Im Rohbau- und Montagemanagement sowie in den Technologiezellen werden Produktionsprozesse nachgebildet sowie neue Features und Softwareupdates ausgetestet, bevor sie in reale Produktionslinien übergehen. Dabei werden virtuelle mit realen Absicherungsmethoden kombiniert. „Damit verkürzt sich die Entwicklungszeit und die Robustheit der Prozesse steigt“, erklärt Füger.

Allein die Stillstandszeiten bei der Umrüstung einer Produktionszelle können durch Digitale Zwillinge von üblicherweise bis zu acht Monaten auf nur zwei Wochen heruntergeschraubt werden, berichtet Füger. Inzwischen sei ein ungeheuer hoher virtueller Reifegrad erreichbar, was zudem Material einspare, weil kaum noch Ausschuss anfalle. Der war bisher bei wochenlangen, realen Testungen vor dem Produktionshochlauf unvermeidlich.

Källenius blickt jedenfalls zufrieden in die Hallen, in denen noch vor kurzem Dieselmotoren gefertigt wurden und sagt: „Der Wandel von einem Standort für konventionelle Antriebskomponenten hin zu einem Innovationshub für Software und Produktionsstandort für Elektromotoren ist enorm.“ Vorstandsmitglied Burzer sekundiert: „Mit dem Mercedes-Benz Digital Factory Campus haben wir an unserem ältesten Produktionsstandort einen Leuchtturm der Transformation geschaffen.“ Und der soll rund um den Globus dafür sorgen, dass der Stern auch weiterhin strahlt.

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