Analyse: Die Verwundbarkeiten der Vernetzung

Amazons AWS-Ausfall offenbart die digitale Verwundbarkeit der Automobilproduktion

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Cloud-Abhängigkeit schafft einzelne Schwachstellen in der Automobilproduktion

Ein 15-stündiger Ausfall der Amazon-Webdienste (AWS) hat weltweit Transaktionen im Milliardenumfang beeinträchtigt. Da zahlreiche Automobilhersteller ihre Produktionssysteme auf derselben Infrastruktur betreiben, wirft das Ereignis dringende Fragen nach der digitalen Widerstandsfähigkeit der Fertigung auf.

In den frühen Morgenstunden des 20. Oktober 2025 brachte eine technische Anomalie im Amazon Web Services-Datenzentrum in Nord-Virginia einen Großteil der digitalen Welt zum Stillstand. Für 15 Stunden waren  zahlreiche Dienste von Snapchat bis hin zu Finanzhandelsplattformen nicht verfügbar. Was als DNS-Auflösungsfehler in DynamoDB begann, entwickelte sich zu einer eindringlichen Erinnerung an die Fragilität moderner Infrastrukturen. Bis AWS um 15 Uhr Eastern Time die Wiederherstellung aller Dienste erklärte, hatte die Störung laut Analysten hunderte Milliarden Dollar an wirtschaftlicher Aktivität betroffen. Die Automobilfertigung, die in den vergangenen fünf Jahren in hohem Tempo Produktionssysteme in die Cloud verlagert hat, sieht sich nun mit unbequemen Fragen konfrontiert. Während in den Schlagzeilen vor allem Endkundenanwendungen im Mittelpunkt standen, legte der Vorfall eine weitaus grundlegendere Verwundbarkeit der digitalen Transformation offen: Was geschieht, wenn die Cloud ausfällt – und damit die Fabrik stillsteht?

Die versteckte Abhängigkeit in der vernetzten Fertigung

Die Realität ist komplexer, als es auf den ersten Blick scheint. Volkswagens digitale Produktionsplattform, aufgebaut auf AWS und inzwischen über 43 Werke auf drei Kontinenten hinweg vernetzt, steht exemplarisch für das neue, hochverknüpfte Produktionsökosystem der Automobilindustrie. Auf der Plattform laufen mehr als 1.200 KI-gestützte Anwendungen – sie reichen von bildbasierten Echtzeitprüfungen in der Qualitätssicherung bis hin zur Energieoptimierung in der Fertigung. Das maschinelle Lernen wird dabei über AWS-Dienste wie Amazon SageMaker ausgeführt. Die DPP verbindet Auftragsmanagement, Produktion und Logistik und stellt so einen durchgängigen Datenfluss über die gesamte Prozesskette sicher. Sie bildet die technologische Grundlage für den Einsatz von Künstlicher Intelligenz und hochmodernen IT-Systemen in Volkswagens weltweiten Produktionsnetzwerken.

Das ist die neue Realität der Automobilproduktion. Fertigung findet längst nicht mehr ausschließlich an physischen Montagelinien statt, sondern in weit verzweigten digitalen Ökosystemen, in denen Cloud-Infrastrukturen als zentrales Nervensystem agieren.  Auch BMW hat Daten aus seinen Geschäftsbereichen und operativen Einheiten in über 100 Ländern in die AWS-Cloud migriert – darunter zentrale IT-Systeme und Datenbanken für Produktion, Instandhaltung und Vertrieb. Der Hersteller nutzt AWS, um Millionen von Kilometern an Echtzeit-Fahrdaten zu verarbeiten und zu speichern, die in die Entwicklung seiner fortschrittlichen Fahrerassistenzsysteme einfließen. Mithilfe von Amazon SageMaker werden in der Cloud Machine-Learning-Modelle erstellt, trainiert und ausgerollt, die die Grundlage für diese Systeme bilden.

Auch Hersteller, die auf andere Cloud-Anbieter setzen, stehen vor denselben Abhängigkeitsfragen. Mercedes-Benz betreibt sein digitales Produktionsökosystem MO360 auf der Microsoft-Azure-Plattform und vernetzt damit rund 30 Pkw-Werke weltweit. Im Werk Berlin-Marienfelde passen intelligente Schraubsysteme ihre Drehmomentparameter automatisch anhand von Echtzeit-Positionsdaten an – die Ergebnisse werden zur Rückverfolgbarkeit in die Cloud hochgeladen. Was in Deutschland gelernt wird, steht Sekunden später auch den Kollegen in den USA zur Verfügung. Doch was in den USA ausfällt, legt im Zweifel auch Deutschland und andere Standorte lahm. Im Kern zeigt sich: Entscheidend ist weniger die Wahl des Cloud-Anbieters als die zugrunde liegende Systemarchitektur.

Wenn Infrastruktur unsichtbar wird - bis sie es nicht mehr ist

Beim jüngsten AWS-Vorfall am 20. Oktober kam es zwar nicht zu unmittelbaren und großflächigen Produktionsausfällen in der Automobilindustrie – doch diese scheinbare Ruhe sollte nicht als Entwarnung verstanden werden. Moderne Fertigungssysteme sind mit mehreren Redundanzebenen und lokaler Rechenleistung ausgestattet, um vollständige Stillstände bei Cloud-Störungen zu vermeiden. Viele kritische Echtzeitprozesse laufen heute ohnehin auf Edge-Computing-Infrastrukturen innerhalb der Werke. Dennoch verdeckt das Ausbleiben spektakulärer Produktionsstopps eine weitaus subtilere Verwundbarkeit.

Der Ausfall ereignete sich überwiegend während der Nachtstunden in Nordamerika und am frühen Morgen in Europa – ein Glücksfall, wie sich zeigt. Wäre er während der Spitzenzeiten der Produktion eingetreten oder hätte sich über mehr als 15 Stunden bis in eine zweite Schicht verlängert, wäre die Lage wohl eine andere gewesen. Hinzu kommt: Zahlreiche cloudbasierte Systeme versagen nicht abrupt, sondern „sanft“. Die Produktion läuft weiter, jedoch ohne die Datenströme, die für Qualitätskontrolle, vorausschauende Wartung oder eine reibungslose Lieferkettenkoordination entscheidend sind. Die tatsächlichen Kosten eines solchen „degradierten Betriebs“ werden oft erst Tage oder Wochen später sichtbar.

Die finanziellen Folgen des Ausfalls dürften sich leicht auf Hunderte Milliarden Dollar belaufen. Ursache sind Produktivitätsverluste von Millionen Beschäftigten, die ihrer Arbeit nicht nachgehen konnten, sowie unterbrochene oder verzögerte Geschäftsprozesse – von Fluggesellschaften bis hin zu Fertigungsbetrieben.

Mehdi Daoudi, Geschäftsführer, Catchpoint

Mehdi Daoudi, CEO des Internet-Performance-Monitoring-Unternehmens Catchpoint, schätzt die finanziellen Folgen branchenübergreifend als immens ein. „Der Vorfall verdeutlicht die Komplexität und Fragilität des Internets – und wie stark mittlerweile jeder Aspekt unserer Arbeit von seiner Funktionsfähigkeit abhängt“, so Daoudi. „Die finanziellen Auswirkungen dieses Ausfalls werden sich leicht auf Hunderte Milliarden Dollar belaufen – durch Produktivitätsverluste von Millionen Beschäftigten, die ihrer Arbeit nicht nachgehen konnten, sowie durch unterbrochene oder verzögerte Geschäftsprozesse – von Fluggesellschaften bis zu Fabriken.“ Für die Automobilindustrie lässt sich das Ausmaß zwar schwerer beziffern, doch ihre Abhängigkeit ist keineswegs geringer.

Die Architektur eines einzigen Ausfallpunkts

Um zu verstehen, warum das Ereignis so bedeutsam ist, lohnt sich ein Blick auf die Struktur der Cloud-Abhängigkeiten in der Automobilindustrie. Die AWS-Region US-EAST-1 in Nord-Virginia, in der der Ausfall seinen Ursprung hatte, ist Amazons älteste und größte Cloud-Instanz. Branchenbeobachter schätzen, dass sie 35 bis 40 Prozent des weltweiten AWS-Verkehrs abwickelt. Viele Unternehmen haben ihre Anwendungen ursprünglich dort aufgesetzt – und nie migriert. Das Ergebnis ist eine enorme Konzentration von Workloads in einer einzigen geografischen Region.

Dieser Konzentrationseffekt wirkt sich auf das gesamte Fertigungsökosystem aus. Wenn Volkswagen, BMW oder Mercedes-Benz Produktionssysteme auf AWS betreiben und Dienste wie EC2 für Rechenleistung, DynamoDB für Datenbanken, Lambda für serverlose Funktionen oder S3 für Datenspeicherung nutzen, entsteht eine umfassende Abhängigkeit von einem einzigen Anbieter. AWS bewirbt diese enge Integration als Vorteil – mit nahtlos ineinandergreifenden Services, integrierter Sicherheit, vereinfachtem Management und optimierter Performance. Doch dieselbe Integration schafft auch gemeinsame Fehlerdomänen: Fällt ein zentraler AWS-Dienst aus, betrifft das gleichzeitig alles, was darauf aufbaut.

Im jüngsten Fall war ein Problem mit der DNS-Auflösung der Auslöser der Kaskade – betroffen war unter anderem DynamoDB, Amazons Datenbankdienst, über den viele Unternehmen Kundendaten und andere geschäftskritische Informationen speichern. Zwar waren die Daten selbst sicher, doch stundenlang konnte niemand darauf zugreifen. Anwendungen verloren vorübergehend die Verbindung zu ihren eigenen Daten. Mike Chapple, IT-Professor und Fakultätsdirektor an der University of Notre Dame, verglich die Situation treffend: „Es war, als hätte ein großer Teil des Internets vorübergehend sein Gedächtnis verloren.“

Automotive Production Cloud Dependency

Automotive Production & Cloud Dependency

Analysis of the 20 October 2025 AWS Outage

The Production Risks of Widespread Interconnectivity

15h
AWS Outage Duration
43
VW Plants on AWS
100+
BMW Countries on AWS

Automotive Cloud Dependencies

Volkswagen

Digital Production Platform on AWS connects 43 plants with 1,200+ AI applications for quality control & optimisation.

BMW

Core IT systems, manufacturing databases, and maintenance operations from 100+ countries migrated to AWS infrastructure.

Real-Time Manufacturing

Smart tightening tools at Mercedes plants automatically adjust torque using cloud data for global process synchronisation.

Systemic Risk

When OEMs & suppliers use same cloud, single outage affects entire automotive ecosystem simultaneously.

Core Vulnerability: Concentration Risk

Heavy reliance on single cloud providers creates a single point of failure for automotive production systems.

Path Forward

Multi-Cloud Strategy

Distribute workloads across AWS, Azure & Google Cloud to diversify risk and increase resilience.

Hybrid Approach

Keep critical production operations on-premise while using cloud for analytics and development.

EU Digital Sovereignty

European push for data localisation may accelerate development of regional cloud alternatives.

Cost of Resilience

Trade-off between cloud efficiency and maintaining operational independence from single providers.

Lektionen aus den Abhängigkeiten anderer Branchen

Die finanziellen Auswirkungen erstreckten sich weit über Technologieunternehmen hinaus. Bankdienstleistungen gingen offline. United Airlines und Delta erlebten Störungen in ihren Buchungssystemen. E-Commerce-Operationen kamen zum Erliegen. Canvas, die von Universitäten weltweit genutzte Online-Lehrplattform, wurde unzugänglich, was Millionen von Studenten betraf. Sogar Amazons eigene interne Systeme litten, da Lagerarbeiter während ihrer Schichten keinen Zugriff auf wichtige Werkzeuge hatten.

Diese Störungen in angrenzenden Branchen sind eine deutliche Warnung für die Autobranche. So wie der Finanzsektor auf den Echtzeitzugriff auf Daten für Transaktionen angewiesen ist, hängt die Fahrzeugfertigung von stabilen Datenflüssen für Just-in-Time-Koordination, Qualitätssicherung und Lieferkettensteuerung ab. Der entscheidende Unterschied: Finanztransaktionen lassen sich nachträglich nacharbeiten – verlorene Produktionszeit ist unwiederbringlich verloren.

Bereits der CrowdStrike-Vorfall im Juli 2024, der Fortune-500-Unternehmen Schäden von rund 5,4 Milliarden US-Dollar (4,4 Milliarden Pfund) verursachte, zeigte, wie Softwarefehler in einem Bereich ganze Industrien in Mitleidenschaft ziehen können. Auch die Automobilbranche war damals betroffen: So musste Mercedes-Benz zeitweise die Produktion an mehreren Standorten unterbrechen – ein Umstand, der allerdings weniger Schlagzeilen machte als Flugausfälle oder der Ausfall von Krankenhausnetzwerken.

[Das von AWS betriebene digitale Produktionssystem] ist das digitale Nervensystem unserer Fabriken

Hauke Stars, Vorstandsmitglied für IT, Volkswagen

Wie lässt sich eine Cloud widerstandsfähig gestalten? 

Cloud-Anbieter bewerben ihre Dienste mit Schlagworten wie Resilienz, Redundanz und geografischer Verteilung. AWS betreibt weltweit mehrere Regionen, die jeweils aus mehreren sogenannten Availability Zones bestehen und Ausfallsicherheit gewährleisten sollen. In der Theorie sollten korrekt aufgebaute Anwendungen regionale Störungen überstehen, indem sie automatisch auf andere Regionen ausweichen.

In der Praxis führen die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen und die technische Komplexität echter verteilter Architekturen dazu, dass viele Unternehmen faktisch aus einer einzigen Region heraus operieren. Multi-Region-Architekturen erfordern redundante Datenspeicherung, zusätzliche Netzwerkkosten und hochentwickelte Orchestrierungssysteme. Für Fertigungsanwendungen, die geringe Latenzzeiten und hohe Datenkonsistenz benötigen, bringt eine regionale Verteilung technische Herausforderungen mit sich, die viele Organisationen bewusst vermeiden.

Hinzu kommt, dass bestimmte AWS-Dienste selbst über zentralisierte Steuerungsebenen betrieben werden. Das DNS-Problem, das den Ausfall im Oktober auslöste, wirkte sich auch auf andere Regionen außerhalb von US-EAST-1 aus, da globale AWS-Endpunkte auf die Infrastruktur dieser Region angewiesen sind. Selbst Unternehmen mit Multi-Region-Architekturen waren betroffen.

Volkswagens IT-Chefin Hauke Stars hat die Digital Production Platform einmal als „das digitale Nervensystem unserer Fabriken“ bezeichnet. Doch auch ein Nervensystem kann gelähmt werden. Wenn dieses Nervensystem auf externe Infrastruktur angewiesen ist, hängt die Resilienz des Unternehmens letztlich von der Widerstandsfähigkeit – oder der Schwäche – seines Dienstleisters ab.

Das Konzentrationsrisiko in der Automobildigitalisierung

Die Automobilindustrie hat die Cloud-Infrastruktur mit bemerkenswerter Einheitlichkeit übernommen. Einer Statista-Umfrage aus dem Jahr 2024 zufolge betreiben 76 Prozent der weltweit befragten Unternehmen Anwendungen auf AWS, während 48 Prozent der Entwickler dessen Dienste nutzen. In der Automobilbranche selbst haben sich nahezu alle großen Hersteller – darunter Mercedes-Benz, BMW, Volkswagen, Audi, Toyota und Volvo – ebenso wie zahlreiche Tier-1-Zulieferer in erheblichem Maße auf Cloud-Infrastrukturen festgelegt, ob auf AWS, Azure oder Google Cloud. Diese Konzentration birgt ein systemisches Risiko: Wenn mehrere OEMs und Zulieferer auf derselben Cloud-Plattform aufbauen, wirken sich Störungen dieser Plattform gleichzeitig auf das gesamte Ökosystem aus.

Die entstehenden Abhängigkeiten sind schwer zu durchschauen und nahezu unmöglich vollständig zu beseitigen. Fällt etwa das Qualitätssicherungssystem eines Tier-1-Zulieferers während einer Cloud-Störung aus, betrifft das gleich mehrere OEMs. Wenn ein OEM aufgrund eines Cloud-Ausfalls den Zugriff auf sein Produktionsplanungssystem verliert, zieht das unmittelbare Auswirkungen auf die gesamte Lieferkette nach sich.

Mit dem Wandel hin zum softwaredefinierten Fahrzeug verschärfen sich diese Abhängigkeiten weiter. Moderne Fahrzeuge enthalten heute über 100 Millionen Codezeilen. Entwicklung, Test und Rollout der Fahrzeugsoftware finden zunehmend in Cloud-Umgebungen statt. BMW etwa nutzt Amazon SageMaker, um Machine-Learning-Modelle in der Cloud zu entwickeln, zu trainieren und bereitzustellen – unter anderem für fortschrittliche Fahrerassistenzsysteme. Damit hängen die Fähigkeiten des Fahrzeugs selbst in gewisser Weise von der Verfügbarkeit der Cloud-Infrastruktur während der Entwicklungsphase ab.

[Der AWS-Ausfall] zeigt, wie fragil unsere Infrastruktur ist ... Wenn ein Rechenzentrum ausfällt, hat das eine Kettenreaktion zur Folge

David Kennedy, Cybersicherheitsexperte und Gründer, TrustedSec

Was das Schweigen uns sagt

Dass über Produktionsstörungen im Zusammenhang mit dem Ausfall vom 20. Oktober nur wenig berichtet wurde, könnte selbst ein Hinweis auf ein tieferliegendes Problem sein. Die Automobilindustrie ist inzwischen so stark von Cloud-Infrastrukturen abhängig, dass derartige Ausfälle längst als Routineereignisse gelten – als Situationen, die intern gemanagt, aber nicht öffentlich gemacht werden. Hersteller haben gezielt in Redundanz- und Failover-Systeme investiert, um genau das zu vermeiden: den Ausfall externer Abhängigkeiten einräumen zu müssen. Doch diese Normalisierung von Infrastrukturanfälligkeit hat ihren Preis. Jeder Vorfall bindet Fachkräfte, die den Betrieb im Degradationsmodus aufrechterhalten müssen.

Jede Phase eingeschränkter Datentransparenz in der Produktion verzögert die Fehlererkennung. Jeder Moment, in dem die Verbindung zu Lieferketten-Systemen abreißt, bedeutet Arbeiten mit unvollständigen Informationen. David Jinks, Head of Consumer Research bei ParcelHero, wies darauf hin, dass ein AWS-Ausfall Unternehmen über Tage beeinträchtigen könne, sollte er einem ähnlichen Muster wie der CrowdStrike-Vorfall folgen. Das globale E-Commerce-Ökosystem wurde erneut daran erinnert, wie fragil digitale Abläufe tatsächlich sind – in einer Welt, in der sich so viele Unternehmen auf nur wenige zentrale Dienstleister stützen.

Der Weg nach vorn bleibt unklar

Die Automobilindustrie steht vor einem paradoxen Dilemma. Die digitale Transformation hat enorme Fortschritte in Effizienz, Qualitätssicherung und Lieferkettenkoordination ermöglicht – und zugleich neue Verwundbarkeiten geschaffen. Ein Rückzug aus der Cloud ist weder praktikabel noch wünschenswert, da ihre Möglichkeiten inzwischen ein zentraler Bestandteil wettbewerbsfähiger Fertigung sind. Doch die aktuelle Architektur, in der sich Rechenlasten auf wenige Anbieter und bestimmte Regionen konzentrieren, bildet ein instabiles Gleichgewicht.

Der Cybersicherheitsexperte David Kennedy, Gründer von TrustedSec, brachte es nach dem jüngsten Ausfall auf den Punkt: „Das zeigt, wie fragil unsere Infrastruktur ist.“ Wenn etwas scheinbar so Kleines und Lokales derart weitreichende globale Auswirkungen haben kann, sei das ein Hinweis auf fehlende Systemredundanz. „Wenn ein Rechenzentrum ausfällt, zieht es eine Kaskade nach sich“, so Kennedy.

Mehrere Branchenvertreter suchen inzwischen nach Alternativen. Multi-Cloud-Strategien, bei denen Workloads auf AWS, Microsoft Azure und Google Cloud verteilt werden, schaffen zwar Diversifizierung, erhöhen aber auch die Komplexität erheblich. Hybride Ansätze, bei denen kritische Produktionssysteme lokal betrieben und Cloud-Ressourcen vor allem für Analyse und Entwicklung genutzt werden, erhöhen die Resilienz – gehen aber zulasten der Effizienz, die in der aktuellen Wettbewerbssituation kaum verzichtbar ist.

Die europäische Initiative für digitale Souveränität und Datenlokalisierung könnte die Entwicklung regionaler Cloud-Alternativen beschleunigen. BMW etwa arbeitet mit mehreren Cloud-Anbietern zusammen, behält AWS jedoch als Hauptplattform bei – eine klassische Absicherungsstrategie. Volkswagens Industrial Cloud wurde explizit als Industrieplattform konzipiert, die künftig mit verschiedenen Hypervisoren kompatibel sein soll, um die digitale Transformation flexibel weiterentwickeln zu können.

Die Kosten mangelnder Vorbereitung

Sam Harris, Vice President der internationalen Beratung Proxima, wies darauf hin, dass sich Lieferkettenrisiken längst nicht mehr nur auf physische Güter beschränken, sondern auch die digitale Infrastruktur betreffen. Echte Redundanz aufzubauen sei teuer, aber unverzichtbar – vor allem in Branchen, in denen selbst kurze Ausfallzeiten nicht akzeptabel sind. Mit dem wachsenden Bedarf an KI- und Cloud-Diensten könnten Vorfälle wie der im Oktober künftig häufiger auftreten.

Die Automobilindustrie hat bereits erfahren, wie Cybervorfälle Produktionsprozesse lahmlegen können. Der Ransomware-Angriff HELLCAT auf Jaguar Land Rover im Jahr 2025 führte zur Stilllegung mehrerer Produktionslinien und zu Entlassungen bei Zulieferern. Der wirtschaftliche Schaden wird auf 1,7 bis 2,4 Milliarden US-Dollar geschätzt und legte Schwachstellen in veralteten Zugangssystemen offen. 

Der Unterschied zwischen einem Cyberangriff und einem Cloud-Ausfall liegt in der Zielsetzung: Angriffe richten sich gezielt gegen einzelne Organisationen, während Infrastrukturausfälle (in der Regel unbeabsichtigt) ganze Ökosysteme gleichzeitig treffen. Entsprechend unterschiedlich sind auch die Gegenmaßnahmen. Sicherheitsinvestitionen schützen vor Angriffen, während Infrastrukturresilienz auf grundlegend andere architektonische Entscheidungen angewiesen ist – Entscheidungen, die vor und nicht nach einem Vorfall getroffen werden müssen.

Die existenzielle Frage der vernetzten Fertigung

Der AWS-Ausfall im Oktober 2025 dauerte 15 Stunden. Zwar kehrten alle Dienste anschließend in den Normalbetrieb zurück, doch wird das Ereignis wohl nur als Randnotiz in die Technologiegeschichte eingehen. Für die Automobilfertigung jedoch sollte es ein Weckruf sein: Die Branche hat ihr digitales Fundament auf bemerkenswert konzentrierte Strukturen gebaut. Mercedes-Benz-CIO Katrin Lehmann betont, dass künstliche Intelligenz längst kein Trend mehr, sondern fester Bestandteil der Produktionslinien sei. Christian Vollmer, Produktions- und Logistikvorstand bei Volkswagen, beschreibt leistungsstarke Fahrzeugproduktion als entscheidenden Erfolgsfaktor, der durch eine engere Verzahnung von Entwicklung und Fertigung auf Basis gemeinsamer, KI-fähiger Datenstrukturen erreicht werde. Und BMWs Migration von Daten aus über 100 Ländern zu AWS ist ein klares Bekenntnis zu cloudgetriebener Innovation.

Diese Strategien sind nicht falsch – im Gegenteil: Sie sind notwendig, um im modernen Automobilbau wettbewerbsfähig zu bleiben. Doch sie sind unvollständig. Die entscheidende Frage für die Industrie lautet nicht mehr, ob sie Cloud-Infrastrukturen und KI-basierte Produktionssysteme nutzen sollte, sondern wie sie das tun kann, ohne ihre operative Unabhängigkeit zu verlieren.

Die Antwort darauf wird zwangsläufig unangenehme Kompromisse verlangen – zwischen Effizienz und Resilienz, zwischen Kostenoptimierung und Redundanz, zwischen den Vorteilen integrierter Plattformen und den Risiken wachsender Abhängigkeit. Je stärker Fabriken mit der Cloud vernetzt sind, desto folgenreicher werden diese Abwägungen.

Für den Moment kann sich die Automobilindustrie damit trösten, dass der Ausfall im Oktober während außerhalb der Spitzenzeiten auftrat und dass eingebaute Redundanzen größere Produktionsstillstände verhinderten. Doch Trost ist nicht gleich Vorbereitung. Der nächste Infrastrukturausfall könnte zur Hauptproduktionszeit eintreten, länger andauern oder Systeme treffen, die über weniger Redundanz verfügen.

Wenn es so weit ist, wird sich zeigen, ob die digitale Transformation tatsächlich Resilienz geschaffen – oder lediglich neue Verwundbarkeiten erzeugt hat. Die Erfahrungen aus dem Oktober deuten leider auf Letzteres hin.

Dieser Artikel erschien zuerst bei unserem Schwestermagazin AMS.