Audi Edge Cloud in den Böllinger Höfen

Audis neue Produktionscloud EC4P soll helfen, die Fertigung inklusive Robotern und FTS zentral zu steuern. (Bild: Audi)

Für Jörg Spindler, Leiter Manufacturing Engineering bei Audi ist das Edge Cloud 4 Production (EC4P)-System nichts weniger als eine Revolution. Es gebe schlichtweg kein vergleichbares Zentralrechnersystem für die Produktion in irgendeiner Fabrik, sagt er. „Selbst wenn Tesla einen zentralen Computer für seine Autos hat, werden die Fabrikoperationen immer noch von einzelnen Rechnern gesteuert. Aber wir sind zuversichtlich, dass wir es schaffen können", prognostiziert er.

Was will Audi mit Edge Cloud 4 Production erreichen?

Das System wurde bis vor kurzem im Audi Production Lab für bestimmte Prozesse der Böllinger Höfe getestet, einem Teil des Audi-Werks in Neckarsulm, wo der E-tron GT Quattro, RS E-tron GT und R8 in Kleinserie montiert wird. „Die in den Böllinger Höfen gefertigten Kleinserien eignen sich besonders, um die Steuerung über die EC4P zu testen und für die Großserie zu erproben“, sagt Philip Saalmann, Co-Leiter des 20-köpfigen EC4P-Projektteams. Die Fertigungs-Cloud verwendet lokale Server - daher der Name Edge Cloud -, die als kleine Rechenzentren dienen und in der Lage sind, Informationen und Leistung mit geringer Latenz über Geräte zu verarbeiten und zu verteilen.

Damit könnten letztlich viele einzelne Computer und Hardware in den Produktionslinien sowie für einzelne Roboter und Geräte eliminiert werden. Auch die Bereitstellung von Software und neuen Tools könnte sich so beschleunigen – sei es für die Roboterprogrammierung, Fahrerlose Transportsysteme (FTS), Produktionsplanung, vorausschauende Wartung oder Energieeinsparung. Derzeit erfordert sogar ein Windows-Upgrade eine individuelle Installation für jedes Gerät, die zwischen den Produktionsschichten abgestimmt werden muss.

Audis Produktions-Cloud geht in Serie

Audi sieht auch ein größeres Potenzial zur Erstellung und Verwendung von digitalen Zwillingen, mit denen Daten schnell und sicher über zentrale Systeme verschoben werden können und dennoch steuerbar und sichtbar bleiben. Da es sich um sehr umfangreiche Operationen und Informationen handelt, würde das System die Informationen und Software ergänzen, die über die Volkswagen Industrial Cloud zur Verfügung stehen.

Seit kurzem befindet sich die EC4P im Serieneinsatz in den Böllinger Höfen, wo an zwei Takten der Produktion nun ein lokales Servercluster die Werkerführung steuert. An der Einführung beteiligt waren neben Audis Produktions- und zentralen IT-Teams Technologie-Lieferanten wie Cisco, VMware und Hardware-Hersteller wie Siemens, Codesys und Phoenix. Bis Ende des Jahres sollen die Werkerführungen aller 36 Takte auf die serverbasierte Lösung umgestellt sein, so der Plan der Ingolstädter.

Die neue Serverlösung in Neckarsulm soll es nun ermöglichen, Auslastungsspitzen über die Gesamtzahl virtualisierter Clients für eine schnellere Anwendungsbereitstellung auszugleichen und – so Audis Hoffnung – Ressourcen effizienter zu nutzen. Einsparungen für die Produktion könnten so beispielsweise bei Software-Rollouts oder Betriebssystemwechseln eingefahren werden.

Was bedeutet Edge Computing?

Unter Edge Computing versteht man eine verteilte Rechenarchitektur, die die Verarbeitung von Daten näher an der Quelle der Daten verschiebt.  Ein entsprechendes System besteht aus einem Netzwerk von Edge-Geräten, die über eine lokale Netzwerkverbindung miteinander verbunden sind. Diese Geräte können Sensoren, Kameras oder andere Geräte enthalten, die Daten sammeln. Die angehäuften Daten werden dann an einem Edge-Rechner verarbeitet, der sich in der Nähe der Datenquelle befindet. Dies ermöglicht eine schnellere und zuverlässigere Verarbeitung der Daten als bei der Verarbeitung in der Cloud. Neben verarbeitenden Industrien wie der Autobranche versprechen sich Wirtschaftszweige wie das Gesundheitswesen oder der Einzelhandel Vorteile wie gesteigerte Reaktionszeiten, mehr (Ausfall-)Sicherheit und weniger Kosten aufgrund geringeren Datenverkehrs.

Wie profitieren Roboter und VR-Tools von der Cloud?

Spindler verweist zudem auf wichtige Sicherheitsaspekte, zum Beispiel bei der Steuerung von Robotern und FTS. Cisco muss eine Latenzzeit von weniger als acht Millisekunden zwischen den lokalen Servern vor Ort und den angeschlossenen Geräten garantieren, um sicherzustellen, dass Roboter bei Menschkontakt schnell genug anhalten. „Der TÜV, der die Verwendung in Deutschland genehmigen muss, hat so etwas noch nie zuvor zugelassen. Wir mussten gemeinsam mit der Prüforganisation ein spezielles Konzept ausarbeiten", sagt Spindler.

Systeme wie EC4P würden auf der Virtualisierung von Fertigungsprozessen aufbauen und diese weiter skalieren. Audi hat bereits virtuelle Tools in seiner Planung und Schulung implementiert. Zum Beispiel wird ein Powerwall-System verwendet, um Fahrzeuge und Karosserien auf großen Bildschirmen zu projizieren, um die Auswirkungen von Komponenten- und Montagetoleranzen unterschiedlicher Designs zu testen und Fertigungsteams dabei zu unterstützen, bereits in einem frühen Stadium Einfluss auf die Konstruktionspläne zu nehmen.

In Mexiko geht Audi neue Wege der Fabrikplanung

Um die Produktionsplanung zu verbessern, hat der Ingolstädter OEM hat auch seine Produktionsstätten weltweit gescannt und digitalisiert. Dieser Ansatz spielte während der Pandemie eine wichtige Rolle, als Fertigungstechniker nicht immer zu verschiedenen Standorten reisen konnten. Bei der Q5-Produktion im mexikanischen Werk San Jose Chiapa zum Beispiel unterstützte das zentrale Fertigungstechnik-Team lokale Teams mit Hilfe von Virtual-Reality-Tools bei der Linienplanung, den Taktzeiten der Arbeitsstationen, dem Arbeitsfluss der Mitarbeiter, der Ergonomie sowie der Positionierung von Gestellen und Regalen.

Ein audi-mitarbeiter scant die Produktionhalle in Neckarsulm
Um die Produktionsplanung zu optimieren, führt Audi 3D-Scans von Produktionshallen und kompletten Gebäude durch. (Bild: Audi)

Das System ist vergleichsweise interaktiv und realitätsnah: Die Benutzer bewegen sich nicht einfach nur als Avatare durch Computerbilder einer Fabrik; stattdessen tragen sie die VR-Ausrüstung und gehen durch die Montagelinie in voller Größe und Dimension. „Wir können die Ergebnisse in Echtzeit aufzeichnen, zum Beispiel die Zeit definieren, die benötigt wird, um von einer Station zur anderen zu gelangen, ob sich die Menschen gegenseitig im Weg stehen und wie wir die Gehwege so kurz wie möglich halten können", sagt Spindler.

„Wir haben das Design und den Aufbau der Montage für Mexiko in einer 'Metawelt' getestet, ein Prozess, der jetzt auch für die Planung des Facelifts des Q3 verwendet wird,“ sagt er. „Wir haben im Grunde den gesamten Fertigungsprozess abgebildet, ohne reale Fahrzeuge zu benötigen."

Elektroauto-Fertigung erfordert Umdenken bei Audi

Virtuelle Planungs- und Steuersysteme werden auch eine Rolle spielen, wenn Audi die Produktion von Elektrofahrzeugen und Batterien erhöht, zum Beispiel bei der Organisation verschiedener Varianten und Antriebssysteme auf derselben Linie. Die Volkswagen-Marke hat eine ihrer Montagelinien in Ingolstadt auf die Produktion des Q6 E-tron umgestellt, der anfangs neben der Verbrennervarianten des A4 und A5 gebaut wird. Während ältere Werke wie Ingolstadt und Neckarsulm umfangreiche Upgrades benötigen, um Elektrofahrzeuge und ihre schwereren Batterien zu handhaben, erfordern neuere Werke wie die in Ungarn und Mexiko weniger Umgestaltungen hinsichtlich Platz und Gewicht – dennoch könnten ihre einzelnen Montagelinien die Planung unterschiedlicher Antriebssequenzen komplexer machen.

Für Spindler werden virtuelle Planung und datengesteuerte Systeme bei der Gestaltung der richtigen Fertigungssequenzen helfen. „Die Aufgabe besteht darin, intelligente Systeme mit digitaler Unterstützung zu entwickeln, um die Streuung der Taktzeiten zwischen Elektro- und Verbrennungsfahrzeugen so gering wie möglich zu halten", erklärt der Audianer. Kurze Taktzeiten sind in der Batteriepack- und Modulmontage noch wichtiger. Mit Taktzeiten von nur 2,8 Sekunden sind Batteriepacks eher mit schnelllebigen Konsumgütern vergleichbar als mit Pkw. „Es ist eher wie eine Schokoladenfabrik oder wie bei Proctor & Gamble, wo alle zwei Sekunden ein Pampers-Produkt von der Linie kommt", sagt er.

„Die Geschwindigkeit erfordert eine völlig neue Reihe von Robotern und In-Line-Systemen." Beispielsweise kommen bei der Fertigung von Batteriepacks- und -modulen an vielen Stellen Laser-Schweiß- und -Reinigungssysteme zum Einsatz. Auch hier werden virtuelle Planungs- und Steuersysteme wichtig sein, insbesondere bei der Überwachung komplexer Prozessdaten.

Warum es Upskilling der Audi-Mitarbeiter braucht

Die Entwicklung und Implementierung dieser neuen Systeme und Fähigkeiten ist ein wesentlicher Bestandteil von Spindlers Strategie, und er möchte sicherstellen, dass die Teams Möglichkeiten zur Umschulung und Weiterbildung erhalten, sei es mit virtuellen Tools oder vor Ort in den Werken.

„Wir arbeiten als Team daran, Ressourcen freizusetzen, um neue Themen wie die Batterie- und Modulproduktion zu managen. Es ist eine unserer wichtigsten Aufgaben, Teams neu auszurichten und ihre Fähigkeiten zu transformieren, um sie auf neue Technologien oder Formen der Zusammenarbeit vorzubereiten, die früher undenkbar waren", sagt er. „Covid zwang uns in die virtuelle Welt und jetzt nutzen wir das auch für Training und Zusammenarbeit physisch vor Ort."

 

Der Artikel erschien in einer älteren Version zuerst bei automotive manufacturing solutions.

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