Mercedes-Benz Produktionsvorstand Jörg Burzer im Interview

„Die Innovationen müssen von denen kommen, die jeden Tag damit in den Werken arbeiten“, sagt Jörg Burzer. (Bild: Claus Dick)

Herr Burzer, unser letztes Gespräch ist ein gutes Jahr her. Was hat sich seither im Produktionsverbund von Mercedes-Benz getan?

Eine ganze Menge! Im Sommer letzten Jahres, das muss kurz nach unserem Interview gewesen sein, haben wir eine neue Produktionsordnung für die nächste Generation Elektrofahrzeuge bekanntgegeben. Später im Jahr dann auch die für unseren Powertrain-Produktionsverbund. Auf das Ergebnis sind wir als Organisation schon ein Stück weit stolz. Die Entscheidungen schaffen für unsere Standorte Klarheit und der volle Fokus liegt nun auf der Umsetzung. Außerdem haben wir einige wichtige Weichen für die Nachhaltigkeit an unseren Standorten gestellt, etwa Entscheidungen über den Aufbau von Windparks oder Photovoltaikanlagen getroffen. Und nicht zuletzt sind wir einen Schritt weiter bei der Digitalisierung unserer Werke, haben neben Siemens etwa Microsoft oder Nvidia als Partner gewinnen können. Das hat uns einen enormen Schub gegeben, die Transformation unserer Werke hin zur Elektromobilität zu gestalten. Sie sehen: langweilig ist uns nicht geworden (lacht).

Dann lassen Sie uns vorne schauen: Die Neuordnung Ihres Produktionsverbundes ist ein großer Wurf. Was erhoffen Sie sich von diesem Schritt?

Wir haben inzwischen schon einige Anläufe von E-Fahrzeugen hinter uns etwa den EQE in Bremen, den EQS in Sindelfingen oder den EQS SUV in Tuscaloosa. Wir haben diese in die Fertigung an den bestehenden Standorten voll flexibel integriert. Mit der Definition der Standorte für die Elektro-Programme der kommenden Jahre ab 2024 zünden wir die zweite Stufe unserer Transformation. Also fertigen wir künftig in Rastatt, Kecskemét und Peking die Fahrzeuge auf der MMA-Plattform (Mercedes Modular Architecture, Anm.d.Red.), unsere „Entry Luxury“-Modelle, wie wir es nennen. In Bremen und auch Kecskemét und Peking laufen die E-Fahrzeuge auf Basis unserer MB.EA (Mercedes-Benz Electric Architecture, Anm.d.Red.) vom Band und in Sindelfingen unsere künftigen Top-End-Modelle auf der AMG.EA-Plattform (AMG Electric Architecture, Anm.d.Red.). Uns war auch wichtig, dass wir weiterhin auf drei Kontinenten – hier in Europa, in China und in den USA – die neuen E-Modelle fertigen können. Mit dieser Neuausrichtung sind wir für die Anläufe in den kommenden Jahren gut aufgestellt.

Sie haben es bereits angesprochen, die Powertrainwerke sind später nachgezogen. Gibt es noch weiteren Anpassungsbedarf im Fertigungsverbund?

Wie ich bereits angedeutet habe, befinden wir uns gerade in der zweiten Stufe der Transformation hin zur Elektromobilität. In der dritten Stufe werden wir darüber sprechen, wie die Anläufe zum Ende der Dekade bzw. Anfang der nächsten Dekade gestaltet sein müssen. Dann wird sich unser Netzwerk sicherlich nochmals weiterentwickeln. Das Wichtigste ist: Wir haben einen klaren Plan und fokussieren uns auf die Umsetzung unserer Entscheidungen.

Es hat sich also viel getan bei Mercedes-Benz. Was sich im vergangenen Jahr hingegen nicht geändert hat, ist die Krise als Normalzustand. Wie haben Sie die Resilienz Ihrer weltweiten Produktionsnetzwerke trainiert?

Wir haben vor allem an unseren Werkzeugen gearbeitet. Das Wichtigste: Die Digitalisierung. Digitale Tools helfen uns auf der einen Seite, Transparenz in die Lieferkette zu bekommen. Auf der anderen Seite unterstützen sie uns, Entscheidungen zu treffen, etwa über die Fahrweisen in unserem Fertigungsverbund. Aber viel wichtiger ist noch etwas anderes…

Und das wäre?

Wir haben eine neue Entscheidungskultur etabliert. Wir treffen als Organisation viel schneller wichtige Entscheidungen im Vergleich zu früher. Das ist als Konsequenz aus den Krisen der vergangenen Jahre für mich sogar ganz zentral: Wir haben unsere Kultur verändert.

Eine weitere Maßnahme ist die zunehmende Lokalisierung in der Beschaffung, die Partnerschaft mit Rock Tech für den Bezug von Lithiumhydroxid ist ein aktuelles Beispiel. Eines, das auch in Bezug auf weitere Materialien Schule macht bei Mercedes?

An diesen Fragestellungen arbeiten in erster Linie unsere Kollegen aus der Beschaffung intensiv. Aber natürlich spielt die Frage nach dem Bezug von Rohstoffen und Materialien für uns als OEM eine wichtige Rolle. Für mich als Produktionsvorstand ist die relevantere Aufgabe auch, wie uns Technologie helfen kann, Materialien anders zu nutzen. Stichwort: Recycling. Wir haben gerade erst den Grundstein für ein Batterierecyclingwerk gelegt.

Das wäre tatsächlich meine nächste Frage gewesen. Wie sieht denn Ihr Fahrplan in Bezug auf das Recycling und Materialkreisläufe aus?

Der Fokus wird in den nächsten Jahren zunächst darauf liegen, die Prozesse auszuarbeiten. Das neue Werk ist aber kein Versuchslabor, sondern eine echte Pilotfabrik, in der wir sämtliche dieser Prozesse wirklich abbilden und nutzen können. Ich denke, innerhalb der nächsten zwei, drei Jahre sind die Abläufe ausgereift und dann können wir in die Skalierung gehen, um die Rückläufer, die in der zweiten Hälfte der Dekade kommen werden, ins Recycling bringen zu können. Wir haben ja im Grunde verschiedenste Möglichkeiten, Rückläufer zu verwenden. Die Naheliegendste ist die Nutzung als Energiespeicher, etwa für den erzeugten Strom aus Photovoltaikanlagen. Eine weitere Stufe ist das Re-Manufacturing und letztlich das Recycling.

Die Digitalisierung ist heute bereits mehrfach angeklungen. Die Plattform MO360 markiert für Mercedes-Benz die nächste Stufe auf dem Weg zur Smart Factory. Wo steht denn Ihr Ladebalken in Bezug auf die intelligente Fabrik?

Das ist das Schöne an innovativen Entwicklungen: Man weiß nie, wie der Ladebalken überhaupt aussieht, geschweige denn, wo man exakt steht. Ich denke, es ist mehr als offensichtlich, dass sämtliche Industrien endgültig in das Zeitalter der Digitalisierung eingestiegen sind. Bei uns weist die Factory 56 den Weg in die Fertigung der Zukunft. Viele Aspekte davon sind in anderen Werken bereits Realität. Aber was in Bezug auf die technische Entwicklung Gegenwart und was Zukunftsmusik ist, ändert sich extrem schnell. Daher ist es auch so schwer, einen Status Quo zu benennen. Aber lassen Sie mich es mal so sagen: Ich bin sehr zufrieden damit, wie weit wir seit der Einführung von MO360 gekommen sind. Gemeinsam mit unseren Partnern arbeiten wir an unterschiedlichen Facetten der Produktionsdigitalisierung. Mit Siemens arbeiten wir gemeinsam an den Schnittstellen zwischen unseren Anlagen und der Cloud. Außerdem ist das Unternehmen ein starker Partner in unserem Digital Factory Campus in Berlin. Microsoft hilft uns beispielsweise unsere Prozesse auf dem Shopfloor zu digitalisieren. Und mit Nvidia arbeiten wir an der Virtualisierung unserer Planungsprozesse über den Digital Twin.

Hilft Ihnen MO360 auch bei der Transparenz entlang der gesamten Supply Chain?

Da ist jetzt die Frage: Was heißt gesamt? Gehen wir runter bis zu den Tier-6- oder Tier-7-Zulieferern? Oder sogar bis zu den Rohmateriallieferanten? Gemeinsam mit den Tier-1-Lieferanten haben wir als Branche in den vergangenen zwei Jahren sehr viel gelernt, was die Transparenz in der Lieferkette betrifft. Die Herausforderung wird jetzt sein, das in die entsprechenden Tier-Stufen zu tragen. Das ist eine große Herausforderung, aber Initiativen wie Catena-X gehen da absolut in die richtige Richtung. Am Ende, davon bin ich überzeugt, wird eine höhere Transparenz der gesamten Branche helfen.

Das Meta- beziehungsweise Omniverse ist derzeit ja ein regelrechter Digitalisierungshype. Wie bewerten Sie die Technologie?

Das ist für mich eine der faszinierendsten Entwicklungen der letzten Jahre. Es versetzt uns in die Lage, mit bislang ungekannter Datenqualität Fabriken virtuell zu planen. Damit sparen wir uns auch teure Änderungsschleifen, die wirklich sehr viel Geld kosten.

Welche Rolle spielen eigentlich die einzelnen Standorte als Treiber digitaler Tools?

Die Entscheidende! Zentral sollen eigentlich nur die Werkzeuge entwickelt und zur Verfügung gestellt werden. Die Innovationen, die Ideen auf dieser Basis, die kommen aus den Werken selbst. Wichtig ist dabei natürlich, wie schnell wir diese Tools updaten können. Aktuell versionieren wir die entsprechenden Systeme vierzehntägig. Das bedeutet, dass eine Innovation, die vom Werker oder vom Meister am Band kommt, zwei Wochen später in der Applikation verfügbar ist. Da bin ich wieder bei einer Kultur der schnellen Entscheidung. Wenn die Teams auf dem Shopfloor sehen, dass Ideen tatsächlich umgesetzt werden und das auch noch sehr schnell, dann motiviert man die Mitarbeiter natürlich viel einfacher dazu, sich einzubringen. Ich finde, im Grunde müssen die Innovationen eigentlich von denen kommen, die jeden Tag damit in den Werken arbeiten. Da kann man nicht von außen kommen und eine Lösung aufzwingen, die an der Arbeitsrealität vorbeigeht.

Das könnte Teams auf dem Shopfloor aber auch schnell überfordern…

Deshalb ist die Nutzbarkeit der digitalen Werkzeuge, die User Experience, so wichtig. Das steht für uns an oberster Stelle. Wir merken anhand der Nutzungsdaten sehr schnell, wenn wir bei einem Update vielleicht falsch abgebogen sind und die Menschen wieder verlieren. Dann können wir schnell gegensteuern. Auch die Demokratisierung von Daten ist ganz entscheidend. Es gab in der Vergangenheit sicherlich Fälle, in denen Informationen nur partiell den Mitarbeitern zur Verfügung standen. Daran haben wir insbesondere in den vergangenen zwölf Monaten gearbeitet. Auf der anderen Seite investieren wir in vielfältige Qualifizierungsmaßnahmen. An unserem Digital Factory Campus in Berlin sowie unserem Powertrain Standort Untertürkheim schulen wir beispielsweise Beschäftigte aus dem Shopfloor zu Programmiererinnen und Programmieren um. Zudem entwickeln und erproben wir dort eine Vielzahl an Softwaretools. Wenn diese sich dann bewehren, werden sie ausgerollt in die Werke.

Aus welchem Gewerk stammen denn die meisten digitalen Innovationen?

Zu Beginn der Shopfloor-Digitalisierung war das sicherlich die Montage, ganz klar. Auch aus dem Powertrainbereich kam sehr viel. Momentan sehen wir mehr Innovationen aus dem Rohbau. Vor allem im Bereich Prävention und Fehlervermeidung in Verbindung mit künstlicher Intelligenz passiert dort derzeit sehr viel.

Zum Abschluss: Wenn wir uns in einem Jahr erneut zum Gespräch treffen sollten, was würden Sie uns dann gern berichten können?

Vielleicht können wir uns dann schon etwas detaillierter über die dritte Stufe unserer Transformation unterhalten. Auch das Thema Digitalisierung wird uns immer stärker begleiten und neue Möglichkeiten schaffen. Und wenn wir dann gemeinsam vielleicht auf dem Dach des eCampus hier in Untertürkheim stehen, dann würde ich Ihnen gern zeigen, wie groß so eine Photovoltaikanlage sein kann. Noch ist das Dach allerdings leer (lacht) – der Campus mitten im Bau.

Zur Person:

Mercedes-Benz Produktionsvorstand Jörg Burzer im Portrait

Jörg Burzer, Mercedes-Benz Group AG

1999 Projektleitung Vorentwicklung Pkw bei der Daimler-Chrysler AG

2002 Manager, Einkauf Powertrain/Materialmanagement

2004 Senior Manager, Global Powertrain

2007 Direktor, Einkauf Interieur E- und C-Klasse

2010 Direktor, Leiter Produktionssteuerung und Logistik, Tuscaloosa (USA)

2013 Direktor, Produkt und Produktionsstrategie & Lieferantenqualität, Peking

2016 Direktor, Vice President, Leiter Qualitätsmanagement Mercedes-Benz Cars

2019 Executive Vice President, Mitglied des Vorstands der Mercedes-Benz AG verantwortlich für das Ressort Produktion & Supply Chain Management

2021 Mitglied des Vorstands der Mercedes-Benz Group AG; Produktion und Supply Chain Management

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