Megacasting und Umbaumaßnahmen

So bereitet sich Volvos Stammwerk auf den EX60 vor

Die neue Megacasting-Halle soll Volvos Produktion deutlich effizienter machen.

Im Stammwerk Torslanda schlägt Volvo ein neues Kapitel auf: Während die Produktion im laufenden Betrieb modernisiert wird, entsteht mit dem EX60 das Schlüsselmodell der elektrischen Zukunft. Megacasting, Lean und Teamgeist prägen den Wandel in Schweden.

Schon die Ankunft in Göteborg macht deutlich, welchen Stellenwert Volvo in seiner Heimat hat: Am Flughafen begegnet man der Marke überall – ausgestellte Modelle zwischen den Gepäckbändern, Werbefilme auf gigantischen Bildschirmen, die die neuesten Elektromodelle EX- und ES90 feiern. Doch den größten Wurf planen die Schweden erst für das kommende Jahr: Mit dem EX60, dem elektrischen Pendant zu seinem wichtigsten Verbrenner-Modell, will Volvo ein neues Kapitel aufschlagen. Gefertigt wird er dort, wo die industrielle Geschichte des Unternehmens seit sechs Jahrzehnten geschrieben wird – im Stammwerk Torslanda, wenige Minuten vom Stadtzentrum entfernt.

Wer die Tore des Werks betritt, spürt sofort, dass hier ein anderer Spirit herrscht als in vielen westeuropäischen Fabriken. Auf dem Weg in einen großen Besprechungsraum mitten in der Montagehalle begegnet man ein paar Dutzend Mitarbeitern, die gerade einer Weiterbildungsmaßnahme lauschen . Zwischen den Linien begegnen sich die Werkerinnen und Werker mit einem freundlichen „Hej“ – ein Gruß, der den harten Arbeitsalltag mit einer typisch schwedischen Leichtigkeit durchzieht. Offenheit und gegenseitiger Respekt sind Teil der Kultur, genauso wie Präzision und Disziplin.

Phil Drew erklärt die Abläufe beim Megacasting.

 Torslanda ist das Herzstück der schwedischen Produktion, Symbol und Rückgrat zugleich. Seit 1964 wurden hier mehr als 9,5 Millionen Fahrzeuge gefertigt. 2024 feierte das Werk sein 60-jähriges Bestehen und ist zeitgleich im Begriff, sich neu zu erfinden. Mit einer Jahresleistung von rund 280.000 Einheiten trägt Torslanda etwa 40 Prozent zur Gesamtproduktion bei. 6.000 Mitarbeitende in der Fertigung und 340 Angestellte in den Büros halten den Betrieb rund um die Uhr am Laufen.

Traditionell laufen hier die großen Modelle vom Band: der XC90, der Bestseller XC60, der V60 und bis vor Kurzem die Kombiversionen V90 und V90 Cross Country. Doch ihr Platz wird nun frei für den EX60. Ein Modell, das nicht nur eine neue Plattform, sondern auch eine neue Denkweise in die Produktion bringt.

Umbau im laufenden Betrieb

Das Werk gleicht einer gewaltigen Maschine, die sich selbst neu zusammensetzt. Während an einer Linie Fahrzeuge montiert werden, werden wenige Meter weiter neue Segmente installiert. Fast 90 Prozent der Endmontage sind im laufenden Betrieb neu aufgebaut worden. Die Architektur ist darauf ausgelegt, Probleme sofort sichtbar zu machen: offene Wände, standardisierte Segmente, Sichtsteuerung im Sekundentakt.

Supervisors überwachen den Produktionsfluss in Echtzeit. Pufferzonen und digitale Dashboards visualisieren jede Abweichung. Der Umbau folgt dem klaren Ziel, Prozesse zu verdichten, Baugruppen ins Werk zu holen und Ein-Stück-Flüsse zu ermöglichen. Vom Stoßfängermodul über Tunnelbaugruppen bis zum Dachhimmel wird heute vieles gefertigt, was früher zugeliefert wurde.

„Die Fertigung steht jetzt im Vordergrund“, sagt Werkleiter Magnus Olsson. Was früher als klassisches „Engineering übergibt an Produktion“ galt, sei passé. Heute finde die Abstimmung in einem gemeinsamen Obeya-Prozess statt. Wöchentlich treffen sich rund 40 Verantwortliche aus Beschaffung, Supply Chain, Engineering und Fertigung, um den Fortschritt des EX60 zu koordinieren. „Wir treiben das Produkt aktiv voran, verbessern es gemeinsam mit den Ingenieurabteilungen“, sagt Olsson.

Das Prinzip der ständigen Verbesserung

In Torslanda ist die Fabrik kein Ort starrer Prozesse, sondern eine lernende Organisation. Jede Veränderung, so scheint es, ist nur der Auftakt zur nächsten. Olsson beschreibt den Umbau als eine Reise ohne Stillstand: „Jedes Mal, wenn ich in die Werkstatt komme, gibt es etwas Neues. Wir werden weiterhin an Verbesserungen arbeiten. Es hört nie auf. “

Für die Megacasting-Anlagen bedarf es Schraubenschlüssel im XXL-Format.

Die Philosophie des Werkleiters ist so einfach wie konsequent: „Wenn ich 6.000 Menschen zum Sensorsystem dieses Werks machen kann, schlage ich jedes KI-System.“ Deshalb investiert Torslanda nicht nur in Maschinen, sondern in Köpfe. Mitarbeitende durchlaufen zweiwöchige Lean-Trainings, lernen, Standards zu entwickeln und Verbesserungen eigenständig vorzustellen. Freitags präsentieren sie ihre Ergebnisse direkt dem Management.

Diese Form der Beteiligung verändert das Werk sichtbar. Die Stichworte lauten standardisierte Arbeit, geöffnete Strukturen und klare Verantwortlichkeiten. Jeder Fehler soll zum Lernmoment werden. „Alle Problemlösungen müssen vier Dinge enthalten“, erklärt Olsson. „Hintergrund, Problemdefinition, Ursachenanalyse und konkrete Maßnahme. Und wir trainieren, wiederholen und wiederholen.“

Megacasting – der große Wurf

In einer separaten Halle arbeitet die neueste und eindrucksvollste Maschine des gesamten Standorts: eine 8.400-Tonnen-Druckgussanlage, die das Rückgrat des neuen EX60 formt. Hier entsteht der hintere Unterboden des Fahrzeugs in einem einzigen Guss. Ein Prozess, der rund hundert Blechteile ersetzt und damit den Karosseriebau grundlegend verändert.

Phil Drew, ein erfahrener Gießereiexperte mit mehreren Jahrzehnten Berufserfahrung, erklärt, was diese Technologie so besonders macht: „Wir sind von unzähligen Einzelteilen auf ein einziges Bauteil umgestiegen – eine riesige, gegossene Bodenstruktur.“ Früher waren für diese Baugruppe mehrere Pressvorgänge und Werkzeuge nötig, heute geschieht alles in einem Schritt mit einer Zykluszeit von gerade einmal 120 Sekunden. „Wir stellen ein Teil in zwei Minuten her. Sehr, sehr schnell“, sagt Drew und lächelt dabei fast ungläubig.

Der Prozess beginnt mit Aluminium in Barrenform, das im Gasofen geschmolzen wird. Dabei bildet sich eine dünne Oxidschicht, die Drew bildhaft als „Bananenschalen“ beschreibt – sie wird entfernt, bevor das Metall in einem Dosierofen exakt abgemessen und anschließend in die riesige Gießform injiziert wird. Diese Form selbst wiegt rund 130 Tonnen und ist modular aufgebaut. „Ein großer Vorteil ist, dass die Form aus Einsätzen besteht – wie ein Puzzle“, erklärt Peter Schüler, der die Produktion der neuen Anlage verantwortet. „Das ermöglicht uns, Änderungen im Design viel schneller umzusetzen.“

Nach dem Gießen kühlt das Teil in einem Wasserbad ab, anschließend werden Angüsse und Überlaufbereiche in einer Trimmpresse entfernt. Die Aluminiumreste fließen direkt zurück in den Kreislauf. Präzision ist dabei elementar. Jeder Schritt ist standardisiert, um den sicheren und planbaren Betrieb der Anlage zu gewährleisten. „Das Ziel ist, eine geplante und vorhersehbare Produktion zu erreichen“, sagt Schüler. „Die Standardisierung ist genauso wichtig wie die Maschine selbst.“

In der Halle arbeiten derzeit rund 60 bis 80 Personen, perspektivisch soll der Betrieb auf vier Schichten ausgeweitet werden. Für viele ist das ein völlig neues Feld. Produktionsveteran Drew sieht darin eine Chance: „Ich teile mein Wissen mit den neuen Kolleginnen und Kollegen, damit sie verstehen, wie Gießprozesse funktionieren.“ In Schulungen wird das komplexe Zusammenspiel von Temperatur, Material und Zeit auf greifbare Weise vermittelt – manchmal mit einfachen Vergleichen, „wie beim Backen eines Kuchens“.

Die Anlage ist die erste ihrer Art im weltweiten Produktionsnetzwerk von Volvo und gilt als Vorbereitung auf die nächste Fahrzeuggeneration. Aktuell konzentriert sich das Team auf den EX60, doch die modulare Konstruktion erlaubt es, künftig auch andere Strukturteile wie Batteriegehäuse oder Querträger zu fertigen. „Aus ingenieurtechnischer Sicht ist das brillant“, sagt Schüler. „Man gibt eine neue Zeichnung frei, fertigt das Teil und kann es direkt in die Produktion bringen.“

Die Mitarbeiter tragen orangene T-Shirts.

Doch auch mit aller Technik bleibt der Prozess anspruchsvoll. Drew fasst es trocken zusammen: „Wenn es einfach wäre, würden es alle machen.“ Die 8.400-Tonnen-Maschine wird aktuell für die Einführung des neuen EX60 vorbereitet. Größere Bauteile sind möglich, aber jedes Prozent mehr Präzision bedeutet Wochen an Abstimmung zwischen Gießerei, Werkzeugbau und Fertigung.

Megacasting ist nicht nur Technologie-, sondern Organisationsprojekt. Torslanda baut dafür Kompetenzen systematisch auf. Mitarbeitende wurden zur Werkzeugmontage nach Italien entsandt, mit einem lokalen Partner trainierten Teams den Umgang mit flüssigem Aluminium. In der Formenwartung standardisieren Kran- und Wendeprozesse das sichere Handling der tonnenschweren Werkzeuge. Jede Maschine hat drei Formen im Umlauf – eine in Produktion, eine als Ersatz, eine in Wartung. So bleibt der Betrieb planbar.

„Es ist eine riesige Ehre, das Werk zu sein, das diese Schritte unternehmen darf“, sagt Werkleiter Olsson. Er weiß, dass der technologische Vorsprung allein reicht nicht. Erst die Fähigkeit, Wissen zu verankern, mache den Standort zukunftsfähig.

Das ultimative Ziel: Ein einziger Guss

Zurück in der Montagehalle: Wo früher Motor und Karosserie aufeinandertrafen, verschmelzen heute Batterie und Struktur zu einem neuen Unterbau. Der Moment der sogenannten zweiten Hochzeit ist das neue Herzstück der Produktion. „Die Herausforderung ist, dass wir keinen Boden in der Mitte haben. Wir müssen sehr vorsichtig mit der Geometrie sein“, erklärt Olsson. Denn die Batterie übernimmt tragende Funktionen, ist integraler Teil der Crashstruktur. Damit verschiebt sich der Schwerpunkt des gesamten Produktionssystems. Die Fertigung wird zum zentralen Ort der Entwicklung , wo Bauteile, Prozesse und Software ineinandergreifen.

Pro Woche werden rund 6.000 Fahrzeuge in Torslanda gebaut.

Besonderen Stellenwert legt der Chef auf die Kultur in seinem Werk. Im Gegensatz zu vielen hochautomatisierten Fabriken sei Torslanda kein Ort, an dem Menschen nur überwachen. Sie gestalten mit. Jeden Morgen versammeln sich Teams an den Linien, um Abweichungen zu besprechen. Probleme werden dort gelöst, wo sie entstehen. Das fast niedliche „Hej“, so scheint es, ist mehr als Höflichkeit. Es ist Teil eines Systems, das auf Kommunikation setzt.

Am 21. Januar feiert der neue EX60 Weltpremiere. Es ist das erste Fahrzeug, dessen tragende Struktur zum Teil aus der neuen Megacasting-Anlage stammt. Für Peter Schüler ist klar, dass die Verantwortung groß ist: „Natürlich gibt es Druck auf dem Shopfloor, wir sind direkt mit dem Cashflow des Unternehmens verbunden.“ Doch seine Zuversicht ist spürbar: „Wir werden das schaffen. Wir haben die richtige Strategie und ein starkes Team.“

Langfristig blickt die Branche noch weiter. Drew verweist auf die Vision, die das Megacasting weltweit antreibt: „Das ultimative Ziel ist, ein komplettes Auto in einem einzigen Guss herzustellen.“ Noch ist das Zukunftsmusik, aber die Richtung ist klar.

Für Volvo ist Torslanda damit mehr als ein traditionsreicher Standort. Es ist ein Lernfeld, in dem sich Technologie, Organisation und Kultur gegenseitig formen. Der Weg dorthin verlangt Disziplin, Geduld und die Bereitschaft, Neues zuzulassen. Phil Drew bringt es am Ende seines Rundgangs durch die Megacasting-Halle auf den Punkt: „Das hier ist nicht nur eine Maschine. Es ist der Beginn einer neuen Art, Autos zu bauen.“