Ein Rundgang durch die Factory 56 in Sindelfingen ist beeindruckend. Es ist sauber, unglaublich leise und die Werker am Band wirken entspannt. Hier drehen sich die Karossen leicht in Richtung Bandarbeiter – um diesen die Arbeit maximal zu erleichtern. Der Mittagssnack kommt mit einem lautlosen Lieferdienst an die jeweilige Arbeitsstation und es gibt blaue Lümmelsofas, um zwischen der Arbeit auch einmal ausruhen zu können.
Doch wer sich die Bänder im Vorzeigewerk der Schwaben einmal genauer anschaut, Gang hinauf und wieder herab schlendert, dem fällt auch auf, dass hier kaum ein Mercedes EQS gefertigt wird. Die Factory 56 ist variabel so auslegt, dass sie nahezu vollflexibel alles fertigen kann: Mercedes S-Klasse-Verbrenner, Maybach, S-Klasse-Hybrid, den gepanzerten S-Guard oder eben den elektrischen EQS. Doch gerade die Nachfrage nach dem einstigen Hoffnungsträger ist deutlich geringer, als man es erwartet hätte. Das wird auch die anstehende Modellpflege mit leichten optischen Retuschen kaum ändern. Der EQS sollte die elektrische S-Klasse werden und auch wenn hochrangige Entwickler immer wieder darauf verwiesen, dass dazu weder dessen rundliches Aerodesign, noch die Produktsubstanz ausreichen würde, wurde höchstrichterlich die Entscheidung in Untertürkheim getroffen: neben der S-Klasse und dem unantastbaren G-Modell sollte es im Mercedes-Imperium einen dritten Gott im Portfolio geben: den EQS.
Die Händler schlugen nicht nur in China Alarm und viele blickten schnell mit Sorge zum kleinen Bruder, dem Mercedes EQE. Auch hier gab es abseits der geringen Verbräuche mäßigen Applaus und insbesondere als die neue E-Klasse, besser und markiger denn je, auf den Markt rollte, schien die Rolle des Nebendarstellers EQE festzustehen. Auch er schafft es trotz großer hauseigener Lorbeeren und Stecker nicht in die erste Reihe. Immerhin: die SUV-Versionen beider Modelle, fahrlässig ohne eine markante Nomenklatur als EQS SUV und EQE SUV im prall gefüllten Portfolio, kommen beim Kunden an, wenngleich die Nachfrage größer sein könnte. Der Handel ist bei den Schwaben ein Thema, das sie angehen müssen. Mercedes richtet sich daher neu aus, will schlanker und schneller werden, um die Angriffe der nationalen wie internationalen Konkurrenz abzuwehren. Man produziert zu aufwendig und zu teuer. Die Probleme mit den USA scheinen überschaubar, denn das US-Werk Tuscaloosa läuft prächtig und auch die chinesischen Fertigungen sind weitgehend in der Spur. Da ist es allenfalls eine seismographische Störung, dass ein Großteil der deutschen Niederlassungen verkauft werden soll. Diese sind zu teuer und werfen zu wenig ab.
Die Nomenklatur wird ab Ende 2024 wieder in die Reihe gebracht, denn die neue Normalität wird allen Unkenrufen zum Trotz die Elektromobilität. Die E-Klasse der Generation W214 (sowie die Kombiversion des S214) ist der letzte Mercedes, der mit einem Verbrennungsmotor neu entwickelt wurde. Das erste Modell, das allein elektrisch unterwegs sein wird, ist der kommende CLA, der leicht verschoben wurde und nunmehr wohl erst Anfang 2025 zum Kunden rollt, während der CLA-Verbrenner noch einige Zeit weiterlaufen soll. Der neue Elektro-CLA soll mit technischen Anlehnungen an den EQXX je nach Akkupaket mehr als 750 Kilometer weit kommen und im Durchschnitt nur circa 12 Kilowattstunden pro 100 Kilometer verbrauchen. Dank 800-Volt-Technik wird deutlich schneller als aktuell nachgeladen.
Mercedes wird lean, green and digital
Beim Infotainment läutet der CLA ein neues Zeitalter ein, denn er wird das erste Fahrzeug mit dem neuen Bediensystem MB.OS sein. Die Zeiten, in denen die Innovationen zunächst in der S-Klasse debütierten und dann nach untern durchgereicht wurden, sind endgültig vorbei. Beim MB.OS sind entgegen früherer Tage die Hardware und Software voneinander entkoppelt. Damit können die Software-Entwickler schnell agieren, sich auf Trends einstellen und diese per drahtlose Updates in kurzer Zeit ins Auto bringen.
Die Einstiegsmodelle auf der ehemaligen Frontantriebsplattform werden elektrisch und es wird nur noch vier Modelle geben, wobei nicht allein Mercedes-eigene Elektromotoren, sondern auch solche von Zulieferern, verbaut werden. Das Leistungsspektrum dürfte von 150 kW bis rund 400 kW gehen. Groß sind die Erwartungen an die elektrische C-Klasse, die mit ihrem betont eigenständigen Design den EQE vergessen machen dürfte und auch der elektrische GLC ist einer der großen Hoffnungsträger im Portfolio. Beide Modelle werden als Versionen mit langem Radstand gerade auch für den Hauptmarkt in China interessant sein. Die elektrischen Reichweiten dank neuester Akkutechnik und 800-Volt-Bordnetz: bis zu 800 Kilometer trotz Akkus, die deutlich unter 100 kWh groß sind. 2026 oder 2027 soll ein kleiner Ableger der Mercedes G-Klasse folgen. Der elektrische Baby-G ist deutlich kleiner als sein Vorbild und wird anders als G-Klasse ausschließlich elektrisch angetrieben. Die Volumina dürften passen. Doch ob der Emporkömmling damit am rustikalen Thron des in Graz produzierten G-Modells, ab dem Modelljahr 2025 auch als Elektroversion zu bekommen, rüttelt und den Ikonenwert schwächt, bleibt abzuwarten.
Weltweit plant Mercedes bis zum Ende des Jahrzehnts mehr als 2.000 Charging Hubs in Nordamerika, Europa, China und anderen Kernmärkten aufzubauen. Insgesamt sollen diese mehr als 10.000 Ladepunkte umfassen, die je nach Marktbedarf flexibel erweitert werden können. Diese Charging-Hubs werden für Fahrzeuge aller Marken zugänglich sein, sodass ein breites Spektrum profitieren kann und sich das Invest lohnt. Doch es geht nicht um die Elektromobilität allein, denn mehr denn je steht das Thema Nachhaltigkeit im Fokus. Bis 2039 wollen die Stuttgarter CO2-neutral sein. „Der Wunsch nach individueller Mobilität wird immer größer. Unsere Aufgabe ist, dieses Bedürfnis auf nachhaltige Weise zu erfüllen. Mercedes-Benz hat einen klaren Plan, klimaneutral zu werden“, so Konzern-CEO Källenius, „bis 2030 wollen wir die Hälfte des Weges erreichen. Um beim Klimaschutz schneller voranzukommen, brauchen wir maximales Engagement und mehr Zusammenarbeit zwischen Politik, Wirtschaft und der gesamten Gesellschaft.“ Im Vergleich zu 2020 sollen die Emissionen der einzelnen Fahrzeuge bis Ende des Jahrzehnts halbiert werden.
Dabei ist der Umstieg auf Elektroautos nur ein Teil des Gesamtpakets. Grünstrom, Recycling und neue Batterietechnologien sollen das große Ziel ermöglichen. So ist geplant, bis zum Jahre 2030 über 70 Prozent des Energiebedarfs in der Produktion durch erneuerbare Energien zu decken. Dies soll durch den Ausbau von Solar- und Windenergie an eigenen Standorten und durch den Abschluss weiterer entsprechender Stromabnahmeverträge erreicht werden.
Neben dem Recycling kommt der Stahlverwendung eine besonders große Bedeutung zu. Bis 2025 will Mercedes zusammen mit H2 Green Steel in verschiedenen seiner Fahrzeuge 'grünen Stahl' einführen, der den CO2-Fußabdruck nennenswert reduziert. Mit einem geänderten Wirtschaftskreislauf soll der Anteil an Sekundäraluminium erhöht werden.
IT als Enabler für mehr Nachhaltigkeit
Ganz anders ist der Ansatz im Bereich IT, denn auch hier gibt es große Potenziale nachhaltiger zu werden. Durch eine enge Zusammenarbeit mit Microsoft will Mercedes seine Produktion effizienter und damit deutlich nachhaltiger werden lassen. Mit einer neuen Datenplattform vernetzen die Schwaben ihre rund 30 internationalen Pkw-Produktionen per Microsoft Cloud und wollen digitaler denn je Fertigungen und Lieferkettenprozesse verbessern. Die MO360-Plattform ermöglicht es den einzelnen Produktionsteams dabei, mögliche Engpässe in der Lieferkette frühzeitig zu erkennen und schneller zu reagieren. Die einheitliche Datenplattform basiert auf Microsoft Azure, die erstmals auch ermöglicht, künstliche Intelligenz und Data Analytics global einzusetzen.
Nach dem Start in Europa sind nunmehr die Fertigungsstätten in den USA und China dran. Vor wenigen Wochen hat Mercedes seinen neuen Sprinter präsentiert. Doch dieser ist als Elektroversion nur eine Überbrückungsmusik bis 2025 die neue Generation auf der neuen Van.ea-Plattform folgt, die auch V-Klasse und Vito eine Heimat bietet. Neu ist dabei jedoch, dass der Sprinter nicht allein aus Düsseldorf und Marienfelde, sondern auch in Charleston, im US-Bundesstaat South Carolina, gefertigt wird. Zwar wird die alte Sprinter-Plattform für die Modelle mit Verbrennungsmotor noch einige Jahre weitergebaut, doch die echten Zukunftsmodelle sind gemäß offiziell ausgerufener Sternen-Strategie dann vollelektrisch auf der neuen Plattform Van.ea unterwegs. Der große Unterschied zu den aktuellen Modellen: Van.EA ist rein elektrisch und wird nicht nur die großen Sprinter-Modelle beheimaten, sondern auch die sogenannten Midsize-Vans. Dadurch sollen Skaleneffekte besser genutzt und die Komplexität durch fehlende Verbrenneraltlasten nennenswert reduziert werden, was die Fertigungskosten senkt und den geringeren Ertrag durch die großen Akkupakete ausgleichen soll.